Neues & Gutes. Präambel

Ähnliche Dokumente
Gesprächsführung mit Patientinnen und Patienten Grundorientierung, Nutzen und praktische Ansatzpunkte für Gesundheitsberufe

Gesprächsqualität in der Krankenversorgung Ergebnisse einer Grundlagenarbeit

Gesundheitskompetenz & patientenzentrierte

Workshop C1 Einführung. Marlene Sator & Jürgen Soffried

Verbesserung der Gesprächsqualität in der Krankenversorgung

Unsere Patienten verstehen uns nicht mehr

Gesundheitskompetenz. Was ist das und wie kann sie gefördert werden? Marlene Schader

WEITERENTWICKLUNG DER PATIENTENBETEILIGUNG IM ÖSTERREICHISCHEN GESUNDHEITSWESEN

Gesundheitsleitbild. Gesundheitsamt. Gesundheitsförderung Prävention Versorgung vernetzen koordinieren initiieren Gesundheitsdialog Kommunikation

Gesundheitskompetenz stärken

Von Daten zu Taten. Ziele, Strategien und Maßnahmen der. Österreichischen Plattform Gesundheitskompetenz

Gesund älter werden in Deutschland

Was ist Gesundheitskompetenz, und wie kann sie gefördert werden?

Warum und wie die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken?

DAS TEAM RUND UM DIE PATIENTINNEN UND PATIENTEN

Gesundheitskompetenz in und durch Primärversorgungseinheiten stärken. Daniela Rojatz, Peter Nowak, Stephanie Rath ÖPGK-Konferenz, Graz,

Möglichkeiten der Patientenpartizipation in Gremien der Gesundheitsbehörde

ONGKG Konferenz, Wien, Dr. Jürgen Soffried, MPH

Österreichische. Einbindung der Patientinnen und Patienten in die Gesundheitsreform

Gesundheitsthemen der Zukunft (neue) Felder der Sozialen Arbeit

«Gesundheitskompetenz. Die Fakten» Wissenswerte Fakten von der WHO Dr. Jörg Haslbeck, Kompetenzzentrum Patientenbildung, Careum Forschung, Zürich

Umfassende Qualitätsentwicklung der Kommunikation zwischen PatientInnen und Gesundheitsberufen. Peter Nowak Careum Congress 2014, 17.3.

Gesundheitsförderung in der Sozialversicherung

Welche Pflegenden braucht die Gesundheitsversorgung heute und morgen?

Nationaler Aktionsplan

MEHR GESUNDHEIT FÜR ALLE

Mitgliedschaft in der ÖPGK. Definitionen, Kriterien, Rechte und Pflichten

Über die Kunst aneinander vorbei zu reden Patientensicherheit im Zusammenspiel von Teamkommunikation und Patientenbeteiligung

Health Literacy: Forschungsstand und Perspektiven für ältere Menschen

KLINIK SCHLOSS MAMMERN Dr. A. O. Fleisch-Strasse CH-8265 Mammern Telefon +41 (0) Fax +41 (0)

Patientensicherheit auf europäischer Ebene - Aktuelle politische Entwicklungen

Wieviel Gesundheitsförderung macht das Präventionsgesetz möglich?

KINDER UND JUGENDGESUNDHEIT EINE ZUKUNFTSINVESTITION

Entschließung des Bundesrates zur Umsetzung eines Nationalen Diabetesplans

Fachtagung des Caritasverbands in Frankfurt

Kopenhagen, September September ORIGINAL: ENGLISCH. Resolution

Organisationale Rahmenbedingungen für gute Gespräche

Wahrnehmen Verstehen

Verleihung des BKK Innovationspreises Gesundheit 2016 Armut und Gesundheit am 13. September 2017 in Frankfurt a. M.

Zielorientierung: vom Gesundheitswesen zu einem Gesundheitssystem!

Erforderliche Infrastrukturen im Bremer Gesundheitswesen

Kooperationsverbund gesundheitsziele.de: Neun Jahre gesundheitsziele.de in Deutschland eine Zwischenbilanz

Die Nationale HTA-Strategie

Ansatzpunkte zur Stärkung der Gesundheitskompetenz

Die Luxemburger Deklaration zur betrieblichen Gesundheitsförderung in der Europäischen Union (1997)

Psychische Gesundheit

Gesundheit liegt uns am Herzen

NATIONALE STRATEGIE PRÄVENTION NICHTÜBERTRAGBARER KRANKHEITEN. Im Rahmen von:

Gesundheitskompetenz in der Sozialversicherung am Beispiel der Wiener Gebietskrankenkasse

Gesundheitskompetenz. Die Fakten

Chronisch kranke Kinder und Jugendliche Bedürfnisse und Krankheitsbewältigung

Gesundheitsstrategie Baden-Württemberg- Generierung und Umsetzung von Gesundheitszielen im Rahmen einer Public Health Initiative

Förderung der Gesundheitskompetenz im Alter

Verantwortung, Kompetenz und Koordination in der Gesundheitsversorgung

Chancengleich gesund aufwachsen in Mecklenburg-Vorpommern. Dr. Sibylle Scriba, Ministerium für Soziales und Gesundheit

BARMER Versorgungs- und Forschungskongress

Call to Action. für die Verbesserung der Neugeborenen-Gesundheit in Europa. Powered by

Prof. Dr. Peter Paulus Institut für Psychologie Universität Lüneburg Prävention und Gesundheitsförderung im Kontext von Schule

Frauenselbsthilfe nach Krebs e.v. Information und Entscheidungshilfen für PatientInnen

Was sind die kommunikativen Herausforderungen für die in der Onkologie tätigen Berufsgruppen?

Ergebnisse der Bevölkerungsbefragung zur Gesundheitskompetenz in der Schweiz

Gesundheitskompetenz stärken Wie kann dies in Baden-Württemberg gelingen?

Stärkung der Gesundheitskompetenz von Pflegekräften in der tertiären Ausbildung

Umsetzungsmöglichkeiten einer zukunftsgerichtetenprimärversorgung aus der Perspektive des Österreichischen Forums für Primärversorgung(OEFOP)

Nationale Strategie Palliative Care. Pia Coppex, Projektleiterin Schweizerische Konferenz der kantonalen Gesundheitsdirektorinnen und -direktoren GDK

Gesundheit in der Schweiz

5. APOLLON Symposium der Gesundheitswirtschaft

Gesundheitskompetenz: Bedeutung und Relevanz, internationale Entwicklungen, nationale Umsetzungsbeispiele

Reha Innovativen Impulsvortrag von Herrn Matthias Nagel

Umsetzung einer Nationalen Diabetesstrategie

Sozialmedizinische Dimension. Univ.Prof.Dr.med.Anita Rieder Institut für Sozialmedizin der Medizinischen Universität Wien Zentrum für Public Health

Gesundheit und Setting - lebensweltorientierte Gesundheitsförderung-

Leitbild des Klinikums der Johannes Gutenberg- Universität Mainz

Wissenschaftliche und praktische Qualifizierung für die Approbation - Vorschläge der BPtK

NATIONALE STRATEGIE PRÄVENTION NICHTÜBERTRAGBARER KRANKHEITEN. Im Rahmen von:

Vorarlberger Psychiatriekonzept

Leitlinien für ein Gender Friendly Hospital

Versorgungsentwicklung im Gesundheitssystem notwendige Schritte

Psychische Gesundheitsversorgung in Österreich

Gesundheit verstehen - Gesundheit sprechen

Vorgeschlagene Diskussionspunkte

Versorgungsplanung für eine alternde Gesellschaft

Workshop 1 Ein neues Gesundheitsförderungsgesetz. für Österreich

Klimapolitikintegration in Österreich & der EU: Welche Fortschritte sind zu verzeichnen?

LEITBILD DER KONTINENZ- UND STOMABERATERINNEN

Akademisches Lehrkrankenhaus der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz. Unser Leitbild

Die Potenziale des Föderalismus aus Sicht des Bundes

Gesundheitsbefragung Linz

Kinder- und Jugend- Gesundheitsbericht 2010 für die Steiermark

Konsultation zur Nationalen Strategie Prävention nichtübertragbarer Krankheiten

Dritter Weltbericht zur. Erwachsenenbildung. Jan Kairies. Mehr(-)Wert als Zahlen 8 September 2016

Ressourcen und Potenziale Ihre Gemeinde als Ort der Gesundheit

Qualitätsnetzwerk tsnetzwerk Geriatrie Das Modell Geriatrisches Zentrum

Erklärung von Hermann Gröhe, Gesundheitsminister Mitglied des Deutschen Bundestags

Gesund älter werden im Quartier: Chancen und Herausforderungen für Gesundheitsförderung und Prävention

GESUNDHEITSZIELE FÜR KÄRNTEN

Effiziente und effektive Arbeitsteilung der Gesundheitsberufe

Transkript:

Neues & Gutes Stefanie Klemp Präambel Die personenzentrierte Medizin stellt die Würde und Autonomie der Menschen sicher, in dem sie ein ganzheitliches Gesundheitskonzept vorhält sowie wissenschaftliche Erkenntnisse und Humanismus klar zur Sprache bringt. Die Genfer Deklaration von 2014 besagt, dass die personenzentrierte Gesundheit sich auf Bedürfnisse, Werte und Sichtweisen der ganzen Person in seinem Kontext konzentriert anstatt sich auf Patientenstatus, medizinische Problematik oder Erkrankung zu fokussieren. Der Ansatz des Lebenslaufs gewährt einen Zugang zum gegenwärtigen Gesundheitszustand der Menschen und zu ihren soziokulturellen, biologischen und psychologischen Kontexten. Jede durchlebte Lebensphase beeinflusst die nächste. Gesundheitliche Ungleichheiten und darauf einwirkende ungleiche psychosoziale Faktoren können schon früh im Leben vorhanden sein und dann im Verlauf des Lebens in Erscheinung treten. Die Veröffentlichungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Globale Strategie zur personenzentrierten und integrierten Gesundheitsversorgung bzw. Weltgesundheitsbericht Altern und Gesundheit untermauern den Nutzen des personenzentrierten und integrierten Konzepts. Dieser besteht in einer effizienteren Versorgung, in Kosteneinsparungen, in leichteren Zugangsmöglichkeiten für alle, in einer besseren

Genfer Deklaration von 2016 zur personenzentrierten integrativen Versorgung während des Lebenslaufs 1 Von den Teilnehmern der 9. Genfer Konferenz zur Personenzentrierten Medizin 2 angenommen und vom Vorstand des Internationalen Kollegiums der Personenzentrierten Medizin am 25. Mai 2016 frei gegeben Gesundheitskompetenz und Selbsthilfe, einer höheren Zufriedenheit mit der Versorgung, in besseren Beziehungen zwischen Gesundheitsanbietern und Patienten und in einer kompetenteren Antwort auf Versorgungskrisen. Die personenzentrierte Medizin macht die Beziehung zwischen Gesundheitsanbieter und hilfesuchender Person zur obersten Maxime. Dieses Prinzip ist in der Primärversorgung grundlegend, da man gerade hier auf dauerhafte Beziehungen mit Individuen und Populationen in ihrem sozialen Kontext baut. Eine Unterstützung der WHO-Resolution der Weltgesundheitsversammlung Primärversorgung und Gesundheitssystemstärkung ist essentiell, da die Primärversorgung eine horizontale Struktur vorhält, die es zulässt, vertikale Programme für Individuen in ihren unterschiedlichen Lebensphasen zu integrieren. Personenzentrierte Versorgung über den Lebenslauf beinhaltet folgende Aspekte: Eine Integration von Mutterschaftsund Neugeborenenfürsorge als Teil der Primärversorgung eröffnet Möglichkeiten, die Gleichstellung und Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern zu unterstützen und ineinandergreifende Gesundheitsleistungen für Familien zu fördern. Leistungen, die sich auf eine sichere Geburt beziehen, sowie gemeindenahe evidenzbasierte Praktiken werden Gesundheit und Wohlbefinden von Mutter und Kind ab Geburt über den gesamten Lebenslauf stärken. Frauenbewegungen haben für die personenzentrierte Versorgung Pionierarbeit geleistet, indem sie eine familienzentrierte Schwangerschaftsfürsorge und Geburtshilfe mit einer autonomeren Geburtsgestaltung und einem gerechteren Zugang zur Gesundheitsversorgung einforderten. Frauengesundheit in der Primärversorgung kann nicht nur die allgemeine reproduktive Gesundheit fördern, sondern auch Gleichberechtigung, Kinder- und Jugendgesundheit sowie Gesundheit und Wohlbefinden im Lebenslauf. Angebote einer erweiterten Gesundheitsförderung und Krankheitsprävention für Kinder und Jugendliche, die im Kontext der Familie und Gemeinde koordiniert werden, ermöglichen eine Verzahnung der Interessen des Kindes mit den Werten der Familie und der Gemeinde. Die Berücksichtigung der Auswirkungen von ökonomischen Ungleichheiten einschließlich solcher in Beschäftigungen ist für die Gruppe der Erwachsenen wichtig. Vulnerable Gruppen, z.b. mit kognitiven Einschränkungen oder Lernbehinderungen, benötigen eine Versorgungsstruktur, die genügend Zeit für Kommunikation und Entscheidungsfindung bereitstellt. Vulnerabilität kann auch aufgrund sozialer Konflikte und politischer Krisen entstehen. Weltweit werden Millionen von Menschen gewaltsam vertrieben, weil dort Verfolgungen, Krieg, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen vorherrschen. Die Hälfte dieser Flüchtlinge sind Kinder. Die gesundheitlichen Bedürfnisse dieser Menschen sind vielfältig und erfordern Gesundheitsleistungen, die integriert, zeitgerecht und einfühlsam erbracht werden. Personen mit chronischen Erkrankungen, einschließlich solchen mit geistigen Behinderungen, brauchen eine lebenslange Behandlung und Betreuung. Viele der verheerenden 1 Ins Deutsche übertragen durch PD Dr. Ulrike Junius, Hannover 2 Das Internationale Kollegium für Personzentrierte Medizin (ICPCM) ist eine Non-Profit-Organisation, die aus den seit 2008 durchgeführten Genfer Konferenzen zur Personzentrierten Medizin hervorgegangen ist und Bildung, Forschung und Anwaltschaftlichkeit hinsichtlich einer personzentrierten Medizin auf der Basis von Wissenschaft und Humanismus unterstützt. Zentral ist die Neuorientierung auf die gesamte Person unter dem Motto Gesundheit von Menschen, für Menschen, mit Menschen und durch Menschen. Das ICPCM führt jährlich internationale Tagungen in Genf durch, die themenbezogen sind und in Positionsbestimmungen in Form von Deklarationen münden. Die hier publizierte Deklaration wurde am Ende der Tagung vom 10. 13.4.2016 verabschiedet, die sich mit einer lebenslaufbezogenen integrierten personbezogenen Versorgung befasste. Vgl. http://personcenteredmedicine.org/ Der Mensch 52-2016 55

Neues & Gutes Auswirkungen chronischer Erkrankungen könnten durch eine besser integrierte Prävention und eine frühere Behandlung im Lebenslauf abgeschwächt werden. Chronische nicht übertragbare Krankheiten setzen eine globale Krise in Gang. Menschen mit chronischen Erkrankungen sind häufig von Multimorbidität betroffen; eine integrierte Versorgung ist wichtig, um schwerwiegende Gesundheitsereignisse, wie z.b. durch Medikamenteninteraktionen hervorgerufen, zu verhindern. Es bedarf einer koordinierten Versorgung zur Förderung und zum Erhalt gemeindenaher Gesundheitsleistungen, um die Lebensqualität zu verbessern und Lebensgewohnheitsänderungen krankheitsunabhängig aktivieren zu können. Gesundes Altern kann und sollte während des gesamten Lebenslaufs auf Basis einer integrierten und holistisch personenzentrierten Gesundheitsversorgung gefördert werden. Besonders in Krisen und Umbrüchen benötigen ältere Menschen eine Zuwendung, die ihren ganzheitlichen Bedürfnissen entspricht. Am Lebensende ist die Palliativversorgung mit dem Fokus auf Lebensqualität und Leidenslinderung als Inbegriff einer personenzentrierten Medizin zu verstehen, weil sie in den letzten Lebenstagen unheilbares Leiden schmälert und Zuwendung spendet. Aufforderung zum Handeln 1. Eine personenzentrierte Versorgung soll während des ganzen Lebenslaufes bereitgestellt werden, weil sie den Kontext und gesundheitliche Entwicklungen mit dem gegenwärtigen Zustand in Beziehung setzen kann, und weil diese in allen Gesundheitssettings richtungsweisend und prognostisch unterstützend wirkt. 2. Während des gesamten Lebenslaufes ist ein Empowerment und Einbinden von Patienten, Pflegenden und Familien von enormer Bedeutung. 3. Gesundheitspolitiker und -planer sollten jede Gelegenheit nutzen, der integrierten Versorgung Priorität einzuräumen, besonders in vulnerablen Umbruch- und Übergangszeiten von der frühen Kindheit über die Adoleszenz zum Erwachsenen- und hohen Alter. 4. Besondere Aufmerksamkeit ist für die Etablierung von Geschlechterperspektiven in unsere Gesundheitssysteme erforderlich, einschließlich Themen wie Gleichberechtigung, Gewaltprävention und besondere Bedürfnisse der Frauen während des Lebenslaufs. 5. Spezielles Augenmerk benötigen die Kriegsmigranten und -flüchtlinge, insbesondere Kinder und Ältere, so wird es von verschiedenen Organisationen artikuliert wie von der World Federation of Mental Health 2015 in der Kairo-Deklaration zur psychischen Gesundheit von Flüchtlingen, von der World Psychiatric Association in dem Positionspapier zu Europas Migrationsund Flüchtlingskrise von 2016, von der European Psychiatric Association im Positionspapier zur psychiatrischen Versorgung der Flüchtlinge in Europa und von der World Organization of Family Doctors (WONCA) 2015 in der Istanbul Erklärung zu Flüchtlingen. 6. Die Integration von Spezialdisziplinen, interprofessionellen Teammitglieder, Patienten, Familienangehörigen und Pflegenden ist zwingend erforderlich, um zu effektiven partizipativen Entscheidungsfindungen und Versorgungsleistungen zu gelangen. 7. Die Ausbildung von Angehörigen der Gesundheitsberufe sollte sich neu ausrichten, um Bedürfnisse der Bevölkerung abzudecken. Die Stärkung von Bildungsprogrammen im Bereich der Familien- und Allgemeinmedizin sowie von interdisziplinären Trainigsmaßnahmen wird zur Verbesserung einer personenzentrierten Leistungserbringung beitragen. 8. Weitere Forschung wird dringend gebraucht, um die personen- und bevölkerungszentrierte Versorgung im Lebenslauf zu optimieren, insbesondere was die effektive klinische Kommunikation, die Integration von Gesundheitsleistungen und die Entwicklung von Indikatoren zur Zielerreichung angeht. 9. Es gibt Finanzierungsbedarf für die Entwicklung und Aufnahme von Prinzipien einer personenzentrierten Versorgung auf Länderebene, die als Qualitätsmarker Fortschritte des nachhaltigen Entwicklungsziels eines gesunden Lebens und Wohlbefindens für alle Altersgruppen anzeigen. 10. Um diese Ziele zu erreichen, ist eine Zusammenarbeit zwischen einzelnen Institutionen erforderlich, einschließlich einer zwischen den Internationalen Kollegien der personenzentrierten Medizin, der Weltgesundheitsorganisation, des Weltärztebundes, der Weltorganisation für Allgemeinmedizin, des Weltbundes der Krankenpflege, der Internationalen Allianz der Patientenorganisationen, und anderer Gesundheitsberufs- und Familienverbände, die eine personenzentrierte integrative Versorgung im Lebenslauf fördern und durchsetzen wollen. 56 Der Mensch 52-2016

Österreich setzt einen neuen politischen Akzent auf patientenzentrierte Kommunikationskultur in der Krankenversorgung Das schlechte internationale Abschneiden Österreichs bei der in acht europäischen Ländern durchgeführten Befragung zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung (HLS-EU Consortium 2012) hat die Entscheidungsträger im österreichischen Gesundheitswesen aufgerüttelt. In Folge wurde eines der zehn österreichischen Gesundheitsziele der Stärkung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung gewidmet (BMG 2012). Schon in der Diskussion dieses nationalen Gesundheitsziels wurde festgehalten, dass für die Entwicklung der Gesundheitskompetenz der Bevölkerung die Qualität der Gespräche in der Krankenversorgung, insbesondere der Arzt-Patient-Gespräche, von entscheidender Bedeutung ist. Das österreichische Gesundheitsministerium und der Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger haben zunächst wissenschaftliche Grundlagenarbeiten in Auftrag gegeben, um den Stellenwert von Gesprächen in der Krankenversorgung, Qualitätsanforderungen und Voraussetzungen für diese und mögliche Verbesserungsmaßnahmen zusammenzufassen [Sator et al. 2015]. Die dargelegten Fakten waren so überzeugend, dass eine Arbeitsgruppe der Finanziers des österreichischen Gesundheitssystems (Bund, Bundesländer, Krankenversicherungen) eingesetzt wurde, um strategische Eckpunkte für eine Neuorientierung der Krankenversorgung in Richtung patientenzentrierte Kommunikationskultur auszuarbeiten. Im Juli 2016 hat nun das oberste politische Entscheidungsgremium, Bundeszielsteuerungskommission, die Strategie Verbesserung der Gesprächsqualität in der Krankenversorgung (BMGF 2016) verabschiedet, die am 13. Oktober 2016 der breiten Öffentlichkeit präsentiert wurde. Dieses Strategiedokument soll nun einen breiten Diskussionsprozess der wesentlichen Interessenspartner zur Umsetzung der 15 vorgeschlagenen Handlungsempfehlungen eröffnen, der zu einer breiten und systematischen Umsetzung einer neuen patientenzentrierten Gesprächskultur in den nächsten Jahren in Österreich führen soll. Diese strategische Ausrichtung steht durchaus in einem Spannungsverhältnis zu vielen anderen Trends in der Krankenversorgung, wie Kostendruck, zunehmende Spezialisierung, zunehmende Technisierung, Arbeitsverdichtung u.v.a.m., die eine ganzheitliche Gesprächsführung im Versorgungsalltag immer schwieriger machen. Eine solche nationale Anstrengung zur Realisierung von patientenzentrierter und gesundheitsorientierter Krankenversorgung, scheint international bisher einmalig: Sie zielt nicht nur auf die Weiterentwicklung individueller Kompetenzen im Rahmen von Aus-/Weiter-/Fortbildung ab, sondern auch auf förderliche Rahmenbedingungen für gute Gesprächsqualität in den Gesundheits- und Krankenversorgungsorganisationen durch Organisationsentwicklung, auf eine veränderte Grundkultur durch Strategie- und Kulturentwicklung und auf evidenzbasierte Qualitätsentwicklung. Dieser umfassende Ansatz könnte auch über die Grenzen Österreichs hinaus Vorbildwirkung entfalten. Literatur BMG (2012): Rahmen-Gesundheitsziele. Richtungsweisende Vorschläge für ein gesünderes Österreich. Langfassung. Bundesministerium für Gesundheit, Wien BMGF (2016): Verbesserung der Gesprächsqualität in der Krankenversorgung. Strategie zur Etablierung einer patientenzentrierten Kommunikationskultur, Bundesministerium für Gesundheit und Frauen, Wien HLS-EU Consortium (2012): Comparative Report of Health Literacy in Eight EU Member States. The European Health Literacy Survey HLS-EU. The international Consortium of the HLS-EU Project Sator, Marlene; Nowak, Peter; Menz, Florian (2015): Verbesserung der Gesprächsqualität in der Krankenversorgung. Kurzbericht auf Basis der Grundlagenarbeiten für das Bundesministerium für Gesundheit und den Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger. Gesundheit Österreich GmbH, Wien Auf der nächsten Seite die Kurzfassung des Strategiepapiers, die vollständige Version ist unter http://www.bmgf.gv.at/ home/gesundheit/gesundheitsreform/ Verbesserung_der_Gespraechsqualitaet_in_der_Krankenversorgung zu finden. Peter Nowak, Marlene Sator (beide Gesundheit Österreich GmbH) Der Mensch 52-2016 57

Neues & Gutes Kurzfassung des Strategiepapiers Hintergrund und Ziel Als eine prioritäre Maßnahme zur Umsetzung des Rahmen-Gesundheitsziels 3 Die Gesundheitskompetenz der Bevölkerung stärken (B-ZV, Art. 8, Operatives Ziel 8.3.2) wurde von der Fachgruppe Public Health / Gesundheitsförderung eine Projektgruppe beauftragt, die hier vorliegende Strategie der Zielsteuerungspartner zur Verbesserung der Gesprächsqualität in der Krankenversorgung zu erarbeiten1. Ziel der Strategie ist es, inhaltliche Orientierung für die Entwicklung der Kultur und der Prozesse von Gesprächsführung in der Krankenversorgung zu geben und damit die vielfältigen Initiativen in diesem Feld zu unterstützen. Die vorliegende Strategie knüpft an unterschiedliche Agenden der Gesundheitsreform an und kann auch einen Beitrag zu deren erfolgreicher Umsetzung leisten. Sie formuliert Handlungsfelder für eine mittel- und langfristige Entwicklung der Gespräche in der Krankenversorgung, definiert aber keine konkreten Umsetzungsmaßnahmen, da diese nur in Kooperation mit den wesentlichen Akteuren in der Krankenversorgung geplant werden können. Was ist gute Gesprächsqualität? Gesprächsqualität umfasst vier zentrale Ebenen, die gemeinsam Zieldimensionen für zukünftige Entwicklungsinitiativen darstellen: die sprachlich-interaktive Ebene (Gesprächsführung), die inhaltliche Ebene (Fachinhalte), die psychosoziale Ebene (Beziehung) und die Ebene des Gesprächssettings (Umfeld). Vor dem Hintergrund der verfügbaren Evidenz und einer grundlegenden Ausrichtung auf das Modell der patientenzentrierten 1 Die Projektgruppe hat auf den Ergebnissen von Grundlagenarbeiten aufgebaut, die in Form zweier Langberichte [Sator et al. 2015a; Sator et al. 2015b] und eines zusammenfassenden Kurzberichts [Sator et al. 2015c] vorliegen und die Evidenz für die dieser Strategie zugrunde gelegten Analysen zusammengefasst haben. Krankenversorgung ist das Gespräch zwischen Gesundheitsdiensteanbietern (GDA) und Patientinnen/Patienten als unerlässliches pflegerisches, diagnostisches und therapeutisches Werkzeug zu verstehen. Es ist lehr- und lernbar und kann strukturell unterstützt und gesteuert werden. Das qualitätsvolle Gespräch zwischen GDA und Patientinnen/Patienten soll daher auch als Führungsaufgabe verstanden werden. Warum ist gute Gesprächsqualität wichtig? Die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass Gespräche zwischen GDA und Patientinnen/Patienten hochrelevant für die Outcomes der Krankenversorgung sind. Gute Gesprächsqualität hat positive Effekte auf den Gesundheitszustand, das Gesundheitsverhalten und die Zufriedenheit der Patientinnen und Patienten, auf die Patientensicherheit, die Häufigkeit von Klagen wegen Behandlungsfehlern, auf die Gesundheit und Arbeitszufriedenheit der Mitarbeiterinnen/Mitarbeiter und auf ökonomische Belastungen für Patientinnen/ Patienten, Ärztinnen/Ärzte und das gesamte Gesundheits- und Krankenversorgungssystem. Wie ist der Status quo in Österreich? Europaweite Befragungen von Patientinnen/Patienten zur Arzt-Patient-Kommunikation, wissenschaftliche Analysen und Interviews mit Expertinnen/Experten zeigen: Die Gesprächsqualität in Österreich hinkt dem EU-Durchschnitt hinterher. Kommunikative Kompetenzen haben Eingang in die medizinische Ausbildung gefunden, im Alltag der Krankenversorgung sind sie noch zu wenig umgesetzt. Es gibt zwar eine Reihe von Einzelinitiativen zur Verbesserung dieser Situation, auf die bei der Entwicklung von Umsetzungsmaßnahmen zurückgegriffen werden sollte. Diese sind aber meist von individuellem Engagement und Motivation von Einzelpersonen getragen und oft zeitlich begrenzt, während eine systematische Steuerung und flächendeckende Umsetzung weitgehend fehlt. Wirkkette und strategische Handlungsempfehlungen Das übergeordnete Ziel ist die Verbesserung von Gesundheits-Outcomes. Die Gesprächsqualität in der Krankenversorgung stellt eine wichtige Determinante der Outcome-Qualität dar. Einflussfaktoren auf die Gesprächsqualität sind in vier Handlungsfeldern zu sehen, für die jeweils Handlungsempfehlungen gegeben werden (Bild 1). 1. Strategie- und Kulturentwicklung (Policy) Vor dem Hintergrund, dass ein gemeinsames Verständnis aller Stakeholder von der Bedeutung der Gesprächsqualität in der Krankenversorgung und von kommunikativer Kompetenzentwicklung in der medizinischen Aus-, Weiter- und Fortbildung entscheidend ist, wird empfohlen, strategische Öffentlichkeitsarbeit zum Thema durchzuführen, strategische Allianzen für Gesprächsqualität mit relevanten Partnern zu bilden, ein Konsensus-Statement zur Umsetzung der kommunikativen Kompetenzentwicklung in der Aus-, Weiter- und Fortbildung mit allen wesentlichen Stakeholdern zu erstellen, um die Umsetzung im jeweils eigenen Wirkungsbereich anzuregen, Gesprächsqualität als Schwerpunktthema in der Umsetzung nationaler Strategien (Policies) und Programme zu etablieren. 2. Evidenzbasierte Qualitätsentwicklung Vor dem Hintergrund der derzeit sehr unterschiedlichen Qualität von Fortbildungsangeboten für GDA zur Kommunikation wird empfohlen, Qualitätsstandards2 zur Gesprächsführung und für deren Vermittlung zu erstellen, 2 Der Begriff Qualitätsstandard ist hier in einem weiteren Sinne zu verstehen und nicht im engen Sinne eines Bundesqualitätsstandards (gemäß Gesundheitsqualitätsgesetz). 58 Der Mensch 52-2016

Bild 1: Wirkkette zur Verbesserung der Gesprächsqualität in der Krankenversorgung Quelle und Darstellung: Projektgruppe Gesprächsqualität Muster-Trainingskonzepte für Fortbildungsangebote zur Gesprächsführung zu erstellen, die Qualität von Fortbildungsangeboten zur Gesprächsführung zu sichern und Patienteninformation und Entscheidungshilfen qualitätsgesichert zu gestalten. 3. Aus-/Weiter-/Fortbildung Vor dem Hintergrund des deutlichen Bruchs zwischen der qualitativ guten Ausbildung und den in kommunikativer Hinsicht unbefriedigenden Umsetzungsmöglichkeiten in der alltäglichen Praxis von GDA wird empfohlen, leitende und ausbildende GDA und Fortbildner/innen in Hinblick auf Gesprächsführung weiter zu qualifizieren, eine Fortbildungsinitiative für bereits praktizierende GDA zu lancieren, evidenzbasierte Patientenschulungen durchzuführen. 4. Organisationsentwicklung Vor dem Hintergrund, dass derzeit vielfach förderliche Rahmenbedingungen für gute Gesprächsqualität in den Gesundheitsund Krankenversorgungsorganisationen fehlen, wird empfohlen, Gesprächsqualität organisational zu verankern, die Rahmenbedingungen für die alltägliche Gesprächsführung und für den Kommunikationsunterricht sowie die Überprüfung der kommunikativen Kompetenzen in der praktischen Ausbildung zu reorganisieren, die Ausbildungsstätten bei der Umsetzung des Kommunikationsunterrichts in der praktischen Ausbildung systematisch zu unterstützen, Informations- und Kommunikationstechnologien nicht anstelle von, sondern zur Unterstützung des Gesprächs zwischen GDA und Patientinnen/Patienten einzusetzen. Weiterer Umsetzungsprozess Im Bundes-Jahresarbeitsprogramm 2016 (op. Ziel 8.3.2.; Maßnahme 2) ist bereits festgelegt, dass im Jahr 2016 die schrittweise Umsetzung der vorliegenden Strategie unter Einbeziehung der Österreichischen Plattform Gesundheitskompetenz (ÖPGK) und der zuständigen Fachgruppen Public Health / Gesundheitsförderung (FG PH/ GF) und Qualität (FG Q) beginnen soll. Der Umsetzungsprozess soll dem Public Health Action Cycle folgen: Nach Beschluss der Strategie und ihrer breiten Dissemination sollen die priorisierten Handlungsempfehlungen in enger Abstimmung mit den relevanten Stakeholdern (Ausbildungseinrichtungen aller Gesundheitsberufe, Krankenanstaltenträger, berufliche Interessenvertretungen und Fachgesellschaften, Patientenvertretungen etc.) schrittweise als Maßnahmen konkretisiert werden, wobei finanzielle, zeitliche und personelle Verantwortlichkeiten und Zuständigkeiten der Systempartner (Bund, Länder, Sozialversicherung) für die Strategie zu explizieren sind. Für Entwicklung und Umsetzung von konkreten Maßnahmen gemeinsam mit den Stakeholdern wird es einer gesonderten Finanzierung bedürfen. Die priorisierten Umsetzungsmaßnahmen sollen evaluiert und die Wirkungen der Strategie insgesamt bewertet werden. Der Mensch 52-2016 59