Einführung ins Fach Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie. Ulrike M.E. Schulze
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- Frieda Huber
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2 Einführung ins Fach Basiswissen Kinder- und Jugendpsychiatrie und Entwicklungspsychopathologie Ulrike M.E. Schulze 27. Oktober 2016
3 Was ich Ihnen etwas näher bringen möchte ist dass die Kinder- und Jugendpsychiatrie ein eigenständiges Fach ist, dass der Entwicklungsaspekt eine wesentliche Rolle spielt, unsere Herangehensweise an Diagnostik und Therapie und Ihnen einen kurzen Überblick zu einigen so genannten Störungsbildern geben.
4 Besonderheiten der Kinder- und Jugendpsychiatrie Die Kinder- und Jugendpsychiatrie ist ein eigenständiges Fach, welches in Fachverbänden auf unterschiedlichen Ebenen organisiert ist. Sie hat eine eigenständige Sichtweise, ist in einer ständigen Entwicklung begriffen, verfügt über eigene Leitlinien zur Diagnostik und Behandlung, arbeitet häufig interdisziplinär (Schnittstellen), bezieht Position zu aktuellen Fragestellungen, setzt sich aktiv mit ihrer eigenen Geschichte auseinander und trifft immer wieder auf aktuelle Herausforderungen, z.b.: minderjährige unbegleitete Flüchtlinge Misshandlung und Missbrauch Kindeswohlgefährdung / Kinderschutz
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6 Nächstes Jahr findet der Kongress der DGKJP in Ulm statt
7 Namen und Entwicklungen (nach G. Nissen 2005) Hermann Emminghaus ( ): Die psychischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (1887) Ludwig Scholz ( ): Einführung des Begriffs Jugendpsychiater August Homburger ( ): unterschied psychopathische Kinder und Jugendliche (Nervöse, Ängstliche, Hysterische ) Hermine von Hug-Hellmuth ( ): Schülerin Sigmund Freuds, Lehrerin, die erste Kinderpsychotherapeutin, Begründerin der Spieltherapie Anna Freud ( ): Lehrerin und Sozialpädagogin, Entwicklung einer eigenständigen Kinderpsychoanalyse Annemarie Dührssen ( ): Kinderanalytikerin, individualisierte Behandlungstechnik (das Kind, Lebensalter, Intelligenz, emotionale Begabung indiziertes Verfahren); wichtige Voraussetzung: Kenntnis der Familiensituation; Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen Meinhard von Pfaundler ( ): Pädiater, Verhaltensforscher, entwickelte die Klingelmatte Albert Ellis ( ): Bedeutung dysfunktionaler kognitive Prozesse für die Entwicklung psychischer Störungen Frederick H. Kanfer ( ): Selbstkontrolle und Selbstmanagement, Entwicklung eigener Stärken und Fähigkeiten ( skills )
8 Die Kinder- und Jugendpsychiatrie (nach G. Nissen 2005) Moritz Tramer ( ): Schweizer Psychiater und Mathematiker, führte den Begriff Kinderpsychiatrie als internationale Bezeichnung ein (1934; Zeitschrift der Kinderpsychiatrie ), gründete 1937 eine Beobachtungsstation für Kinder und Jugendliche, Lehrbuch der allgemeinen Kinderpsychiatrie (1942) Franz-Günther von Stockert ( ): Sprachentwicklung als wichtiger Entwicklungsparameter, Die Sexualität des Kindes (1950) Hans Asperger ( ): Autistische Psychopathie (1943), Heilpädagogik als biologisch fundierte Wissenschaft, die mehr als eine angewandte Kinderpsychiatrie darstellen soll Franz Kramer ( ) und Hans Pollnow: beschrieben 1932 ein hyperkinetisches Syndrom im Kindesalter, Kramer-Pollwow-Preis Paul Schröder ( ): Lehrstuhlinhaber für Psychiatrie in Leipzig, erster Internationalen Kongress für Kinderpsychiatrie in Paris (1937), Gründer der Deutschen Arbeitsgemeinschaft für Kinderpsychiatrie (1938); sein OA Hans Heinze wurde Mitarbeiter einer Kinderfachabteilung während der Zeit des Nationalsozialismus Leo Kanner ( ): Gründungsvater der amerikanischen KJP
9 Was brauchen Kinder für eine gesunde Entwicklung? die richtige Ernährung? ausreichend Schlaf? Bewegung? gesunde Väter? Liebe und Geborgenheit? Ruhe-Inseln? andere Kinder? liebevolle beständige Beziehungen körperliche Unversehrtheit und Sicherheit Grenzen und Strukturen eine sichere Zukunft... Ressourcen Resilienz Fähigkeiten Zwei Dinge sollen Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzeln und Flügel." - Goethe -
10 Entwicklungsaufgaben - Erwartungen motorisch sprachlich Sauberkeit sozial: Beziehungsfähigkeit, Familie, Peers emotional: Regulation, Ausgeglichenheit, Stabilität Leistungen: Schule, Ausbildung, Studium, Beruf gesellschaftliche Integration
11 Resilienzforschung (Rutter 2000) eine Schlüsselerklärung für interindividuelle Unterschiede in Reaktionen auf psychosoziales Risiko betrifft die Anzahl der Risikofaktoren und die Dauer, der ein Mensch diesen Risiken ausgesetzt ist genetische Einflüsse funktionieren über ihren Einfluss auf individuelle Unterschiede in der Empfindsamkeit gegenüber Umweltbelastungen einer der Gründe, warum psychiatrische Störungsbilder persistieren, liegt darin, dass auch die schädigenden Umweltbedingungen fortbestehen einige Risiko- und Schutzfaktoren funktionieren über einen breiten Bereich, andere sind sehr spezifisch in ihrer Wirkung
12 Entwicklungsaspekt ADHS Symptome entwicklungsübergreifend Vorschulalter Schulalter Jugendalter Schreikind geringe Frustrationstoleranz kann nicht bei einer Sache bleiben Impulsivität Leistungsprobleme immer auf Achse Hausaufgabendrama leichte Beeinflussbarkeit hohes Mittelpunktsstreben Störenfried, Klassenkasper risikoreiches Verhalten ausgeprägte Stimmungslabilität Feinmotorik: schlechte Schrift, mangelnde, Feindosierung des Krafteinsatzes Mimik: stehendes Lächeln, Grimassieren, assoziierte Mundbewegungen Gestik: überschießende Bewegungen; Stimmungslabilität: Wutanfälle, Euphorie
13 Häufigkeit psychischer Erkrankungen in Deutschland* unbehandelt: Alkoholmissbrauch: 25,8 %, Zwangsstörungen 42,5 %, Phobien 45,6-53 % * Psychische Erkrankungen: Hohes Aufkommen, niedrige Behandlungsrate Dtsch Arztebl 2013; 110(7): A-269 / B-250 / C-250
14 Borderline-Persönlichkeitsstörung wie ein Kind sie wahrnehmen könnte Mama ist manchmal ganz durcheinander sie redet von komischen Dingen und hört mir nicht richtig zu manchmal will sie mir ganz nah sein, schmust mit mir, dann wieder kann sie niemanden um sich ertragen manchmal weiß ich nicht ob sie mich eigentlich mag, dann wieder geht sie mir mit ihrer Fürsorglichkeit auf die Nerven Papa hat sich von ihr getrennt, er hat jetzt eine Freundin manchmal sitzt sie nur da und starrt vor sich hin ich weiß, dass Mama sich manchmal schneidet, aber ich weiß nicht, warum ich mache mir große Sorgen, aber weiß nicht wie ich helfen kann manchmal kauft sie ganz viel zu essen ein: Nutella und Brot und Pommes und so und am nächsten Tag ist schon wieder nix mehr zu essen da
15 Kinder psychisch kranker Eltern Quelle: RKI
16 Angststörungen Entstehungsmodell (nach Nutts & Ballenger, 2003) Temperament ( behaviorale Inhibition ) + Persönlichkeit Angst-assoziierte Persönlichkeitszüge - negative Emotionen - extreme Sorge - Stress-Reaktivität genetische Veranlagung Bindungserfahrungen Panikstörung Generalisierte Angststörung elterliche Kontrolle ( Angstfamilie ) Emotionale Störungen Zwangsstörung Stress: perinatale Komplikationen, Pubertät genetische Faktoren: Panikstörung, Generalisierte Angststörung Multikausalität, protektive Faktoren, Risiken, Feinfühligkeit, Selbstwirksamkeit
17 Die häufigsten Störungsbilder im Kindes- und Jugendalter ADHS (ca. 5%) Störung des Sozialverhaltens (5-8%) Angststörungen Depressive Störungen Essstörungen Posttraumatische Belastungsstörung
18 Multiaxiale Klassifikation in der Diagnostik Versuch einer möglichst ganzheitlichen Erfassung der individuellen Situation des Kindes bzw. Jugendlichen Achse I:Klinisch-psychiatrisches Syndrom ( Diagnose ) Achse II: Entwicklungsverzögerungen Achse III: Intelligenz Achse IV: Körperlich-neurologische Erkrankung Achse V: Psychosoziale Belastungsfaktoren Achse VI: Psychosoziale Adaptation Ungleichgewicht bereits auf der Achse V präsent, bevor eine psychiatrische Diagnose gestellt wird - Mütter-Angst-Studie : Kinder waren häufig (noch) nicht krank, litten aber unter eingeschränkten Erziehungsbedingungen, familiärer Situation Achse VI: beschreibt letztlich die Teilhabefähigkeit oder Beeinträchtigung derselben in sozialen und Leistungs-Bezügen (Schule, Familie, Peers)
19 Von der Anamnese zur Diagnosestellung 1. Symptomatik (Exploration) 2. Entwicklungsgeschichte (biographische Anamnese, Temperament, Beginn und Verlauf der Symptomatik) 3. Psychiatrische Komorbidität 4. Störungsspezifische Rahmenbedingungen (Fremdanamnese, körperlich-neurologische Untersuchung, Erziehung) 5. Testpsychologische Diagnostik (Intelligenz, Teilleistungen, Entwicklungsstand) 6. Apparative Labordiagnostik 7. Differentialdiagnostik
20 Der psychopathologische Befund Psychopathologie = Erkennen, Beschreiben und Dokumentieren abweichenden Erlebens und Verhaltens Befund geht von subjektivem Erleben und beobachtbarem Verhalten aus Verhaltensbeobachtung sehr wichtig! Erscheinung, Bewusstseinslage, Orientierung Aufmerksamkeit, Konzentration und Auffassung Antrieb, Psychomotorik Denkstörungen: formal, inhaltlich Wahrnehmungsstörungen (z.b. Halluzinationen), Ich-Störungen Affektivität (Stimmung, Schwingungsfähigkeit) Zwänge, Ängste weitere spezifische Symptome (somatoform, vegetativ) Suizidgedanken, (akute) Suizidalität Fremdgefährdung
21 Wie entwickeln sich Diagnosen im Laufe des Lebens? Entwicklungsaspekt, z.b. Angststörungen auch Diagnose-abhängig, z.b. Bindungsstörung Verlauf: Unterstützung, Prozessoffenheit (individuelles Eingehen auf Bedürfnisse und Vorstellungen der Patienten und ihrer Familie)
22 Entwicklungsverlauf von Störungen des Sozialverhaltens (nach Loeber et al. 2000) Frühe Kindheit Adoleszenz Erwachsenenalter Angst Depression Substanzmißbrauch Opposition. Trotzverhalten Störung des Sozialverhaltens Antisoziale Persönlichkeitsstörung Hyperkinetische Störung erhöhtes Suizidrisiko, v.a. in der Adoleszenz, vermutlich bedingt durch Comorbidität (Depression, Störung des Sozialverhaltens) (Daviss 2008, McCarthy et al. 2009, Sourander et al. 2009, Manor et al. 2010)
23 Multimodale Therapie Aufklärung und Beratung (Psychoedukation) der Eltern, des Kindes/Jugendlichen und des Erziehers bzw. des Klassenlehrers Elterntraining und Interventionen in der Familie (einschl. Familientherapie) zur Verminderung der Symptomatik in der Familie Interventionen im Kindergarten / in der Schule (z.b. im Falle eines ADHS) Kognitive Therapie des Kindes / Jugendlichen (ab dem Schulalter) z.b. zur Verminderung von impulsiven und unorganisierten Aufgabenlösungen (Selbstinstruktionstraining) oder zur Anleitung des Kindes/Jugendlichen zur Modifikation des Problemverhaltens (Selbstmanagement) Pharmakotherapie (wenn Psychotherapie/flankierende Maßnahmen nicht ausreichend) Aufklärung Einverständnis Compliance, Güterabwägung, Überprüfung
24 Selbstinstruktion
25 Unsere Klinik Aufbau: 3 Sozialarbeiterinnen für unsere Ambulanz (PIA, Hochschul- u. Privatambulanz), 2 Tageskliniken, eine Kinder- (12 Betten) zwei Jugendstationen ( Betten ) (+ Forschung) Patienten kommen überwiegend aus Ulm (2010: Einwohner) Alb-Donau-Kreis (2008: Einwohner) Neu-Ulm (2011: Einwohner) Jugendämter: Ulm, Alb-Donau-Kreis, Neu-Ulm, Jugendhilfeeinrichtungen vor Ort: Guter Hirte Oberlin e.v. Jugendhilfe Seitz Netzwerke: verschiedene interdisziplinäre Arbeitskreise (z.b. frühe Hilfen, Kindeswohl, Kinder psychisch kranker Eltern, Autismus )
26 Jugendhilfeeinrichtungen vor Ort ULM NEU-ULM
27 Reibungsverluste in der interdisziplinären Zusammenarbeit Unterschiedliche theoretische Grundlagen und Denkmodelle: Jugendhilfe pädagogisch orientiert familienzentriert Ressourcenorientiert Gesundheitswesen medizinisch orientiert individuumszentriert orientiert sich am identifizierten Patienten (störungs- und krankheitsrelevante Diagnose)
28 Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
29 PD Dr. Ulrike M.E. Schulze Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie / Psychotherapie des Universitätsklinikums Ulm Steinhövelstraße Ulm Ärztlicher Direktor: Prof. Dr. Jörg M. Fegert
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