in der Kreuzkirche Reutlingen - Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer

Transkript

1 Gottesdienst über Psalm 98 und EG 287 mit Taufen, der Kantorei der Kreuzkirche und dem Chor der Gemeinde Heilig Geist und Verabschiedung von Herrn Hans Klenk als Organist am 9. Juli 2017 in der Kreuzkirche Reutlingen - Pfarrerin Astrid Gilch-Messerer Liebe Gemeinde, Könnt Ihr nicht einmal etwas Neues singen? Nicht nur immer die uralten Lieder aus dem Gesangbuch. Viele Menschen habe ich das schon sagen hören. Und ich habe es selbst auch schon gesagt: Singen wir mal etwas Neues in unseren Gottesdiensten. Damit sie vielleicht auch moderner werden und zeitgemäßer. Wissen Sie, was paradox ist? Diese Forderung, neu zu singen, ist schon uralt. Wir haben vorher den 98. Psalm miteinander gebetet. Er beginnt mit: Singet dem HERRN ein neues Lied! Der Psalm 98 ist weit über 2000 Jahre alt. Der Wunsch, neue Lieder zu singen, ist wohl so alt wie die Lieder selbst. Ich stelle mir vor, was Herr Klenk in seiner 61-jährigen Laufbahn als Organist alles erlebt hat. Im Jahr 1960, als Sie, lieber Herr Klenk, als Organist in der Kreuzkirche anfingen, war das alte Evangelische Kirchengesangbuch gerade mal 7 Jahre alt oder besser: 7 Jahre jung. Am 1. Advent 1996 wurde unser neues Evangelisches Gesangbuch in unserer Württembergischen Landeskirche eingeführt. Viele neue Lieder wurden damals ins Gesangbuch aufgenommen, und viele alte Lieder mussten demgemäß Platz machen und weichen. 1

2 Und vor etwas mehr als 3 Jahren ist das neue Gotteslob in unserer katholischen Schwesterkirche herausgekommen. Auch da sind viele neue Lieder aufgenommen worden, und alte wurden herausgenommen. Allerdings, es ist interessant, warum der Beter des 98. Psalms neue Lieder singen will. Der Wunsch, modern zu sein, bewegt den Verfasser des 98. Psalms anscheinend nicht. Neue Lieder müssen einfach entstehen, wenn und weil man Neues und Großes erlebt. So beginnt der 98. Psalm mit einem großen Ausrufezeichen: Singet dem Herrn ein neues Lied, denn er tut Wunder. Er schafft Heil mit seiner Rechten und mit seinem heiligen Arm. Der HERR lässt sein Heil kundwerden; Vor den Völkern macht er seine Gerechtigkeit offenbar. Der Chor singt uns diesen 98. Psalm nach der Melodie vor, wie er im Evangelischen Gesangbuch unter der Nummer 287 steht. Vielleicht mögen Sie das Lied gleich einmal aufschlagen: Nummer 287 Chor EG 287,1 Dieses neue geistliche Lied aus dem Evangelischen Gesangbuch stammt aus den 1960er Jahren, also aus der Zeit, als Herr Klenk bei uns als Organist anfing. Damals war das ein ganz modernes Lied. Die eben gehörte 1. Strophe wiederholt die alten Worte des 98. Psalms. Und sie wird damit diesem Paradox gerecht: Neu zu singen ist eine uralte Forderung. 2

3 Aber das macht diese uralte Forderung nicht abwegig, sondern dringlich: Es genügt nicht, das Alte nur einfach zu wiederholen. Den Glauben von heute in alten Traditionen zu stecken. Aber man muss auch nicht meinen, man müsse den Glauben und seine Lieder völlig neu erfinden. Paulus Stein, der Textdichter, und Rolf Schweizer, der Komponist des Gesangbuchliedes, haben beides miteinander verbunden: die alten Traditionen und das Zeitgemäße, Moderne. Die 1. Strophe erinnert daran: Auch noch so Neues steht auf den Schultern des Alten. Über die Jahrhunderte hinweg haben Menschen Halt und Trost gefunden bei Gott. Immer wieder, und immer wieder anders und neu. Mir fällt die Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten ein, die uns das älteste erhaltene Loblied der Bibel beschert hat. Es heißt: Singet dem HERRN, denn hoch erhaben ist er; Ross und Wagenlenker warf er ins Meer. (2. Mose 15,21) So haben die Israeliten, die entflohenen Sklaven, am Schilfmeer gesungen. Ihre Herren, die Ägypter, hatten bei der Verfolgung ihrer billigen Arbeitskräfte den Kürzeren gezogen. Es ist also ein Lied, das das unglaubliche Wunder einer geglückten Befreiung und Rettung besingt. Jeden Sonntag beten wir einen der 150 Psalmen aus dem Alten Testament im Gottesdienst. Wir kleiden unser Lob oder unsere Klage in Worte, die Jahre alt oder noch älter sind. Eigentlich sind es Lieder. 3

4 Der bekannteste ist der 23. Psalm: Der HERR ist mein Hirte. Ich vermute, Sie alle kennen ihn, und viele von Ihnen haben diesen Psalm irgendwann auswendig gelernt. Kinder mögen diesen Psalm vom guten Hirten, der sie beschützt, und er leuchtet ihnen mit seinen sprechenden Bildern unmittelbar ein. Wie oft habe ich aber auch den 23. Psalm an Sterbebetten gesprochen. Er tröstet und hält, auch wenn es Abschied zu nehmen gilt von diesem Leben hier. Ich denke z. B. auch an den Lobgesang der Maria, an das Magnifikat im Neuen Testament: Meine Seele erhebt den HERRN, und mein Geist freuet sich Gottes, meines Heilandes. Immer wieder faszinieren mich die Spirituals und Gospels der leidgeprüften Sklaven dunkler Hautfarbe in den USA, die sich mit ihren Liedern gegenseitig Kraft und Mut zu gesungen haben. Und immer wieder entstehen auch bei uns neue Lieder. Manche Lieder setzen sich durch - wie z. B. Ins Wasser fällt ein Stein, was wir vorher miteinander gesungen haben. Singen wir jetzt gemeinsam die 1. beiden Strophen vom Lied 287 im Gesangbuch. Gemeinde: EG 287,1 und 2 Die zweite Strophe macht deutlich: Gott ist nicht einfach und selbstverständlich da. Dieses Gefühl kennen wohl die meisten: Oft können wir Gott gar nicht spüren. Gott heute zu erfahren, das beginnt oft damit, dass wir ihn suchen, weil er verborgen scheint. 4

5 Wo ist Gott in meinem Leben? Führt er mich? Hat mein Leben einen Sinn? Und was ist, wenn es mir schlecht geht oder ich krank werde? Hört er mich? Beachtet er mich? Hilft er mir? Also singen wir von Gott, weil er uns fehlt. Du meinst, Gott sei sehr verborgen, sähe nicht, was dich bedrückt?, so nimmt das Lied diese Fragen auf. Aber dann lenkt das Lied den Blick auf das eigene Leben, auf das, was wir alles schon selbst erlebt haben. Sieh auf dein Leben!, so werden wir im Lied aufgefordert. Ja, eigentlich ist es naheliegend, nach Spuren Gottes auch im eigenen Leben zu suchen. Und diese Spuren Gottes darin zu finden, dass ich immer noch bin. Meine Jahre fliegen dahin. Ich kann die Zeit nicht festhalten. In vielem habe ich Schutz und Hilfe erfahren. Was weiß ich schon von den Gefahren, vor denen ich bewahrt worden bin? Ich bin Menschen begegnet, die mich begleitet haben. Menschen, die es gut mit mir meinen, und Menschen, die mich lieben. Ich finde die Spuren Gottes vielleicht auch darin, dass ich werden konnte, die ich bin: Er hat Dich bewahrt, heißt es im Lied weiter. Gott hat Dich so werden lassen, wie Du heute bist: Mit dieser Gestalt, die Dir eigen ist. Mit dieser Ausstrahlung, mit der Du auf andere Menschen einwirkst. Mit dem, was Du an Erfahrungen gewonnen hast, was Du gelernt hast und jetzt kannst. 5

6 Zweifellos, vieles in meinem Leben hätte auch anders ausgehen können. Aber ist das schon ein Wunder? Vielleicht nicht landläufigen Sinn. Aber wunderbar finde ich es schon. Und: Ist die Bewahrung und Fügung bis auf den heutigen Tag nicht ein Grund, dieses Wunder in Worte zu fassen? Wer singt, betet zweimal, sagt das Sprichwort. Ich denke, diese Erfahrung kennen wir alle: dass wir vor lauter Dankbarkeit und Freude nicht nur wie ein Wasserfall reden, sondern auch anfangen zu singen. Auch davon weiß das Sprichwort: Wes das Herz voll ist, dem geht der Mund über. Ich bin gespannt, ob Sie es wissen, welches das weltweit bekannteste Kirchenlied ist. Haben Sie eine Ahnung, welches das bekannteste Kirchenlied ist? (Nun danket alle Gott EG Treffer bei google) (Großer Gott, wir loben dich - EG Treffer bei google) Nun danket alle Gott wird nur übertroffen von Stille Nacht, heilige Nacht (Stille Nacht, heilige Nacht - EG Treffer bei google) Dass Stille Nacht, heilige Nacht so populär ist, hängt natürlich mit der Beliebtheit von Weihnachten zusammen. Nun danket alle Gott ist nun gewiss kein neues Lied, aber es ist in viele Sprachen übersetzt. Auch in unserem Evangelischen Gesangbuch steht Nun danket alle Gott in mehreren Sprachen. Ich weiß nicht, wie oft Sie, lieber Herr Klenk, an der Orgel dieses Lied begleitet haben: nicht nur in Gottesdiensten am Sonntagmorgen, sondern auch an Silvester, bei Konfirmationen, bei Trauungen und hin und wieder sicher sogar bei Beerdigungen. 6

7 Doch nun wieder zurück zu dem Lied Singet dem HERRN ein neues Lied, denn er tut Wunder! In der dritten Strophe spornt mich das Lied an, noch genauer hinzuschauen, wovon ich immer neu singen kann. Mir fallen Menschen ein, die mir wichtig sind. Die es in meinem Leben jedenfalls, Gott sei Dank, immer wieder gibt. Menschen, die mich verstehen und die mich annehmen, so, wie ich bin. Aus der Freude über diese Menschen wird im Lied auch ein Lob auf Gott. Zurecht? Ich denke schon. Weil ich glaube: Gott ist Mensch geworden. Ich glaube: Gott ist in allen Begegnungen, die wahrhaft menschlich sind, spürbar. Ich glaube: Gott ist da spürbar, wo wir offen sind füreinander und bereit, aufeinander zu hören und voneinander zu lernen. Wer im Chor singt, lernt das ganz nebenbei: Aufeinander zu hören und offen zu sein füreinander. Wie schön, dass Sie heute als ökumenischer Chor heute den Gottesdienst mit uns feiern. So wächst ökumenisches Miteinander, auch wenn wir verschiedenen theologischen und kirchlichen Traditionen folgen. Wie gut, dass dieses Miteinander in den zahlreichen ökumenischen Adventsmusiken schon damals eingeübt und zur guten Praxis wurde, als Sie, lieber Herr Klenk, die Leitung unserer späteren Kantorei hatten. 7

8 Ich hoffe, Sie alle - Chormitglieder und alle anderen Gottesdienstbesucher und ich - erleben immer wieder das Glück, wahrhaftig verstanden zu werden. Denn: Verstanden zu werden, geachtet und geliebt zu werden, das ist etwas ganz Großes. Und wenn wir dieses Glück erleben, kann es in uns anfangen zu singen. Tun wir es jetzt gemeinsam. Singen wir die 3. und 4. Strophe vom Lied 287 Singet dem HERRN ein neues Lied. Amen. Gemeinde: EG 287, 3 und 4 8