Kognitive Verhaltenstherapie bei Ängsten im Kindesund Jugendalter
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- Elvira Schmidt
- vor 6 Jahren
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1 Kognitive Verhaltenstherapie bei Ängsten im Kindesund Jugendalter Sigrun Schmidt-Traub Ein Leitfaden für die Behandlung von Panikstörung, Agoraphobie, spezifischen Phobien und Trennungsangst Therapeutische Praxis
2 18 Kapitel 1 Patienten mit Panikstörung haben vor allem bei komorbider Agoraphobie noch weitere Auffälligkeiten, die aber ohne diagnostische Relevanz sind (vgl. DSM-5). Öfter kommt es zu ausgeprägter sozialer, schulischer, beruflicher und körperlicher Beeinträchtigung; nicht selten sind Schulverweigerung (oder Arbeitslosigkeit) die Folge. Sie gehen häufiger zum Arzt und verursachen höhere Gesundheitskosten als Personen mit anderen Angststörungen. Verschiedene Substanzen (wie Koffein, Kohlendioxyd u. a.) lösen bei Personen mit einer Panikstörung leichter Panikanfälle aus als bei gesunden Kontrollpersonen, Patienten mit anderen Angststörungen oder mit Depressionen. Bei Kindern wird die Fähigkeit, körperliche Angstsymptome falsch interpretieren und katastrophisieren zu können, kontrovers gesehen. Die Fähigkeit zur kognitiven Einschätzung von körperlichen Angstsymptomen haben Muris und sein Team (2007) bei Kindern in Abhängigkeit vom Entwicklungsstand untersucht: Bereits 7-Jährige konnten ihre somatischen Beschwerden mit Angst in Verbindung bringen. Eine Tendenz, von körperlichen Symptomen auf Gefahr zu schließen, fanden sie sogar schon bei 4-Jährigen. Panikstörung tritt bereits vereinzelt im Grundschulalter auf, vermehrt jedoch bei jungen Erwachsenen (Doerfler et al., 2007; Kessler et al., 2005). Bis zu 90 % aller Kinder und Jugendlichen, die unter einer Panikstörung leiden, haben zusätzlich noch eine andere Angst- oder depressive Störung (Birmaher et al., 2004). Liegen heftige körperliche Symptome vor, sollte vor dem Diagnostizieren einer Panikstörung zur Vorsicht eine allgemeinmedizinische Untersuchung beim Kinderarzt durchgeführt werden, um somatische Erkrankungen wie Schilddrüsenüberfunktion, Allergien, Herzerkrankung oder körperliche Zustände wie bei Unterzuckerung oder Drogeneinnahme auszuschließen Agoraphobie Agoraphobie umfasst nach DSM-5 und ICD-10 sehr viel mehr gefürchtete Reize als nur die Furcht oder Angst vor dem Marktplatz (agora, griechisch) (vgl. Kasten 3). Agoraphobie entwickelt sich oft im Zusammenhang mit Panikstörung und ist meist sekundär (vgl. DSM-5). Die agoraphobischen Symptome sind wie bei einer Panikattacke (vgl. Kapitel 1.2.1). Insbesondere Schwindel, Ohnmachtsgefühl und Angst vor dem Sterben werden häufig genannt. In klinischen Gruppen haben etwa die Hälfte der Agoraphobiker auch Panikanfälle. Einige von ihnen beschreiben weitere Symptome wie Erbrechen (was meist sehr peinlich für sie ist) oder Darmentzündungen. Kinder mit agoraphobischen Ängsten fühlen sich häufiger desorientiert und verloren (vgl. DSM-5). Die Angststärke variiert oft mit der Nähe zur Angstsituation; weitere Entfernung von zu Hause kann bereits Angst auslösen. Erwartungsangst wie auch die Vorstellung einer Angstsituation triggern ebenfalls Angst. Um Agoraphobie diagnostizieren zu können, muss die Angst in der Mehrzahl der Fälle in der Angstsituation auftreten. Erlebt ein Kind bei fünfmaligem Anstehen in einer Schlange nur einmal Angst, wird keine Agoraphobie diagnostiziert (vgl. DSM-5). In der Regel vermeiden Agoraphobiker bestimmte Angstsituationen, die in Wirklichkeit nicht gefährlich sind (sie gehen z. B. nicht mehr zur Schule oder verlassen nicht mehr das Haus) oder sie weichen ihnen zumindest teilweise aus (indem sie nur in Begleitung die Angstsituation aufsuchen oder sich in der agoraphobischen Situation ablenken). Bei Angst klammern sie sich an Personen oder drücken sich an Wände, ängstliche Kinder umschlingen Kissen oder Stofftiere, zittern, halten den Atem an oder atmen flach. In schweren Fällen können Patienten nicht mehr alleine das Haus verlassen und fühlen sich sehr eingeschränkt in ihrer Lebensführung. Oft sind Mutlosigkeit und Depressionen die Folge. Das Vermeidungs- und Sicherheitsverhalten von ängstlichen Kindern und Jugendlichen beruht weitgehend auf magischem Denken und Illusion. Irrtümlicherweise meinen sie, sich mit Vermeiden zu schützen. Weil sie sich dann sicher und geschützt fühlen, glauben sie, die gemiedene Situation wäre tatsächlich gefährlich gewesen. Dieser Trugschluss trägt zur Aufrechterhaltung der Agoraphobie bei. Das durchschnittliche Alter für das Auftreten von Agoraphobie liegt bei 17 Jahren; zu einem zweiten Ausbruchsgipfel kommt es zwischen 25 und
3 Grundlagen der Panikstörung, Agoraphobie, spezifischen Phobien und Trennungsangst 19 Kasten 3: Diagnostische Kriterien für Agoraphobie nach DSM-5 (Abdruck erfolgt mit Genehmigung aus der deutschen Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition 2013, Dt. Ausgabe: 2015, American Psychiatric Association. Alle Rechte vorbehalten) Agoraphobie (F40.00) A. Ausgeprägte Furcht oder Angst vor zwei (oder mehr) der folgenden fünf Situationen: 1. Benutzen öffentlicher Verkehrsmittel (z. B. Autos, Busse, Züge, Schiffe, Flugzeuge). 2. Auf offenen Plätzen sein (z. B. Parkplätze, Marktplätze, Brücken). 3. In geschlossenen Räumen sein (z. B. Geschäfte, Theater, Kino). 4. Schlange stehen oder in einer Menschenmenge sein. 5. Allein außer Haus sein. B. Diese Situationen werden gefürchtet oder vermieden, weil eine Flucht schwierig sein könnte, oder weil im Falle panikartiger Symptome oder anderer stark beeinträchtigender oder peinlicher Symptome (z. B. Furcht vor dem Fallen bei älteren Menschen; Furcht vor Inkontinenz) Hilfe nicht erreichbar sein könnte. C. Die agoraphobischen Situationen rufen fast immer eine Furcht- oder Angstreaktion hervor. D. Die agoraphobischen Situationen werden aktiv vermieden, können nur in Begleitung aufgesucht werden oder werden unter intensiver Furcht oder Angst durchgestanden. E. Die Furcht oder Angst geht über das Ausmaß der tatsächlichen Gefahr durch die agoraphobischen Situationen hinaus und ist im soziokulturellen Kontext unverhältnismäßig. F. Die Furcht, Angst oder Vermeidung ist andauernd, typischerweise über 6 Monate oder länger. G. Die Furcht, Angst oder Vermeidung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. H. Falls ein anderer medizinischer Krankheitsfaktor vorliegt (z. B. Colitis Ulcerosa, Morbus Crohn, Morbus Parkinson), so ist die Furcht, Angst oder Vermeidung deutlich ausgeprägter, als dies normalerweise bei diesem medizinischen Krankheitsfaktor zu erwarten wäre. I. Die Furcht, Angst oder Vermeidung kann nicht besser durch die Symptome einer anderen psychischen Störung erklärt werden. Zum Beispiel sind die Symptome nicht auf eine Spezifische Phobie vom Situativen Typ beschränkt. Das Symptommuster tritt nicht nur in sozialen Situationen auf (wie bei Sozialer Angststörung) und steht nicht ausschließlich im Zusammenhang mit Zwängen (wie bei Zwangsstörung), subjektiv wahrgenommenen Mängeln oder Makeln in der körperlichen Erscheinung (wie bei Körperdysmorpher Störung), Erinnerungen an traumatische Ereignisse (wie bei Posttraumatischer Belastungsstörung) oder Furcht vor Trennungen (wie bei Störung mit Trennungsangst). Beachte: Agoraphobie wird ungeachtet des Vorhandenseins einer Panikstörung diagnostiziert. Wenn eine Person die Kriterien für Panikstörung und Agoraphobie erfüllt, sollten beide Diagnosen vergeben werden. 29 Jahren (vgl. DSM-5). Agoraphobie ist eher selten bei Kindern; das kann aber auch daran liegen, dass Kinder Schwierigkeiten haben, Angstsymptome zu benennen. Aus diesem Grund sollten weitere Informationsquellen (Eltern, Lehrer) erschlossen werden. Jungen sind meistens nicht bereit, über Angst oder Flucht- und Vermeidungsverhalten zu reden. Unbehandelt bleibt Agoraphobie sehr beharrlich. Spontane Remissionen liegen nur bei 10 %. Erfolgreich behandeln lässt sie sich in über 80 % der Fälle (vgl. DSM-5). Bei schwerer Agoraphobie ist die Rückfallrate höher, die Chronizität nimmt zu und es kommt vermehrt zu depressiven Störungen und Substanzmittelmissbrauch, wodurch der Angstverlauf erschwert wird. Kinder mit Agoraphobie fürchten sich besonders häufig davor, alleine von zu Hause weg zu sein, agoraphobische Erwachsene am meisten vor Einkäufen, im Laden in der Schlange zu stehen oder auf offenen Plätzen zu sein (vgl. DSM-5).
4 20 Kapitel 1 Agoraphobie ist mehr als alle anderen Angststörungen genetisch determiniert: Im DSM-5 wird die Vererbbarkeit von Agoraphobie mit 61 % angegeben. Zu den inzwischen bekannten Risikofaktoren für Agoraphobie und Panikstörung gehört ein Gen mit der Bauanleitung für das Enzym Monoamino-Oxydase A (MAOA); eine Variante davon ist ein sogenanntes Risiko-Gen, das die MAO-Aktivität erhöht und Ängste begünstigt (Reif et al., 2014). Ganz unabhängig davon, ob auch eine Panikstörung vorliegt, kann Agoraphobie zu einer starken Beeinträchtigung im Alltag, Schul- und Berufsleben führen (ein Drittel der erwachsenen Agoraphobiker sind ans Haus gebunden und arbeitsunfähig; viele agoraphobische Jugendliche bleiben der Schule fern). Komorbide Störungen bei Agoraphobie sind meistens weitere Angststörungen, besonders häufig Panikstörung. Es können aber auch Depressionen, PTBS und/oder Substanzmittelabusus sein. Einer Agoraphobie gehen oft Trennungsangst, spezifische Phobien und Panikstörung voraus. Als sekundäre Störungen treten am häufigsten Depressionen und Substanzmittelmissbrauch auf Spezifische Phobien Die einzelnen Symptome einer spezifischen Phobie nach DSM-5 sind im Kasten 4 dargestellt. Im DSM-5 wird jeder phobische Inhalt eigens verschlüsselt. 75 % der Personen, die zu spezifischen Phobien neigen, fürchten sich vor mehr als einer Situation oder einem Objekt; die meisten haben im Durchschnitt drei spezifisch phobische Ängste. Kleinkinder fürchten sich häufig vor fremden Personen, Dunkelheit, lauten Geräuschen, kleinen Tieren und imaginären Wesen. Gibt es mehr als einen phobischen Reiz, werden alle entsprechend den DSM-5-Kodierungen genannt (hat z. B. eine Person Angst vor Gewitter und dem Fliegen, wird spezifische Phobie, natürliche Umwelt und spezifische Phobie, situativ, diagnostiziert). Spezifische Phobien sind universell und kommen in jeder Kultur vor. Durch die Evolution ist der Mensch wahrscheinlich für bestimmte phobische Angstinhalte disponiert (z. B. für Schlangen, Ratten, Höhen oder für Naturgewalten wie Gewitter). Weil diese Angstinhalte besonders verbreitet sind, liegt die Vermutung nahe, dass phobische Ängste einmal adaptiv waren und für das Überleben der Menschen gesorgt haben (Leahy, 2009). Personen mit spezifischer Phobie erleben sowohl bei der Vorstellung (Imagination) von Angst als auch bei der Konfrontation mit dem gefürchteten Objekt oder der Situation eine Zunahme an physiologischer Erregung. Aktuelle psychoneurologische Modelle für spezifische Phobien betonen die Bedeutung der Amygdala (vgl. DSM-5). Die Phobien werden durch Vermeidungsverhalten aufrechterhalten. Infolge von kognitiven Verzerrungen kann es zu situationsspezifischen Panik attacken kommen. Die körperliche Reaktion auf gefürchtete Situationen oder Objekte ist bei den meisten Spielarten von spezifischer Phobie eine Sympathikusreaktion. Nur bei der Variante spezifische Blut-Spritzen-Verletzungs-Phobie, die oft durch die Wahrnehmung von Blut oder bei medizinischen Anwendungen ausgelöst wird, kann eine vasovagal (gefäßerweiternd und somit parasympathisch) bedingte Ohnmachts- oder Ohnmachtsnähereaktion vorkommen; sie geht mit kurzer heftiger Herzbeschleunigung und Blutdruckanstieg zu Beginn, gefolgt von extremer Abnahme der Herzschlagrate und des Blutdrucks einher (vgl. DSM-5). Zwei mögliche, evolutionär bedeutsame Funktionen der parasympathischen Reaktion sind denkbar (Leahy, 2009): Einmal würde die mit der Gefäß erweiterung einhergehende Blutdruckabnahme in gefährlichen Situationen größeren Blutverlust bei Verletzung verhindern. Zum anderen könnte aus Überlebensgründen dem Feind auch der Tod oder eine körperliche Unfähigkeit vorgetäuscht werden. Schwierig ist mitunter die differenzialdiagnostische Abgrenzung der spezifischen Phobie zur Agoraphobie. Fürchtet sich jemand nur vor einer agoraphobischen Situation (vgl. A-Kriterium bei Agoraphobie), wird spezifische situative Phobie diagnostiziert. Fürchtet sich die Person vor zwei oder mehr Situationen (wie Fliegen, Fahrstühle und Menschenmengen), trifft das Kriterium B von Agoraphobie zu, also die Befürchtung, dass eine Flucht besonders schwierig oder Hilfe nicht verfügbar wäre; dann ist Agoraphobie zu diagnostizieren. Agoraphobische Angst wird wie panische
5 Grundlagen der Panikstörung, Agoraphobie, spezifischen Phobien und Trennungsangst 21 Kasten 4: Diagnostische Kriterien für die Spezifische Phobie nach DSM-5 (Abdruck erfolgt mit Genehmigung aus der deutschen Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition 2013, Dt. Ausgabe: 2015, American Psychiatric Association. Alle Rechte vorbehalten) Spezifische Phobie (F40.2) A. Ausgeprägte Furcht oder Angst vor einem spezifischen Objekt oder einer spezifischen Situation (z. B. Fliegen, Höhen, Tiere, eine Spritze bekommen, Blut sehen). Beachte: Bei Kindern kann sich die Furcht oder Angst durch Weinen, Wutanfälle, Erstarren oder Anklammern ausdrücken. B. Das phobische Objekt oder die phobische Situation ruft fast immer eine unmittelbare Furcht oder Angstreaktion hervor. C. Das phobische Objekt oder die phobische Situation wird aktiv vermieden bzw. nur unter starker Furcht oder Angst ertragen. D. Die Furcht oder Angst geht über das Ausmaß der tatsächlichen Gefahr durch das spezifische Objekt oder die spezifische Situation hinaus und ist im soziokulturellen Kontext unverhältnismäßig. E. Die Furcht, Angst oder Vermeidung ist anhaltend, typischerweise über 6 Monate oder länger. F. Die Furcht, Angst oder Vermeidung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen. G. Das Störungsbild kann nicht besser durch die Symptome einer anderen psychischen Störung erklärt werden. Dies umfasst Furcht, Angst und Vermeidung von Situationen, die mit panikartigen Symptomen oder anderen bedrohlich erscheinenden beeinträchtigenden Symptomen assoziiert sind (wie bei Agoraphobie); Objekten oder Situationen, die mit Zwangsinhalten verbunden sind (wie bei Zwangsstörung); Erinnerungen an traumatische Ereignisse (wie bei Posttraumatischer Belastungsstörung); Trennungen von Zuhause oder Bezugspersonen (wie bei Störung mit Trennungsangst); oder sozialen Situationen (wie bei Sozialer Angststörung). Bestimme, ob: Codierung entsprechend dem phobischen Stimulus: F Tier-Typ (z. B. Spinnen, Insekten, Hunde). F Umwelt-Typ (z. B. Höhen, Stürme, Wasser). F40.23x Blut-Spritzen-Verletzungs-Typ (z. B. Injektionsnadeln, invasive medizinische Verfahren). Codierhinweis: Wähle die spezifische ICD-10-CM-Codierung wie folgt: F Furcht vor Blut; F Furcht vor Spritzen und Transfusionen; F Furcht vor Anderen Medizinischen Behandlungen; oder F Furcht vor Verletzungen. F Situativer Typ (z. B. Flugzeuge, Fahrstühle, enge, geschlossene Räume). F Anderer Typ (z. B. Situationen, die zu Ersticken oder Erbrechen führen könnten; bei Kindern z. B. laute Geräusche oder kostümierte Figuren). Codierhinweis: Wenn mehr als ein phobischer Stimulus vorliegt, codiere alle ICD-10-Codierungen, die zutreffen (z. B. für die Furcht vor Schlangen und dem Fliegen, F Spezifische Phobie, Tier- Typ, und F Spezifische Phobie, Situativer Typ). Angst von existenziell bedrohlichen Katastrophenvorstellungen gesteuert (Ohnmacht, Sterben, Verrücktwerden). Befürchtet die Person hingegen, die Situation selber sei gefährlich, wird spezifische Phobie diagnostiziert (z. B. könnte der Blitz einschlagen, das Flugzeug abstürzen, das gefürchtete Insekt, die Schlange oder der Hund beißen). Einige spezifische Phobiker haben bestimmte Si-
6 22 Kapitel 1 tuationen oder Objekte als gefährlich erlebt; andere haben nur davon gehört, dass sie gefährlich wären (vgl. DSM-5) Trennungsangst In der ICD-10 (WHO/Dilling et al., 2016) ist Trennungsangst (F93.0) eine emotionale Störung des Kindes- und Jugendalters und wird bis zum Alter von 18 Jahren diagnostiziert, im DSM-5 sogar über die gesamte Lebensspanne hinweg. Trennungsängstliche Personen leiden übertrieben unter der Trennung von Bezugspersonen oder ihrem Zuhause (wenn sie woanders übernachten, verreisen), weil sie der irrationalen Überzeugung sind, dass Nahestehende (oder sie selbst) in Gefahr wären (sie befürchten Erkrankung, Verletzung, Kidnapping, Verlorengehen, Hausbrand, Unfall, Mord oder andere Katastrophen). Deshalb gehen sie entweder gar nicht oder nur ungern alleine von zu Hause weg. Riskieren sie es dennoch, wollen sie unbedingt wissen, wo sich die Bezugspersonen aufhalten, um sich jederzeit mit ihnen in Verbindung setzen zu können. Trennungsängstliche Kinder klammern sich an ihre Eltern und mögen es z. B. nicht oder weigern sich, alleine schlafen zu gehen. Sie wollen, dass eine vertraute Bezugsperson bei ihnen schläft oder in der Nähe ist. Viele verbringen die Nacht im Bett der Eltern, weil sie sich im eigenen Bett nicht sicher fühlen. Einige klagen über wiederholte Alpträume zu Trennungsthemen, etliche stehen nachts auf, um die Anwesenheit der Eltern zu kontrollieren oder um bei ihnen zu schlafen. Manche weigern sich, ohne Bezugsperson alleine zur Schule oder auf Klassenfahrt zu gehen. Oft vermeiden sie sportliche und andere außerfamiliäre Aktivitäten. Im Extremfall lassen sie ihre Eltern auch zu Hause nicht aus den Augen, folgen ihnen auf Schritt und Tritt, verlangen ständig Zuwendung und verweigern Babysitter. Für die Angehörigen ist das mühsam und frustrierend. Wesentliche Funktion der Trennungsangst ist somit die Vermittlung von Sicherheit durch die Nähe zu Familienmitgliedern. Steht eine Trennung unmittelbar bevor, können trennungsängstliche Kinder in heftige physiologische Erregung geraten und panisch reagieren mit Weinen, Schreien und Anklammern an einen Elternteil. In ihrer Erregung sehen trennungsängstliche Kinder manchmal fremde Personen im Zimmer, beängstigende Kreaturen und Monster, die auf sie zukommen, oder Augen, die sie anstarren. Bei bevorstehender oder tatsächlicher Trennung (von zu Hause oder von Bezugspersonen) kommt es oft zu körperlichen Symptomen wie Kopf- und Bauchschmerzen, Übelkeit und Erbrechen. Kardiovaskuläre Symptome wie Herzrasen, Schwindel und Ohnmachtsgefühle nennen Kinder seltener, Jugendliche und Erwachsene dagegen häufiger. Werden trennungsängstliche Kinder von einer geliebten Person getrennt, reagieren viele mit sozialem Rückzug, Apathie, Traurigkeit und Konzentrationsproblemen, manchmal auch mit Selbstmordgedanken (vgl. DSM-5, APA/Falkai et al., 2015). Trennungsangst gehört zu der normalen Entwicklung von Kleinkindern (zwischen dem 7. und 12. Monat kommt es verstärkt zu Fremdeln, vgl. Tabelle 1, Seite 14). Zur Angststörung mutiert sie meist im Vorschulalter, wenn es zur ersten Trennung von Angehörigen kommt (z. B. durch den Kindergartenbesuch) und sie sich Sorgen machen über eine mögliche Gefährdung der Eltern. Viele trennungsängstliche Kinder sind noch als Jugendliche und Erwachsene besonders personenabhängig und auf Sicherheit bedacht und tun sich schwer, kritische Lebensereignisse wie den Tod eines Verwandten oder eines Haustiers, einen Schulwechsel oder die Trennung der Eltern zu verkraften. Die Toleranz für Trennungsangst ist kulturabhängig (vgl. DSM-5). Um die Diagnose nach den DSM-5-Kriterien stellen zu können, muss Trennungsangst bis zum Alter von 18 Jahren mindestens vier Wochen und länger, später im Erwachsenenalter sechs Monate und länger bestehen. Die Störung kann zu Beeinträchtigungen im sozialen, schulischen und beruflichen Bereich führen. Es gibt Perioden mit Verschlimmerung und Remission. Dem DSM-5 zufolge haben 4 % der US-amerikanischen Kinder Trennungsangst (6- bis12-monats- Prävalenz), 1,6 % der Jugendlichen (12-Monats- Prävalenz) und 0,9 bis 1,9 % der Erwachsenen (12-Monats-Prävalenz). Trennungsangst wird wie phobische Angst behandelt (vgl. DSM-5). Trennungsangst ist ein Risiko für weitere psychische Störungen im Kindesalter (Brückl et al., 2006; Lewinsohn et al., 2008) wie spezifische Phobien, GAS, PTBS, Panikstörung, soziale Angststörung, Agoraphobie, Zwangsstörung und Persönlichkeitsstörung (vgl. DSM-5).
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