Verkehr, der trennt und verbindet Mobilität und Volksabstimmungen in der Schweiz und anderswo
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- Adam Fischer
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1 Verkehr, der trennt und verbindet Mobilität und Volksabstimmungen in der Schweiz und anderswo Referat am Kundenanlass PostAuto Schweiz, Bern, 15. November 2012 Claude Longchamp, Institutsleiter gfs.bern, Lehrbeauftragter an den Universitäten St. Gallen, Zürich und Bern, Wahl- und Abstimmungsanalytiker der SRG Medien gfs.bern, 15. November
2 Mein Poschi 1999 Zügeln von Bern nach Hinterkappelen, seither nutze ich (fast) jeden Tag das Postauto, Linie Nr Da Hinterkappelen Dorf kein Restaurant hat, ist das Poschi ein zentraler Ort des Austausches. Gelegentlich werden die Fahrten durch Staus erschwert, denn ich bin ein typischer Nutzer des Postautos im Agglomerationsverkehr. 2
3 Stuttgart '21 Verkehrs- und Städtebauprojekt zur Neuordnung des Eisenbahnknotens Stuttgart. Kernstück ist der Umbau des Kopfbahnhofes Stuttgart Hauptbahnhof in einen Durchgangsbahnhof. Hinzu kommen Neubaustrecken, um dem Verkehrsaufkommen im 21. Jahrhundert zu genügen. Bauherr des Projekts ist die Deutsche Bahn. Die Bundesrepublik Deutschland, das Land Baden-Württemberg, der Verband Region Stuttgart, die Landeshauptstadt Stuttgart, der Flughafen Stuttgart sowie die Europäische Union beteiligen sich an der Finanzierung. Das Projekt ist seit Jahren umstritten. Am Protest dagegen beteiligten sich zehntausende Menschen. Ein Bürgerbegehren gegen das Projekt wurde 2007 abgelehnt. Eine Schlichtung im Oktober und November 2010 schlug mögliche Verbesserungen vor, überzeugte Kritiker aber nicht. Geschlichtet werden konnte der Konflikt nur noch durch eine Volksabstimmung über den Ausstieg des Landes Baden-Württemberg aus dem Projekt. 3
4 Ergebnis der Volksabstimmung vom 27. November 2012 nach Kreisen Wahlberechtigte: 7,6 Millionen von 10,7 Millionen Einwohnern des Landes Baden-Württemberg Wahlbeteiligung: 48,3 Prozent; am höchsten wahr sie in Stuttgart und Umgebung. Wahlergebnis: Mit 58,9 Prozent der Stimmen wurde die Gesetzesvorlage abgelehnt ( Nein ). Die Mehrheit entschied sich damit gegen die Ausübung der Kündigungsrechte des Landes bezüglich des Bahnprojekts Stuttgart 21. 4
5 Vertiefte Analyse "Stuttgart '21" Wahlbeteiligung Zustimmung unter Wahlberechtigten 5
6 Das Nimby-Phänomen Entscheidungen zu Grossprojekten, die für eine Mehrheit einen Nutzen bringen, für eine Minderheit aber einen Schaden mit sich ziehen, folgen bei Volksabstimmungen häufig dem Nimby-Phänomen. Das lässt sich bei Volksabstimmungen auch in der Schweiz, etwa zur Flughafenerweiterungen, aber auch beim Bahnausbau zeigen. Dabei stehen sich regelmässig Vorteile für alle Verkehrsteilnehmer einerseits, Nachteile durch Betroffene von Infrastrukturvorhaben andererseits gegenüber. Englisch für Not In My Back Yard (Dt.: Nicht in meinen Garten, gelegentlich auch St. Florians-Prinzip: Heiliger Sankt Florian / Verschon mein Haus / Zünd andre an! Begriff, seit 1980 verwendet, um eine Position in politischen Entscheidungen zu kennzeichnen, die darauf bedacht ist, Probleme nicht im unmittelbaren Umfeld zu ertragen. 6
7 Volksabstimmungen in der Schweiz Bundesstaat von 1848 Repräsentative Demokratie mit Parlaments-, nicht aber Regierungswahl Volkabstimmung für die 1. Bundesverfassungen (oblig. Verfassungsreferendum), weitere nicht vorgesehen (Angst der Mehrheit vor Verfassungsänderungen) 1866 Erste kleine Verfassungsrevision (oblig. Verfassungsreferendum) 1874 Referendumsdemokratie (Einführung des fakultativen Gesetzesreferendum für Parlamentserlasse) 1891 Direkte Demokratie mit Volksinitiative und Referendum 7
8 Eisenbahngeschichte der Schweiz Alfred Escher, Eisenbahn-Baron 1849: Beginn der Parlamentsverhandlungen zum ersten bundesweiten Eisenbahngesetz ( grosser Nationalbau ) 1852: Mehrheit von National- und Ständerat entscheiden sich für den privaten Eisenbahnbau: private Eigentümer kantonaler Konzession, Bundesüberwachung Gründe: Antizentralistischer Reflex, der mit dem Postgesetz in der Zentral- und Westschweiz entstanden war; Prioritätensetzung durch Bundesrat gefiel in Kantonen ohne Linienführung nicht 1854: Eröffnung privater Linien, rascher Ausbau des ersten Eisenbahnnetzes; 1859 bereits 1000 Kilometer 1882: Eröffnung Gotthard-Tunnel (mit Verspätung gegenüber Österreich (Semmering 1857, Brenner 1867), Frankreich und Italien (Mont Cenis 1871) 8
9 Demokratische Bewegung Gedenkblatt für die revidierte Bundesverfassung von 1874 Im Bundesparlament war seit 1848 das Wirtschaftsbürgertum übervertreten. Dagegen entstand ab 1860 eine Opposition aus Proletariern, Bauern, Kleinbürgern, Lehrern, Ärzten und Advokaten. Die revisionistischen Kräfte forderten eine Beschränkung der Macht des Freisinns durch direktdemokratische Elemente, nicht zuletzt, weil sich das Petitionsrecht als stumpf erwiesen hatte. Der Forderungskatalog enthielt unter anderem das obligatorische und das fakultative Referendum, Direktwahl der Exekutive, das Initiativrecht. Erfolgreich waren die Bemühungen zuerst in verschiedenen Kantonen, später bundesweit mit der Verfassungsrevision von Mit dieser wurde das Referendumsrecht resp. die Referendumsdemokratie eingeführt. Nach der erfolgreichen Volksabstimmung entstand in verschiedenen Kantonen die Demokratische Partei, die namentlich in Winterthur/im Kanton Zürich eine Hochburg hatte. Die Partei trat ab 1941 auf Bundesebene selbstständig auf und vermittelte die Regierungsbeteiligung der SP in den meisten Kantonen mit der BGB zur SVP fusioniert wurde die Bündner SVP mit stark demokratischen Tendenzen aus der Mutterpartei ausgeschlossen. 9
10 Joseph Zemp, erster KK-Bundesrat Joseph Zemp ( ) Politische Karriere Mitglied des Grossen Rates des Kantons Luzern an Luzerner Ständerat sowie Mitglied des Nationalrates; 1887 Nationalratspräsident Bundesrat (mit 129 von 154 Stimmen gewählt), erster Vertreter der Vertreter der Katholisch-Konservativen (der heutigen CVP) Positionen Ursprünglich Anwalt der Eisenbahngegner, als Bundesrat Vorsteher des Post- und Eisenbahndepartementes 1894: Einführung der mitteleuropäischen Zeit in der Schweiz 1898: Referendum des antietatistischen Flügels der KK gegen den eigenen Bundesrat, scheitert in der Volksabstimmung 1902: Gründung SBB, Übernahme zentraler Privatbahngesellschaften 10
11 SBB-Volksabstimmung 1902 Ergebnisse Stimmberechtigte: 734'644 Abgegebene Stimmen: 573'565 Beteiligung: 78.1% Leer: 2'754 Ungültig: 1'459 Gültig: 569'352 Ja: 386'634 Anteil: 67.9% Nein: 182'718 Anteil: 32.1% 11
12 Von Volksentscheidungen im repräsentativen zu solchen im halbdirektdemokratischen System 1987: positiver Volksentscheid zu Bahn 2000 (Qualitätssteigerung durch Beschleunigung und Verdichtung, 6 Mia Investitionsprogramm) 1992: positiver Volksentscheid zum Alpentransit-Beschluss ( NEAT ), als Bestandteil des Transitabkommen mit der EU 1994: positiver Volksentscheid zur Alpeninitiative, mit der der alpenquerende Transitverkehr von der Strasse auf die Schiene verlagert werden soll. 1998: positiver Volksentscheid zur FinOeV-Vorlage, mit der die Finanzierung des Ausbaus der Eisenbahn-Infrastruktur sicher gestellt werden soll. 2000: Zustimmung zu den Bilateralen Verträgen mit der EU, für die der Ausbau des Eisenbahnnetzes seitens der EU eine zentrale Voraussetzung war resp. was die Einführung der Schwerverkehrabgabe aus EU-Sicht erst ermöglichte. 12
13 Konzept Bahn Ergebnisse: Stimmberechtigte: 4'250'684 Abgegebene Stimmen: 2'027'274 Beteiligung: 47.7% Leer: 22'635 Ungültig: 2'889 Gültig: 2'001'750 Ja: 1'140'857 Anteil: 57.0% Nein: 860'893 Anteil: 43.0% 13
14 Neat Beschluss 1992 Ergebnisse: Stimmberechtigte: 4'533'617 Abgegebene Stimmen: 2'080'785 Beteiligung: 45.9% Leer: 24'945 Ungültig: 2'878 Gültig: Ja: 2'052'962 1'305'914 Anteil: 63.6% Nein: 747'048 Anteil: 36.4% 14
15 Alpeninitiativen 1994 Ergebnisse Stimmberechtigte: 4'567'57 3 Abgegebene Stimmen: 1'865'11 1 Beteiligung: 40.8% Leer: 23'436 Ungültig: 2'822 Gültig: 1'838'85 3 Ja: 954'491 Anteil: 51.9% Nein: 884'362 Annehmende Kantone: Anteil: 48.1% Die statistisch plausibilisierten Ergebnisdaten des Bundesamts für Statistik können von den amtlich verbindlichen Ergebnissen der Bundeskanzlei leicht abweichen. Kantone: 13 6 / 2 ZH, BE, LU, UR, SZ, OW, NW, GL, ZG, SO, BS, BL, SH, AR, AI, SG, GR, TG, TI Ablehnende Kantone: 7 FR, AG, VD, VS, NE, GE, JU 15
16 FinOeV 1998 Ergebnisse Stimmberechtigte: 4'638'920 Abgegebene Stimmen: 1'777'023 Beteiligung: 38.3% Leer: 32'150 Ungültig: 5'865 Gültig: 1'739'008 Ja: 1'104'294 Anteil: 63.5% Nein: 634'714 Annehmende Kantone: Anteil: 36.5% Die statistisch plausibilisierten Ergebnisdaten des Bundesamts für Statistik können von den amtlich verbindlichen Ergebnissen der Bundeskanzlei leicht abweichen. Kantone: 19 3 / 2 ZH, BE, LU, UR, SZ, NW, GL, ZG, FR, SO, BS, BL, SH, SG, GR, AG, TI, VD, VS, NE, GE, JU Ablehnende Kantone: Erforderliche Mehrheit: 1 3 / 2 OW, AR, AI, TG Volks- und Ständemehr 16
17 Verkehrstechnische Bilanz zu Eisenbahnen in der Schweiz Beim Stand von 2010 hat die Schweiz mit Kilometern auf einer Fläche von km², abgesehen von den Stadtstaaten Monaco und Vatikanstaat, gemeinsam mit der Tschechische Republik das dichteste Eisenbahnnetz der Welt. Seit 1. März 2001 ist der Netzzugang zum Schweizer Schienennetz frei, zunächst für inländische Eisenbahnverkehrsunternehmen. Die zukünftige Entwicklung der Bahninfrastruktur ist Teil der Botschaft zur "Gesamtschau FinöV". Auf Nachfrageprognosen beruhend, wird mit einem Planungshorizont 2030 ein Ausbau des Normalspurnetzes vorgeschlagen. 17
18 Vom Umgang mit Nimby-Phänomenen bei der Realisierung von Grossprojekten Volksentscheidungen zu Grossprojekten zeigen häufig Nimby-Phänomene. Die Problematik kann auf drei Arten gelöst werden: Veto-Recht der Betroffenen, mit dem Nachteil, dass das Prinzip «one man, one vote» durchbrochen wird. Grosser Rayon an Entscheidern, mit dem Nachteil, dass der Minderheitenschutz ausgehebelt wird. Vorgängige Entschärfung des Konfliktpotenzials durch Betroffenenpartizipation in der Planung und Volksentscheidung vor Baubeginn. 18
19 Lernen von der Schweiz Schweiz des 19. Jahrhunderts: Aufbau direktdemokratischer Institutionen: Probleme mit Grossprojekten im Verkehrsbereich haben die Weiterentwicklung des repräsentativen Systems massgeblich mitgestaltet. Das Referendumsrecht ist eine direkte Folge des Konflikts rund um den Eisenbahnbau, ebenso wie die Idee des überparteilichen Bundesrats eine Folge des Referendumsrechts ist. Schweiz des 20./21 Jahrhundert: Direktdemokratische Institutionen haben sich etabliert: Grossprojekte im Verkehrsbereich können mit direktdemokratischer Legitimation realisiert werden, wenn im Vorfeld der Entscheidung genügend regionale Interessen berücksichtigt werden und die Opposition der Betroffenen entschärft wird. 19
20 Die Politik des Postautoverkehrs 2006: Die Linie Nr. 100, von Bern nach Detligen und zurück, feiert in Aarberg ihr 100jährigen Bestehen; sie ist die älteste Postautolinie der Schweiz. Die Politik des Postautoverkehrs in der Schweiz ist eine Erfolgsgeschichte, denn es gelang, ihn vom Überland- und Passverkehr in die urbanen Agglomerationen hinein auszubauen, ohne dass es zu grossen politischen Auseinandersetzungen gekommen ist. 20
21 Auf Wiedersehen und danke für Ihre Aufmerksamkeit Claude Longchamp gfs.bern Verwaltungsratspräsident und Institutsleiter gfs.bern Lehrbeauftragter der Universitäten SG und ZH 21
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