Wahrzeichen unter der Lupe

Transkript

1 Industriekletterer Markus Hostettler fotografiert eine Stelle, die später vom Brückeningenieur untersucht werden soll. Untersuchung Kirchenfeldbrücke Wahrzeichen unter der Lupe Von der Berner Altstadt führt seit 1883 eine Eisenbrücke ins Quartier Kirchenfeld. Im Zuge neuer SIA-Normen und einem geplanten Ausbau musste die gesamte Konstruktion und jede einzelne Niete auf ihren Zustand überprüft werden. Ein Job für die schwindelfreien Industriekletterer des Tiefbauamtes. Von Ben Kron 12 baublatt Nr. 40, Freitag, 7. Oktober 2011

2 Ein Wahrzeichen der Stadt Bern: die bald 130 Jahre alte Kirchenfeldbrücke. Blick in die Brückenkonstruktion; im Hintergrund ist die Münsterplattform zu sehen. Bilder: Ben Kron Zahlreiche Menschen haben die Kir chenfeldbrücke, eins der bekanntesten Wahrzeichen Berns, schon einmal überquert, sei es zu Fuss, mit dem eigenen Fahrzeug oder einem Tram. Viele von ihnen kamen mit einem Klumpen im Bauch am anderen Ende an, nach der Überquerung des vibrierenden und schwingenden Bauwerkes. Friedrich Dürrenmatt hat diese Mischung aus Faszination und Grusel in seinem Prosastück «Die Brücke» beschrieben. So kräftig das Trottoir und die Knie bei einem Gang über die Kirchenfeldbrücke zittern: Noch stärker sind die Vibrationen auf dem schmalen Gittersteg gleich unterhalb der Fahrbahn. Dieser dient zu Unterhaltszwecken und bietet einen prächtigen Blick auf die komplexe Eisenkonstruktion und die gut 35 Meter weiter unten fliessende Aare. Hier ist eine Woche lang der Arbeitsplatz der vier Industriekletterer des Berner Tiefbauamtes. Die speziell für solche Einsätze ausgebildeten Männer untersuchen den Zustand der Brückenkonstruktion aus dem 19. Jahrhundert. Jeden Tag vor Arbeitsbeginn muss deshalb jeder Einzelne bestätigen, dass er sich absolut LINKTIPP Auf baublatt.ch/kirchenfeld finden Sie weitere Bilder unten einen Link zum TV- Beitrag von «Schweiz aktuell». Nr. 40, Freitag, 7. Oktober 2011 baublatt 13

3 Markus Hostettler befestigt seinen Klettergurt an zwei Seilen, bevor er in die Brücke steigt (links). Auch die Ausrüstung wird doppelt gesichert. Auf allen Vieren liegt Hostettler später auf dem Brückenbogen, dessen Inneres ebenfalls inspiziert werden muss (unten). Die um 1900 betonierten Pfeiler verstärken die Konstruktion, nehmen der Brücke aber viel von ihrer Eleganz. gesund und einsatzbereit fühlt. «Nur wer wirklich fit ist, darf hier klettern», bringt es Vor arbeiter Hans Brünisholz auf den Punkt (siehe «Nach gefragt», Seite rechts). «Die Männer haben den Auftrag, die gesamte Konstruktion der Brücke zu überprüfen, also die Pfeiler, die Eisenträger und alle im Voraus berechneten möglichen Schwachpunkte, aber auch sämtliche Nieten und Schraubenverbindungen», führt Stefan Bähler aus, der zuständige Projektleiter beim Tiefbauamt. «Die erste Kontrolle erfolgt optisch. Bei Verdachtsfällen machen die Kletterer Fotos, die der Brückeningenieur dann auswertet.» Dazu misst man mit Spezialgeräten die Dicke des Korrosionsschutzes und der Bewehrungen. «Die Nieten werden nicht abgeklopft, weil sie dabei Schaden nehmen könnten», ergänzt Ingenieur Richard Eyer der Firma Bächtold Moor AG. «Die Brückenpfeiler sind fast hundert Jahre alt und wir haben davon keine verlässlichen Pläne.» Richard Eyer, Ingenieur Bächtold Moor AG Eyer leitet den Einsatz vor Ort und nimmt eine erste Sichtung der Ergebnisse vor. «Wir achten auf Korrosionsspuren an den Nietköpfen, die uns Hinweise auf einen allfälligen Rostfrass darunter liefern.» Dazu richte man ein spezielles Augenmerk auf gewisse Details der Brücke: «Die Pfeiler sind zweiwandig ausgeführt und die Längsträger einwandig. Das ergibt eine Schnittstelle, die als Konstruktion nicht optimal funktioniert. Es kann zu Ermüdungsris sen kommen», erklärt IngenieurEyer, beeilt sich aber hinzuzufügen: «Diese Risse sind für die Statik des Bauwerkes überhaupt kein Problem, da die einwir- 14 baublatt Nr. 40, Freitag, 7. Oktober 2011

4 NACHGEFRAGT Wie sind Sie Industriekletterer geworden? Mein erlernter Beruf ist Zimmermann, dazu habe ich später als Dachdecker gearbeitet. Kommt dazu, dass ich in der Freizeit immer schon gerne z Berg gegangen bin. Deshalb bin ich mir die Höhen gewohnt und habe mich vor fünf Jahren zum Industriekletterer ausbilden lassen. Mussten sie sich bei dieser Kletterei nie überwinden? Ich erinnere mich an einen Einsatz bei der Münsterplattform. Dort mussten wir über den Eckturm hinaus klettern, wo es sehr tief runter geht. Da hats schon ein wenig gekitzelt, aber man gewöhnt sich an die Höhe. Ansonsten gilt: Du musst auf deinen Bauch hören und auch bereit sein zuzugeben, wenn es nicht geht. Alles andere wäre unverantwortlich. BEI HANS BRÜNISHOLZ Hans Brünisholz (50) ist Industriekletterer beim Berner Tiefbauamt und Sicherheitschef des Höhenarbeiterteams. Welche Sicherheitsvorkehrungen werden vor dem Klettern getroffen? Jeder von uns muss täglich vor Arbeitsbeginn versichern, dass er gesund ist, sonst darf er nicht klettern. Wenn wir erst einmal in der Brücke sind, arbeitet jeder selbstverantwortlich. Beim Klettern sind wir stets doppelt mit Seilen gesichert. Auch die Materialien und Prüfgeräte, die wir am Körper tragen, befestigen wir zweimal. Denn die Strasse unterhalb der Brücke ist nicht gesperrt. Es darf auf keinen Fall etwas runterfallen. Ist ihr Einsatz hier in der Kirchenfeldbrücke speziell oder alltäglich? Das ist schon eine spezielle Herausforderung für uns. Die Brücke bietet auch einen gewissen Kick für uns Vier. Diesen Job machen ja eh nur Leute, die auch Spass am Klettern haben und so einen Einsatz gerne durchführen. Mit dem Ferroscan misst Hans Brünisholz, wie tief im Beton die Armierung liegt und wie dick sie ist. Sie inspizieren drei Brücken nacheinander. Ist das noch Vergnügen oder schon Stress? Wir sind an den drei Brücken insgesamt zwei Wochen im Einsatz. Das ist noch okay. Aber diese Form der Kletterei ist schon sehr anstrengend. Wir sind alle froh, wenns dann wieder vorbei ist. (bk) kenden Kräfte auf genügend Alternativwegen abgeführt werden können.» Vor der Kirchenfeldbrücke haben die Berner Industriekletterer die Nydegg- und die Kornhausbrücke untersucht. Auslöser für diesen Einsatz gab es gleich drei. «Bei der Umstellung von einem zweidimensionalen Statik- und Überwachungsprogramm auf eine 3-D-Software haben wir gemerkt, dass sich an den erwähnten Punkten der Kirchenfeldbrücke Schwachstellen befinden könnten», berichtet Projektleiter Stefan Bähler. Dazu kommt die SIA- Norm, die eine Untersuchung alle fünf Jahre vorschreibt. Dritter Grund für die Inspektion ist der geplante Ausbau des Tramverkehrs über die Brücke. Insgesamt hängen die Kletterer um Vorarbeiter Hans Brünisholz rund zwei Wochen unter den drei genannten Berner Brücken. Sie untersuchen «Die Kirchenfeldbrücke ist in einem hervorragenden Zustand und ein Beispiel für höchste Baukunst.» Stefan Bähler, Projektleiter Tiefbauamt Stadt Bern dabei nicht nur die Eisenkonstruktion, sondern nehmen auch verschiedene Messungen durch. Unter anderem will man herausfinden, wie stark die Bewehrungen sind und wie tief sie im Beton der Pfeiler liegen. Eyer: «Die Pfeiler sind fast hundert Jahre alt und wir besitzen davon leider keine verlässlichen Pläne mehr.» Deshalb müssen sie mit einem Ferroscan untersucht werden (siehe Bild oben in «Nachgefragt»). Dieses Gerät besitzt zwei Rollen mit Magnetfeldern, die sich überschneiden. Fährt man damit die Oberfläche der Pfeiler ab, verändert die darunterliegende Bewehrung die beiden Felder. Bis in Nr. 40, Freitag, 7. Oktober 2011 baublatt 15

5 eine Tiefe von 180 Millimetern kann so vorhandenes Metall nachgewiesen werden. «Die Messergebnisse sind dabei nicht eindeutig, sondern hängen auch von der Dicke der Bewehrung ab. Wir haben aber die Pfeiler an einigen Stellen aufgespitzt und diese Dicke so nachgeprüft.» Deshalb kann man die Ergebnisse des Ferroscans interpretieren. Blick in gut 35 Meter Tiefe: Unterhalb der Brücke üben sich Schüler im Weitsprung. Resultate erst im November «Für jeden Tag der Untersuchungen wird ein Aufnahmeprotokoll erstellt», fügt Stefan Bähler hinzu. «Danach leiten wir je nach Ergebnissen die nächsten Schritte ein, mit einer entsprechenden Priorisierung.» Einzelne Massnahmen müsse man unter Umständen sofort ergreifen. «Wobei wir bisher keine Hinweise auf solche gröberen Probleme haben.» Im Moment ist man dabei, die Ergebnisse der Untersuchung auszuwerten und einen entsprechenden Bericht zu erstellen. Diese Aufgabe liegt beim Brückeningenieur. Bähler: «Jeder unserer Brücken ist ein spezifischer Ingenieur zugewiesen, der das Bauwerk sehr genau kennt und die Notwendigkeit von Massnahmen deshalb am besten beurteilen kann.» Da die Aufgabenstellung komplex ist, werden die Berichte zu den drei Brücken aber nicht vor November vorliegen. Die weiteren Schritte der Sanierung werden in den nächsten zwei bis fünf Jahren umgesetzt. Bähler ist aber optimistisch, dass die Eisenbrücke beim Casino ohne grosse Eingriffe auskommt, obwohl sie bald 130 Jahre auf dem Buckel beziehungsweise den Bögen hat. «Die Kirchenfeldbrücke ist in einem hervorragenden Zustand und ein Beispiel für höchste Baukunst.» HINTERGRUND Die Kirchenfeldbrücke wurde 1883 nach nur 21 Monaten Bauzeit errichtet. Die Eisenkonstruktion mit einer Bogenöffnung von 81 Metern ist 229 Meter lang, 13,2 Meter breit und 35 Meter hoch. Sie wurde von der Schweizer Firma Gottlied Ott & Co. entworfen und von der britischen Baufirma «Berne Land Company» gebaut. Die filigrane Brücke wurde schon im vorletzten Jahrhundert bewundert und gilt bis heute als eines der Hauptwerke der Eisenbaukunst in der Schweiz. Baulich erhielt sie 1913 eine erste Veränderung, als die drei Pfeiler einbetoniert wurden, um die Strassenbahn tragen zu können. Das ursprüngliche Bauwerk war nur für die Belastung durch Fuhrwerke konstruiert. Die Kirchenfeldbrücke im Originalzustand: eines der Hauptwerke der Eisenbaukunst in der Schweiz. Durch diesen Eingriff verlor die Brücke nach Ansicht von Kritikern einiges von ihrer filigranen Leichtigkeit ersetzte man zudem das Geländer aus Gusseisen durch eines aus Leichtmetall. (bk) Bild: zvg 16 baublatt Nr. 40, Freitag, 7. Oktober 2011