WZBrief Zivil- Engagement. Abseits in der Zivilgesellschaft Lobby und Engagement Arbeitsloser sind schwach WZB

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Transkript:

WZB Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung WZBrief Zivil- Engagement 04 Oktober 2011 Abseits in der Zivilgesellschaft Lobby und Engagement Arbeitsloser sind schwach Britta Baumgarten Wer keine Arbeit hat, engagiert sich seltener. Initiativen sind eher beratend als politisch aktiv. Protest erheben fast nur Betroffene und ihr direktes Umfeld. Alle bisher erschienenen Briefe sind zu finden unter: www.wzb.eu/wzbriefzivilengagement

Abseits in der Zivilgesellschaft Lobby und Engagement Arbeitsloser sind schwach Britta Baumgarten Die Zahl der Arbeitslosen sinkt. Nach der Statistik der Bundesagentur für Arbeit waren im Mai 2011 jedoch immer noch 2,96 Millionen Menschen auf Arbeitssuche. Trotz dieser beträchtlichen Zahl kommen Erwerbslose im politischen Diskurs allenfalls als Gruppe vor, über die gesprochen wird; ein Dialog mit ihnen findet nicht statt. An der Marginalisierung von Erwerbslosen in der politischen Entscheidungsfindung änderten auch deren starke Proteste im Jahr 2004 wenig. Warum ist eine so große Gruppe so wenig präsent in der Öffentlichkeit und übt kaum Einfluss auf politische Entscheidungen aus? Warum sind Erwerbslose relativ schwach politisch organisiert, und welche Organisationsstrukturen und -kulturen hemmen ihr politisches Engagement? Für wen engagieren sich ältere Menschen? Engagement von Erwerbslosen Arbeitslose Menschen sind am wenigsten in die Infrastruktur der Zivilgesellschaft einbezogen, fasst Thomas Gensicke im Freiwilligensurvey 2009 zusammen. Während 74 Prozent der Erwerbstätigen laut Freiwilligensurvey im Jahr 2009 in mindestens einer zivilgesellschaftlichen Gruppe oder Organisation aktiv waren, lag der Wert bei den Arbeitslosen nur bei 57 Prozent. Begründet werden diese niedrigen Aktivitätsquoten durch den oft niedrigeren Bildungsstatus von Erwerbslosen und ihre ungünstige materielle, soziale und psychische Gesamtsituation. Dieser Befund wird durch die extrem niedrige Quote von 12 Prozent Engagierten unter den Langzeitarbeitslosen (ALG 2) mit geringem Bildungsstatus bekräftigt. Das Kriterium einer geringeren gesellschaftlichen Integration Erwerbsloser, gemessen an den genannten Indikatoren, ist für die Frage nach der Organisation von gemeinsamen politischen Interessen zu grob. Denn zur zivilgesellschaftlichen Infrastruktur zählen viele Bereiche, die mit politischer Interessenvertretung nichts zu tun haben. Um das Ausmaß des politischen Engagements von Erwerbslosen einschätzen zu können, betrachten wir deshalb zunächst nur einen der 14 im Freiwilligensurvey abgefragten Teilbereiche, 1 in denen zivilgesellschaftliches Engagement stattfindet: den Bereich der politischen Interessenvertretung, zu dem etwa das Engagement in einer Partei, im Gemeinderat oder Stadtrat, in politischen Initiativen oder Solidaritätsprojekten zählt. Dort engagieren sich Erwerbslose mit nur 1 Prozent (gegenüber 3 Prozent aller Befragten) ebenfalls unterdurchschnittlich häufig. Auch eine Betrachtung von politischen Aktivitäten (siehe Tabelle) zeigt geringere Werte für Erwerbslose. Der Anteil Erwerbsloser, die bereits ein politisches Amt oder politische Verantwortung übernommen haben, ist nur etwa halb so hoch wie der Anteil aller Befragten. Die Unterschiede zwischen Erwerbslosen und der Gesamtbevölkerung bei der Demonstrationsteilnahme sind vergleichsweise gering aber überraschen doch. Schließlich kann angenommen werden, dass mit den sozialstaatlichen Kürzungen Erwerbslose in den letzten Jahren viele Gründe zu protestieren gehabt hätten (siehe Tabelle 1). Wie groß der Anteil der Erwerbslosen ist, der speziell für die Interessen von Erwerbslosen demonstriert hat, ist aus den Daten nicht zu ersehen. 2

Frage: Es gibt verschiedene Möglichkeiten, politisch aktiv zu sein. Welche der folgenden Dinge haben Sie bereits getan? Erwerbslose in Prozent Befragte in Prozent Ein politisches Amt oder anderweitige politische Verantwortung übernommen 4 9 Bei Unterschriftensammlungen für politische Ziele unterschrieben 42 53 Sich an einer Demonstration beteiligt 28 33 Sich an einer Bürgerinitiative beteiligt 21 27 An einer Bürgerversammlung in Ihrem Ort oder in Ihrem Ortsteil teilgenommen 27 41 Daten: Freiwilligensurvey 2009, Frage E25, eigene Auswertungen Dass diese niedrigen Zahlen auch durch Ausgrenzungsprozesse auf Seiten der zivilgesellschaftlichen Gruppen bedingt sind, zeigt eine Studie von Chantal Munsch aus dem Jahr 2005. Erwerbslose engagieren sich demnach zum einen gerne unter ihresgleichen. Zum anderen werden Menschen, die dem Ideal von Effektivität und Planung entgegenstehen, oft unbewusst von anderen Engagierten ausgeschlossen. Für Erwerbslose bestehen beispielsweise größere Schwierigkeiten, sich in den Praktiken von Arbeitstreffen zurechtzufinden, weil diese nicht zu ihrem Alltag gehören. Zudem steht für viele Erwerbslose das Ideal der Effizienz und Planung nicht an erster Stelle. Engagement bedeutet auch, mit Menschen in Kontakt zu treten und gemeinsam zu diskutieren Motivationen also, die für Erwerbslose, denen die alltäglichen Kontakte zu Arbeitskollegen fehlen, eine größere Bedeutung haben können. Zur Vertretung ihrer eigenen Interessen wird Erwerbslosen außerdem nur wenig Organisationspotenzial zugeschrieben. Sie gelten als heterogener, stark von Fluktuation betroffener Personenkreis mit unterschiedlichen Biografien, Interessen und Anschauungen. In Arbeitslosenprojekten etwa sind vorwiegend Langzeitarbeitslose engagiert, während andere Erwerbslose in der Regel erst nach individuellen Lösungen suchen. Es ist folglich schwierig, Arbeitslose zu gemeinsamem Engagement zu bewegen, eine gemeinsame Identität bzw. gemeinsame Strukturen aufzubauen oder personelle Kontinuität zu erreichen. Engagement für Erwerbslose Für die Frage, wer sich für Erwerbslose engagiert, ist der Freiwilligensurvey nur wenig aussagekräftig. Bei der Beschreibung ihrer zeitaufwendigsten Tätigkeit im Bereich des zivilgesellschaftlichen Engagements nennen 40 Prozent der Engagierten keine spezielle Zielgruppe ihres Engagements. Für Arbeitslose engagieren sich von 20.000 lediglich 32 Befragte, und 2 dieser 32 Personen sind selbst arbeitslos. 2 Als Zielgruppe für zivilgesellschaftliches Engagement sind Erwerbslose folglich wenig relevant. Zivilgesellschaftlich engagierte Erwerbslose selbst setzen sich laut Freiwilligensurvey 2009 wie der Durchschnitt aller Befragten vorwiegend für die Belange von Kindern und Jugendlichen, älteren Menschen und Familien ein. Eine organisierte Form des Engagements für Erwerbslose sind Erwerbsloseninitiativen, also Organisationen, die täglich mit Erwerbslosen in Kontakt stehen und in denen Arbeitslose vielfach auch selbst aktiv sind. Viele Initiativen blicken auf eine jahrzehntelange Geschichte zurück, die oft mit einer Abnahme der politischen In- 3

teressenvertretung in der Öffentlichkeit zugunsten professionalisierter Beratungsarbeit verbunden ist. Die ersten Gruppen, die sich ausschließlich mit Erwerbslosen beschäftigten, organisierten und finanzierten sich noch selbst und hatten ein strikt politisches Selbstverständnis. Mit steigenden Arbeitslosenzahlen in den 1980er und frühen 1990er Jahren begannen Kirchen, Gewerkschaften und unabhängige Erwerbsloseninitiativen mit der Organisation von Arbeitslosenprojekten. Die Initiativen sträubten sich zunächst gegen eine Institutionalisierung und lehnten die Einstellung hauptamtlicher Berater ab. Im Laufe der Jahre konzentrierten sie sich aber ebenfalls vermehrt auf Beratungstätigkeiten, Weiterbildungsangebote und andere spezielle Aktivitäten für Erwerbslose. Ihre politische Arbeit trat aufgrund fehlender finanzieller Mittel stark in den Hintergrund eine Entwicklung, die schon in der Vergangenheit oft kontrovers in den Erwerbsloseninitiativen diskutiert wurde und zu Konflikten führte. Neue Organisationen gründeten sich teilweise ganz ohne den Anspruch, Interessen von Erwerbslosen politisch zu vertreten. Proteste von Erwerbslosen Eine nicht formell organisierte Art der Interessenvertretung, die jedoch größtenteils auf die oben beschriebenen Organisationsstrukturen zurückgreift, ist der Straßenprotest. In Deutschland wurden Proteste Erwerbsloser seit den 1980er Jahren bis zum Jahre 2003 hauptsächlich mit Hilfe der Erwerbsloseninitiativen organisiert. Die Protestteilnehmer hatten meist schon länger Kontakt zu diesen Organisationen. Zahlreiche Aktivitäten konzentrierten sich auf die lokale Ebene. Es ging zum Beispiel um die Forderung nach verbilligten Fahr- oder Eintrittskarten. In der Regel blieb es bei einmaligen Aktionen. Erst 1998 ließ sich in Deutschland eine Protestwelle von monatlichen, deutschlandweiten Aktionen mit mehreren zehntausend Teilnehmern beobachten. Eine zweite Welle wurde durch Reformen der Bundesregierung im Jahre 2003 ausgelöst. Seit Juli 2004 gibt es wöchentliche Montagsdemonstrationen, die ihren Höhepunkt Ende August 2004 mit über 70.000 Teilnehmern in 200 deutschen Städten erreichten und wenn auch mit deutlich geringeren Teilnehmerzahlen bis heute in vielen Städten weitergeführt werden. Die Proteste seit 2003 wurden von einem breiten Bündnis von Organisationen und Zusammenschlüssen unterstützt. Die oben beschriebenen Erwerbsloseninitiativen, die überwiegend von einzelnen Erwerbslosen und ihnen nahestehenden Personen getragen wurden, spielen dabei nur noch eine Nebenrolle. Bei einer Befragung von Demonstrierenden im September 2004 in Berlin, Dortmund, Leipzig und Magdeburg lag der Anteil Erwerbsloser bei 43 Prozent, und 87 Prozent hatten einen von Erwerbslosigkeit Betroffenen in der Familie oder im engen Bekanntenkreis. Organisierte Vertretung von Interessen ist schwierig Der WZBrief Zivilengagement erscheint mehrmals im Jahr in unregelmäßigen Abständen. Er bietet knappe Analysen von WZB-Forscherinnen und -Forschern zu einem Thema aus dem Bereich Zivilengagement Der WZBrief Zivilengagement wird elektronisch versandt. Abonnieren unter: www.wzb.eu/de/presse/presseverteiler Erwerbslose sind tendenziell schwach in zivilgesellschaftliche Strukturen eingebunden. Als Zielgruppe für zivilgesellschaftliches Engagement spielen sie eine geringe Rolle, und sie engagieren sich selbst eher für andere Gruppen als für Erwerbslose. Sie definieren sich selten primär über ihren Erwerbsstatus und suchen tendenziell nach individuellen Lösungen, statt in organisierter Form für ihre Interessen einzutreten. In vielen Erwerbsloseninitiativen spielt die politische Interessenvertretung nur noch eine Nebenrolle, und Proteste von Erwerbslosen werden in der Öffentlichkeit kaum von Menschen unterstützt, die nicht zumindest im engen Kontakt mit Erwerbslosen stehen. Das geringe Engagement von Erwerbslosen steht, wie hier gezeigt, in direktem Zusammenhang mit dem geringen Engagement für Erwerbslose. Beides liegt nicht zuletzt an einer öffentlichen Meinung, die das Problem von Arbeitslosigkeit oft individualisiert und damit den Erwerbslosen die Verantwortung für ihre Situation selbst zuschreibt. 4

Zur Autorin Dr. Britta Baumgarten arbeitet seit Juli 2011 als Postdoc am CIES-ISCTE der Universität Lissabon. Von 2008 bis 2011 gehörte sie zur WZB-Forschungsgruppe Zivilgesellschaft, Citizenship und politische Mobilisierung in Europa. Ihre Arbeitsgebiete sind soziale Bewegungen, Zivilgesellschaft, Diskursanalyse und politische Kommunikation. Mail: brbaumgarten@yahoo.com Literatur Gensicke, Thomas (2010): Hauptbericht des Freiwilligensurveys 2009, online: http:// www.bmfsfj.de/bmfsfj/service/publikationen/publikationen,did=165004.html (24. März 2011). Munsch, Chantal (2005): Die Effektivitätsfalle. Bürgerschaftliches Engagement und Gemeinwesenarbeit zwischen Ergebnisorientierung und Lebensbewältigung. Hohengehren: Schneider. Zum Weiterlesen Baumgarten, Britta (Hg.) (2010): Interessenvertretung aus dem Abseits. Erwerbsloseninitiativen im Diskurs über Arbeitslosigkeit. Frankfurt a.m.: Campus. Gallas, Andreas (1994): Politische Interessenvertretung von Arbeitslosen. Eine theoretische und empirische Analyse. Köln: Bund Verlag. Lahusen, Christian/Baumgarten, Britta (2010): Das Ende des sozialen Friedens? Politik und Protest in Zeiten der Hartz-Reformen. Frankfurt a.m.: Campus. Rein, Harald/Scherer, Wolfgang (1993): Erwerbslosigkeit und politischer Protest. Zur Neubewertung von Erwerbslosenprotest und Einwirkung sozialer Arbeit. Frankfurt a.m.: Peter Lang. Rink, Dieter (2008): Proteste und Resistenzen der Erwerbslosen. In: Daniel Hechler/ Axel Philipps (Hg.): Widerstand denken. Michel Foucault und die Grenzen der Macht. Bielefeld: transcript, S. 261 276. Rucht, Dieter/Yang, Mundo (2004): Wer demonstrierte gegen Hartz IV?. In: Forschungsjournal Neue Soziale Bewegungen, Jg. 17, H. 4, S. 21-27. Impressum Wolski-Prenger, Friedhelm (1996): Arbeitslosenarbeit. Erfahrungen. Konzepte. Ziele. Opladen: Leske + Budrich. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung Social Science Research Center Berlin Herausgeberin Prof. Jutta Allmendinger Ph.D. Redaktion Dr. Paul Stoop Produktion Ingeborg Weik-Kornecki Reichpietschufer 50 10785 Berlin Telefon +49 (30) 25491-0 Telefax +49 (30) 25491-684 Quellenverzeichnis 1 Es wurde nach aktiver Beteiligung in folgenden Bereichen gefragt: Sport und Bewegung, Kultur und Musik, Freizeit und Geselligkeit, sozialer Bereich, Gesundheitsbereich, Schule oder Kindergarten, außerschulische Jugendarbeit, Bildungsarbeit für Erwachsene, Umwelt, Naturschutz, Tierschutz, Politik und politische Interessenvertretung, berufliche Interessenvertretung außerhalb des Betriebs, kirchlicher, religiöser Bereich, Justiz, Kriminalitätsprobleme, Unfall- oder Rettungsdienst, freiwillige Feuerwehr, bürgerschaftliche Aktivität am Wohnort. 2 Die Frage aus dem Freiwilligensurvey lautet: Geht es bei dieser Tätigkeit speziell um einen der folgenden Personenkreise? Die Befragten wurden gebeten, nur einen Personenkreis auszuwählen. Die hier genannten Zahlen beziehen sich auf die Kategorie Arbeitslose oder Existenzgründer. wzb@wzb.eu www.wzb.eu 5