9. VORLESUNG: PSYCHOANALYTISCHE PÄDAGOGIK
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- Elsa Fromm
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1 62 9. VORLESUNG: PSYCHOANALYTISCHE PÄDAGOGIK WESEN UND ZIEL DER PSYCHOANALYTISCHEN PÄDAGOGIK: Historischer Überblick Analyse von erwachsenen Neurotikern -> schwerwiegende Erziehungsfehler (Unaufrichtigkeit bzw. Inkonsequenz der Eltern in sexuellen Fragen, unrealistisch hohe moralische Anforderungen, übermäßige Strenge, übermäßige Nachsicht, unnötige Versagungen, Strafen, Verwöhnung, frühe Verführung, usw.) Gründe, warum sich Psychoanalytiker mit Erziehung beschäftigten: -> um Erziehungsfehler überhaupt zu vermeiden (psychoanalytische Pädagogik) -> wirksame und richtige Behandlung der Kinder (Kinderanalyse) 1926 Zeitschrift für psychoanalytische Pädagogik (12 Bände), hg. v. MENG und SCHNEIDER (Ende mit Nazizeit) 1945 Psychoanalytic Studies of the Child (als Fortsetzung dazu): Erfahrungen aus Analyse Erwachsener für Kinder umgesetzt. * traumatische Wirkung der Ur-Szene (Beobachtung des elterlichen Koitus) und sexuell stimulierende Wirkung des Schlafens neben den Eltern im Ehebett * viele intellektuelle Hemmungen des Erwachsenen = Wirkungen unbefriedigter Sexualneugier des Kindes (daher: rechtzeitige sexuelle Aufklärung; kein Verteufeln der Onanie) * große Bedeutung des Aggressionstriebs -> Duldung von Äußerungen kindlicher Ambivalenz und Aggression; Schuldgefühle und Angst haben pathogene Wirkung -> Aufwachsen in möglichst angstfreier Atmosphäre als Neurosenverhütung * Stärkung der Ich-Funktionen als Erziehungsaufgabe (Hilfe bei Kontrolle von Motilität und Wahrnehmung, Förderung von rationalem Denken und Realitätsprüfung, Hilfe bei Antizipation von Gefahr; Autonomie, Pünktlichkeit, Ordentlichkeit) Nicht nur die Familien, sondern alle Institutionen, die mit Erziehung zu tun hatten, sollten einbezogen werden. Aber: viel zu enthusiastische Erwartungen, heute sieht man alles realistischer. PSYCHOANALYTISCHE PÄDAGOGIK ALS PÄDAGOGISCHE METHODE: * Pädagogik: -> Wissenschaft von der Erziehung, von der Menschenführung, die auf Ordnung der intra- und interpersonalen Zusammenhänge gerichtet ist. -> Lehre vom Ziel der Erziehung beschäftigt sich mit dieser Ordnung. -> Methodik = Lehre von den Mitteln und Wegen, wie dieses Ziel zu erreichen ist. -> Erzogener Mensch hat Fähigkeit, immer in Ordnung mit seiner eigenen Person und mit seinen Beziehungen zur Umwelt zu gelangen.
2 63 * Zusammenhang zwischen Pädagogik und Psychoanalyse: # Zentralbegriff der Psychoanalyse = das Unbewußte (= das Verdrängte). # Ziel der Pädagogik = Führung zur Ordnung. => Inhalte des Unbewußten = Folge oder Ursache eines mißglückten Ordnungsversuches. => Unbewußtes stört seelisches Ordnungsstreben / Gleichgewicht, drängt aber gleichzeitig auf Ordnung (vgl. Symptombildung als Kompromißbildung). => Unbewußtes wirkt erzieherischen Absichten entgegen, verlangt aber gleichzeitig nach Behandlung. Kinder leiden unter Symptomen primär weniger als Erwachsene (vgl. Nägelbeißen -> Kind leidet nicht darunter, sondern unter den Strafandrohungen der Erwachsenen; warum hat Kind aber dieses Symptom entwickelt? Nägelbeißen ist Ausdruck von Angst!) ZUSAMMENHÄNGE ZWISCHEN PÄDAGOGIK UND PSYCHOANALYSE NACH SCHNEIDER (1926): 1. Psychoanalyse verschafft Pädagogen Einsicht in Störungen im Kind und im Erzieher, die im Zusammenhang mit dem Unbewußtsein und Unbewußtwerden stehen. 2. Erzieher soll solche Konflikte verhindern, erkennen und lösen, damit Anteil der Verdrängung so klein wie möglich gehalten wird. (Es gibt aber auch normale Verdrängungsvorgänge, die Kind für seine Entwicklung braucht!) 3. Sind Kompromißbildungen (neurotische Symptome) vorhanden, die Erziehung erschweren oder unmöglich machen -> Psychoanalyse als Heilverfahren bei Kind und Erzieher. Verdrängung aber nicht aufheben, sondern Ordnung, die vorher nicht gefunden wurde, nachträglich suchen -> Nacherziehung. Allgemeine Erziehungsziele: 1. Realitätsprinzip zur Geltung bringen, möglichst geringe Einschätzunng des Lustprinzips 2. Vermeidung von Neurosen und krankhafter Triebhaftigkeit 3. Stärkung des Ichs und des Gewissens 4. Befreiung von krankhaften Hemmungen und Aufrichten normaler Hemmungen 5. Lösung aus abnormen Identifizierungen 6. Förderung der Sublimierungsfähigkeit 7. Entwicklung einer normalen Liebesfähigkeit DAS OBJEKT DER PSYCHOANALYTISCHEN PÄDAGOGIK PSYCHISCHE ENTWICKLUNGSLINIEN ALS RICHTLINIEN FÜR EINE SINNVOLLE ERZIEHUNG: * Kinder gleichen biologischen Alters können sich auf höchst unterschiedlichen Entwicklungsstufen ihrer emotionalen, kognitiven, psychischen Entwicklung befinden. * Psychoanalyse stellt Entwicklungsreihen für Triebentwicklung, Ich-Funktionen, Überich-Entwicklung auf. * Entwicklung des Sexualtriebes = charakterisiert durch Aufeinanderfolge einzelner Phasen (oral, anal, sadistisch, phallisch, Latenz, Präadoleszenz, Adoleszenz)
3 64 * Äußerungen des Aggressionstriebes können bestimmten Stufen der Libidoentwicklung zugeordnet werden: -> Beißen, Einverleibungswünsche = orale Aggressionen -> Quälen, Zerstören, Grausamkeit = analer Sadismus -> Herrschsucht, Prahlerei, Überheblichkeit = phallische Phase -> dissoziale Ausbrüche = Präadoleszenz / Adoleszenz * Ich: annähernde Chronologie der Abwehrmechanismen Überich: Aufeinanderfolge der Identifizierungen (Fusion mit Objekt versus Identifizierung mit ausgewählten Qualitäten des Objekts); fortschreitende Internalisierung der elterlichen Autorität. * Wichtig für die Pädagogik = -> Kenntnis der wichtigsten Wechselbeziehungen zwischen Äußerungen des Trieblebens und der Ich-Funktionen und die -> Feststellung der Regelmäßigkeit, wie sie auf den verschiedenen Alters- und Entwicklungsstufen zustande kommen. -> Mischwirkung von Reifung - Strukturalisierung -Anpassung. BEISPIEL FÜR EINE TYPISCHE ENTWICKLUNGSLINIE: Von der infantilen Abhängigkeit zum erwachsenen Liebesleben: Stufe 1: biologische Einheit zwischen Mutter und Kind am Anfang des Lebens = symbiotische Periode. Anschließend Raprochement-Krise (Trennungsangst und Selbständigkeitswunsch) -> Individuation (gewisse Selbständigkeit) Stufe 2: Periode des Teilobjekts: * Vorstufe der Objektbeziehungen (Objektwahl wird noch nicht vom Ich, sondern von Bedürfnissen und Triebregungen reguliert). * Positive Libidobesetzung der durch das Objekt vermittelten Befriedigung. * Besetzungen sind aber noch nicht konstant -> ist Wunscherfüllung eingetreten, werden sie zurückgezogen (im Zustand der Ruhe Rückkehr des Kindes zur narzißtischen Libidoverteilung) Stufe 3: Stufe der Objektbeziehungen: * Libidobesetzungen werden von Bedürfnisbefriedigung unabhängig, * bleiben konstant auf eine bestimmte Person gerichtet. Stufe 4: Phase der ambivalenten Beziehungen der anal-sadistischen Phase. Libido und Aggression werden auf das gleiche Objekt gerichtet. Stufe 5: Phase der Triangulierung: * Kind macht einen Elternteil zum Ziel seiner sexuellen Wünsche und rivalisiert mit dem anderen. * Neugier, Prahlerei, Exhibitionslust. Stufe 6: Latenzzeit: * Abklingen der prägenitalen Regungen der infantilen Sexualität; * Untergang des Ödipuskomplexes (beim Knaben früher als beim Mädchen). * Libidöse Besetzungen von den Eltern abgezogen und auf Gleichaltrige, unpersönliche Ideale, Interessen gerichtet. Kein neues Sexualziel kommt dazu. * Reges Phantasieleben (nach Enttäuschung am Idealbild der Eltern)
4 65 Stufe 7: Präadoleszenz: * Steigender Triebdruck als Reaktion auf hormonale Veränderungen, * scheinbar überwundene Wünsche und Einstellungen des infantilen Lebens kommen wieder zum Vorschein. Stufe 8: Adoleszenz: * Jugendlicher löste sich von seinen ödipalen Objekten; * prägenitale Partialtriebe vereinigen sich zur Genitalität. BEISPIELE FÜR MÖGLICHE KONSEQUENZEN DURCH BESTIMMTE TRAUMATA AUF DEN EINZELNEN ENTWICKLUNGSSTUFEN: Trennung: auf Stufe 1: auf Stufe 3: auf Stufe 4: Ausbrüche von Trennungsangst / Trennungsschmerz -> psychosomatische Störungen anaklithische Depression; Frühreife; falsches Ich aggressive und destruktive Folgeerscheinungen, die erzieherisch nur sehr schwer behebbar sind. * Nach Stufe 3 werden Trennungen besser verkraftet, vor allem, wenn stützende Umwelt vorhanden ist. * Je sicherer die konstanten Objektbeziehungen verankert sind, umso unabhängiger sind sie von körperlicher Anwesenheit der Person, je länger kann die Trennung ohne Störung dauern (z.b. Wirkung eines Krankenhausaufenthalts). * Chronologisches Alter ist kein gutes Maß für den Entwicklungsstand des Kindes. Andere praktische Rückschlüsse: * lärmendes Anklammern des Kindes an Mutter ist nicht Kennzeichen eines verzogenen Kindes, sondern Folge der vorödipalen Ambivalenz * Vor Ende der Stufe 4 ist keine Änderung in den Objektbeziehungen zu erwarten * Kind kann nicht in Gemeinschaft eintreten, bevor es nicht Anteile seiner Libido von den Eltern auf Altersgenossen übertragen hat -> Schulängste, massives Heimweh, mangelndes Anpassen an schulische Gemeinschaft = oft Ausdruck dafür, daß Untergang des Ödipuskomplexes sich verzögert, oder daß infantile Neurose vorliegt * Adoptierte Kinder kommen meist in Latenzzeit in Schwierigkeiten (Phantasie, nicht das leibliche Kind seiner Eltern zu sein wird für sie zu schmerzlicher Realität) * Sublimierungen, die erst in ödipaler Phase auftreten und in Latenzperiode voll entwickelt sind, können in Pubertät verlorengehen (kein Erziehungsfehler, sondern entwicklungsgemäße Regression auf Stufe 4 oder Stufe 4) * Recht des Jugendlichen zur Ablösung vom Elternhaus muß genauso ernst genommen werden wie Recht des Kleinkinds zur Anklammerung an seine Objekte MERKE: Kenntnis des psychischen Entwicklungsstand eines Kindes hat Priorität bei der Beurteilung seines Verhaltens -> Hilfe ist wichtig / Strafen ist sinnlos für Verhalten, das nicht dem Willen des Kindes unterliegt!
5 66 EXKURS ÜBER DAS STRAFEN Strafe = bewußte Zufügung eines Übels wegen Übertretung irgendwelcher Vorschriften durch eine bestimmte Persönlichkeit. Bereitschaft zu strafen, bestraft zu werden, zur Selbstbestrafung werden im Kind geweckt in der Zeit, in der es die ersten sittlichen Geboten vom Erzieher erhält. => Kind erfährt, daß Erzieher Strafgewalt haben, und Forderung, so zu handeln, daß Strafe vermieden wird. => Kind gleicht sich seinen Erziehern an, identifiziert sich mit ihnen (übernimmt von ihnen Eigenschaften und Verhaltensweisen) -> zunächst unbewußt aus dem Bedürfnis nach Kontakt, aus Liebe, aber auch aus Angst vor Liebesentzug. 3 wesentliche Strafen, die Kindern zugefügt werden: * Liebesentzug * Erniedrigung * körperliche Züchtigung Kinder lernen, was ihrer Selbsterhaltung dienlich ist, durch konsequente sachliche Erklärung. Dem Kind alles zu verbieten (z.b. Messer, Scheren) ist Unfug -> Unselbständigkeit. Besser: Hilfe beim Umgang damit. Ab 2. Lebensjahr: Ich des Kindes neigt dazu eigener Richter für Verbotenes zu werden, Schuldgefühle und Strafbedürfnis entwickelt sich -> Voraussetzung, Fremdstrafen zu verstehen. Typische Äußerungen der prägenitalen Sexualität gehen oft mit körperlicher Züchtigung eine fatale Verbindung ein: -> fatale Folgen für psychosexuelle Entwicklung: Körperstrafe (Schläge auf Gesäß) produziert und verstärkt Neigung zu Haß, Schmerzlust, krankhaftem Strafbedürfnis -> verstärkt auch die aktiven Gegenspieler (Grausamkeit und Lust am Schlagen anderer). Schläge steigern die Angst und die triebhafte Erregung -> Auslösung von Angst-Lust! Eltern die schlagen, neigen andererseits (aus Schuldgefühl!) auch zu übertriebener Zärtlichkeit -> Wechsel zwischen Prügel und Zärtlichkeit stört Entwicklung des Kleinkindes immens! Bewirkt massive Regression; Angst- und Aggressionsstrebungen bestehen weiter -> bei Jugendlichen oft Ursache für ein unrealistisches Strafbedürfnis (begehen Bagatelldelikte -> um Schuldgefühle zu tilgen, empfinden Strafe dafür als ungerecht, weil die eigene Untat ja nicht aus bewußtem Wollen geschah! -> Rückfall -> Paradoxon: Strafe konnte nicht bessern! Daher: Kein Eingehen auf das Strafbedürfnis des Kindes!)
6 67 DISSOZIALE JUGENDLICHE - VERWAHRLOSUNG Menschliche Verwahrlosung = allgemeine Vernachlässigung der äußeren Formen, der Sittenformen, der Kleidung. Bei Jugendlichen kommt dazu: * Flucht oder Ausstoßung aus dem Elternhaus * Neigung zu Promiskuität * Neigung zu deviantem Verhalten (z.b. Drogenmißbrauch) Hohe Zusammenhänge mit Herkunftsmilieu und dort herrschenden Norm- und Wertvorstellungen AICHHORN (1951): * Verwahrlosung = mangelhafte Überich-Entwicklung; Fixierung in oraler und analer Phase mit Einverleibungs- und Trotzkonflikten bei depressiven Verstimmungszuständen spielen vor allem in den sozialen Kontakten bei verwahrlosten Kindern und Jugendlichen eine Rolle. * Andere Form der Verwahrlosung, bei der ödipale Phase Niederschlag in Bildung des Überichs gefunden hat -> Jugendliche sind realitätsangepaßt, kommen aber immer wieder in Konflikt mit Institutionen wie Jugendamt oder Polizei. Periodische Ausreißer (Ausreißen, Vagabundieren, Delikte sind aber nicht das neurotische Symptom, sondern dessen Folge). -> Symptom = Neigung zu intensiven Depressionen und/oder Zorn- und Wutanfällen, davor flieht der Jugendliche vom Ort, an dem diese Gefühle zum Durchbruch kommen könnten (= Herkunftsfamilie / Schule) -> Hilfe für solche Jugendliche = Bewährungshelfer, vor allem Streetworker (Bewährungshelfer, die sich in die Jugendkultur hineinbegeben, um vor Ort mit gefährdeten Jugendlichen Kontakt aufzunehmen) HAUPTBEDINGUNG DES PÄDAGOGISCHEN ERFOLGES IST DIE ERZIEHUNG DER ERZIEHER -> jede neurotische Entwicklung von ihnen führt zu Erziehungsfehlern! BEISPIEL: Erzieher mit traurigen Erinnerung an eigene unglückliche Kindheit versuchen dies dadurch zu kompensieren, daß sie Toleranz und Nachsicht falsch auslegen und den Kindern keine Grenzen setzen -> dies löst bei den Kindern wiederum Ängste aus. Erzieher, der mit seiner wohlgemeinten Erziehungsmethode versagt hat, und nicht versteht, warum -> lastet Versagen den Kindern an -> reagiert auf sie mit unerwarteter Härte -> Spirale des Unverständnisses! Labiles Selbstwertgefühl eines ängstlichen Lehrers, der fürchtet, sich lächerlich zu machen -> Disziplinlosigkeit der Klasse -> Lehrer straft und kann Kontrolle darüber verlieren. Fazit: Wichtig ist * ständige Aus- und Weiterbildung, * Selbsterfahrung in Gruppen, * Supervision als Praxisbegleitung.
7 Vor allem im Wien der Zwischenkriegszeit -> psychoanalytische Erkenntnisse in der Schule umgesetzt (Otto GLÖCKEL, et al.) 68
Weiterführende Literatur Register
5 Inhalt 1. Leben und Persönlichkeit... 7 2. Vom Trauma zur Fantasie... 29 3. Die Erforschung der Vergangenheit... 45 4. Freie Assoziation, Träume und Übertragung... 63 5. Ich, Über-Ich und Es... 87 6.
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