Systemische Traumatherapie

Transkript

1 Reinert Hanswille/ Annette Kissenbeck Systemische Traumatherapie Konzepte und Methoden für die Praxis Mit einem Geleitwort von Ellert Nijenhuis und einem Vorwort von Gunther Schmidt

2 Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags: Prof. Dr. Rolf Arnold Prof. Dr. Dirk Baecker Prof. Dr. Ulrich Clement Prof. Dr. Jörg Fengler Dr. Barbara Heitger Prof. Dr. Johannes Herwig-Lempp Prof. Dr. Bruno Hildenbrand Prof. Dr. Karl L. Holtz Prof. Dr. Heiko Kleve Dr. Roswita Königswieser Prof. Dr. Jürgen Kriz Prof. Dr. Friedebert Kröger Dr. Tom Levold Dr. Kurt Ludewig Prof. Dr. Siegfried Mrochen Dr. Burkhard Peter Prof. Dr. Bernhard Pörksen Prof. Dr. Kersten Reich Prof. Dr. Wolf Ritscher Dr. Wilhelm Rotthaus Prof. Dr. Arist von Schlippe Dr. Gunther Schmidt Prof. Dr. Siegfried J. Schmidt Jakob R. Schneider Prof. Dr. Jochen Schweitzer Prof. Dr. Fritz B. Simon Dr. Therese Steiner Prof. Dr. Helm Stierlin Karsten Trebesch Bernhard Trenkle Prof. Dr. Sigrid Tschöpe-Scheffler Prof. Dr. Reinhard Voß Dr. Gunthard Weber Prof. Dr. Rudolf Wimmer Prof. Dr. Michael Wirsching Über alle Rechte der deutschen Ausgabe verfügt Carl-Auer-Systeme Verlag und Verlagsbuchhandlung GmbH Heidelberg Fotomechanische Wiedergabe nur mit Genehmigung des Verlages Satz u. Grafik: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten Umschlaggestaltung: Goebel/Riemer Printed in the Netherlands Druck und Bindung: Koninklijke Wöhrmann, Zutphen Erste Auflage 2008 ISBN Carl-Auer-Systeme, Heidelberg Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Informationen zu unserem gesamten Programm, unseren Autoren und zum Verlag finden Sie unter: Wenn Sie unseren Newsletter zu aktuellen Neuerscheinungen und anderen Neuigkeiten abonnieren möchten, schicken Sie einfach eine leere an: Carl-Auer Verlag Häusserstraße Heidelberg Tel Fax info@carl-auer.de 4

3 4. Methodische Ideen für eine systemische Traumatherapie Ressourcensysteme stellen oder als Ressourcengenogramm malen: Welche Ressourcen haben Sie von wem, welche Ressourcen hat wer in der Familie, die Sie gerne hätten? Eine ressourcenorientierte Wohnungsrenovierung durchführen: Dazu werden in jedem Raum der Wohnung ein bis drei metaphorische Gegenstände gesucht, wie zum Beispiel Bilder, Haushaltsgegenstände, Möbel etc., die dann mit bestimmten Ressourcen des Klienten verknüpft werden. Einen Ressourcenbaum pflanzen und ihn pflegen und hegen, um ihn durch die Jahreszeiten und über die Jahre wachsen zu sehen. Weitere Ressourcenübungen, die den Körper mit einbeziehen, finden sich im folgenden Abschnitt. 4.7 Körperarbeit Wir haben bereits in Abschnitt 3.7 die hohe Relevanz von Körper und Bewegung für die Traumatherapie beschrieben. Viele Klienten, die unter Traumafolgestörungen leiden, sind im Trauma auch physisch eingefroren und steckengeblieben. Sie führen danach ein eingeschränktes Leben, sind körperlich oft weniger empfindsam und wirken wie festgefahren. Therapeutisch ist es deshalb wichtig, die Klienten darin zu unterstützen, wieder Spaß an der Bewegung zu finden, den Körper zu spüren, mit Bewegung gute Gefühle zu verknüpfen, sich durch Bewegung in bessere Stimmungen zu bringen, um das Selbstwirksamkeitsgefühl zu fördern usw. Sie spüren so, dass sie nicht mehr oder zumindest nicht mehr immer ihren schlechten Stimmungen und Gefühlen ausgeliefert sind und eingefroren bleiben, sondern selbst etwas verändern können. 52 Worauf ist zu achten, wenn wir Körper und Bewegung einbeziehen? Bewegungsarbeit und Körperarbeit ist kein Sport, es geht nicht um schneller und besser, sondern um Wahrnehmung, Nachspüren, Sichwohlfühlen. Bewegungen sollten»guttun«und nicht den Körper strapazieren oder gar Schmerzen erzeugen. 52 Wir möchten hier zur Vertiefung von körperorientierten Verfahren in der Traumatherapie verweisen auf Rothschild (2002); Levine (1998, 2007); Levine u. Kline (2004). 175

4 Teil I: Systemische Traumatherapie Theoretische Grundlagen und Methoden Es geht darum, das Gefühl von körperlicher Kontrolle zu gewinnen und physische Grenzen, die Regulierung physischen Arousals (van der Kolk 2007, S. 232), das körperliche Selbstwirksamkeitsgefühl zu erfahren und die physische Leistungsfähigkeit zu spüren, sich als funktionierende physische Einheit zu erleben. Es sollten bei der Körperarbeit immer wieder das Tempo gewechselt werden, die Intensität variieren, die Deutlichkeit der Bewegungen unterscheidbar sein und genügend Zeit gegeben werden, die Bewegung emotional zu spüren, wahrzunehmen und die innere Resonanz zu erhöhen. Körperarbeit lebt wie andere Fertigkeiten, die neu erlernt werden von der Übung. Deshalb sollte sie von den Klienten zu Hause geübt und angepasst werden. Laden Sie die Klienten ein, die Übungen mehrmals, am besten jeden Tag zu wiederholen. Der Therapeut sollte selbst Spaß an der Bewegung haben. Er sollte alle Bewegungen etc. mitmachen und nachvollziehen. Dadurch wird die Arbeit leichter, durch das Spiegeln kann der Therapeut selber spüren, wie sich eine Bewegung anfühlt, und die Beziehung wird gestärkt. In einzelnen Beschreibungen von Methoden und Techniken haben wir bereits gezeigt, wie der Körper und die Bewegung mit eingebunden werden können (Skulpturen, Skalierungen, Ressourcenübungen, Wunderfrage, Memory Lane, Externalisierungen, RT, Bildschirmtechnik etc.). Wir wollen hier auch auf die unterschiedlichsten Körper- und Bewegungstherapien und Techniken hinweisen wie Yoga, Qigong, Tai-Chi etc. Sie alle ermöglichen es,»emotionale und physiologische Zustände zu regulieren«(ebd., S. 220). Außerdem sei auf die Anregungen aus der Achtsamkeitsbewegung hingewiesen. 53 Nicht immer ist Körperarbeit mit traumatisierten Menschen angezeigt. Manchmal ist durch das Trauma die körperliche Integrität so stark beschädigt, dass alle Versuche, Körperempfindungen zu verstärken oder bewusster wahrzunehmen, eine Retraumatisierung bewirken (Rothschild 2002, S. 155 f.). Wenn durch die Übungen das Gefühl von 53 Verwiesen sei hier auf Linehan (1996); Heidenreich u. Michalak (2004); Anderssen- Reuster (2007); Burkhard (2006). 176

5 4. Methodische Ideen für eine systemische Traumatherapie Stabilität und Sicherheit verlorengeht oder wenn die Klienten den Eindruck einer Grenzverletzung durch die Körperübungen erhalten, ist Körperarbeit nicht zu empfehlen. Außerdem sei darauf hingewiesen, dass auch innere Zustände, die während der traumatischen Situation bestanden, Flash-backs auslösen können. Bestand z. B. eine beschleunigte Herzfrequenz, so kann diese mit der einhergehenden beschleunigten Atmung ein Trigger sein. Das ist für manche Traumapatienten ein Grund dafür, warum sie Schwierigkeiten mit sportlicher Aktivität haben. Bei diesen Patienten sind dann Körperübungen angebracht, die nur geringe physische Belastungen mit sich bringen (ebd., S. 75 f.).»ein Flash-back kann durch exterozeptive oder durch interozeptive Systeme bzw. auch durch beide ausgelöst werden. Etwas, das die Betroffenen gesehen, gehört, geschmeckt oder gerochen haben, aktiviert die Erinnerung und löst den Flash-back aus. Ebenso kann dies eine Empfindung aus dem Körperinneren bewirken. Sensorische Botschaften von Muskeln und Bindegewebe, die die Erinnerung an eine bestimmte Haltung, Aktivität oder Absicht beinhalten, können als Trigger fungieren«(ebd., S. 75). Diese Hinweise sollen aber nicht dazu führen, auf körperlichen Aspekte in der Therapie zu verzichten. Sie sollen vielmehr dabei unterstützen, behutsam mit den Patienten nach Wegen zu suchen, den Körper wieder als einen positiven Teil des Selbst zu erfahren. Es folgen beispielhaft einige Übungen, wie dem Körper mehr Beachtung in der Therapie gegeben werden kann. Die Übungen haben unterschiedliche Väter und Mütter, deshalb kann zum Teil auch keine Quelle angegeben werden. Übungen Ressourcenbriefkästen Der Klient wird gebeten, fünf bis neun Ressourcen zu sammeln und aufzuschreiben, auf die er stolz ist oder die er gerne hätte. Dann werden die Briefkästen für die Ressourcen am Körper angelegt. Die Übung erfolgt am besten im Stehen. Die Briefkästen könnten z. B. sein: die Füße, die Waden, die Oberschenkel, das Gesäß, der Bauch, das Herz, die Arme, die Schultern und der Kopf. Dann werden die Ressourcen den Briefkästen zugeordnet. Dazu werden beide Hände an die Füße gelegt, und die entsprechende Ressource wird dort abgelegt. Dann werden beide Waden umfasst und die 177

6 Teil I: Systemische Traumatherapie Theoretische Grundlagen und Methoden 178 Ressource abgelegt etc. Es empfiehlt sich immer, beide Hände an die jeweilige Stelle zu legen. Wenn alle Briefkästen belegt sind, werden sie mehrmals mit den Ressourcen durchgegangen, benannt und dabei angefasst, und das mit unterschiedlichem Tempo und in unterschiedlicher Reihenfolge. Dadurch werden Inhalt und Berührung miteinander verknüpft. Im Laufe der Zeit können in den Briefkästen Erinnerungen und Erfahrungen mit der jeweiligen Ressource verknüpft und gespeichert werden. So entsteht eine enge Verknüpfung zwischen Körper, Ressourcen und positiven Erfahrungen. Die Technik hat sich sowohl in der Einzelarbeit, in der Paartherapie wie auch in der Familientherapie bewährt. Mit der Zeit verselbständigt sich diese Technik. So erzählte eine Mutter:»Immer wenn ich dachte, dass Paul [ihr siebenjähriger Sohn] sich jetzt an eine bestimmte Ressource erinnern sollte, weil es ihm helfen würde, eine bestimmte Situation zu meistern, machte ich nur die Bewegung. Er machte sie nach, und wir beide mussten dann lachen, weil er so schnell verstanden und sich erinnert hatte. Die Berührung der Briefkästen ist in unserer Familie fast so etwas wie ein Geheimcode geworden.«ressourcengymnastik Auch bei dieser Technik sammelt der Klient zuerst einige Ressourcen, die er vielleicht dafür benötigt, eine schwierige Situation bewältigen zu können. Die Ressourcen werden aufgeschrieben. Bewährt hat es sich, zwischen fünf bis acht Ressourcen auszuwählen. Dann wird zu jeder Ressource eine Bewegung gesucht und mehrfach ausgeführt. Dabei bietet es sich an, das Tempo zu wechseln. Bei jeder Bewegung wird der Klient eingeladen zu spüren, welches Körperempfinden mit der Bewegung verbunden ist und welche Gefühle er wahrnehmen kann. So werden alle Ressourcen mit Bewegungen verknüpft. Wenn dann alle Bewegungen und alle Ressourcen eingeübt sind, wird eine»ressourcenchoreografie«einstudiert. Dazu werden alle Bewegungen nacheinander gemacht, mit unterschiedlichem Tempo und unterschiedlicher Intensität. Wenn schöne Musik im Hintergrund läuft, kann die Ressourcenchoreografie auch im Takt und Rhythmus der Musik abgebildet werden. Die Musik ermöglicht es den Klienten, wenn sie die Bewegung machen, sofort auch an die Ressource zu denken. Ähnlich wie eine Affektbrücke entsteht so eine Bewegungsbrücke zu einem guten Gefühl und einer Ressource. Die Übung bringt viel Freude, wenn sie nicht allein gemacht wird, sondern mit dem Partner oder der Familie durchgeführt wird. Dann werden von allen Familienmitgliedern die Ressourcenchoreografien gespielt. Das bringt gute Stimmung und fördert das Gefühl der Zusammengehörigkeit.