Kapitel 22. Einführung in die Funktionentheorie

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Transkript:

Kapitel 22 Einführung in die Funktionentheorie In Kapitel 17 wurde die Differentialrechnung von Funktionen f: R m R n mehrerer Veränderlicher besprochen. Der Ableitungsbegriff war dabei nicht als Verallgemeinerung der eindimensionalen Diskussion evident: Für Funktionen einer Variablen kann die Ableitung als Grenzwert des Differenzenquotienten definiert werden. Im höher dimensionalen Fall ist das nicht möglich, da nicht durch einen Vektor geteilt werden kann. Deshalb waren partielle Ableitungen, Richtungsableitungen und die totale Ableitung zu unterscheiden. Die Situation ändert sich auch nicht, wenn Abbildungen f: R 2 R 2 zu untersuchen sind. Die Situation ändert sich allerdings dramatisch, wenn der R 2 als Gaußsche Zahlenebene mit der komplexen Multiplikation versehen wird, d.h. beim Studium von Abbildungen f: C C. Bzgl. der komplexen Multiplikation existiert ein Inverses, durch komplexe Zahlen kann geteilt werden. Damit ist es möglich analog zum eindimensionalen Fall eine Ableitung als Grenzwert von Differenzenquotienten zu definieren. In der Funktionentheorie geht es um die (auf den ersten Blick) wirklich erstaunlichen Konsequenzen dieser Tatsache, die kein Analogon in der reellen Analysis haben. Zum Verständnis des Folgenden werden die Betrachtungen aus Kapitel 7 vorausgesetzt (einige Stichworte sind: Der Körper der kom- 533

534 Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie plexen Zahlen, komplexe Potenzreihen, Exponentialfunktion, Eulersche Formeln, die Gaußsche Zahlenebene). Topologische Begriffe wie offene und abgeschlossene Mengen wurden dort ebenfalls aus dem R 2 abgeleitet. Besonders betont sei nochmals: Der Konvergenzbegriff spielt hier wie auch in der reellen Analysis die zentrale Rolle. 22.1 Holomorphe Funktionen (komplexe Differenzierbarkeit; höhere Ableitungen; Rechenregeln) In diesem Paragraphen wird der zentrale Begriff in der Funktionentheorie, die komplexe Differenzierbarkeit eingeführt. Die Notation ist dabei wie üblich: z = x + iy, x, y R, f(z): C U f(u) C, f(z) =u(x, y)+iv(x, y), mit reellwertigen Funktionen u(x, y), v(x, y), U ist stets offen. Die skizzenhafte Veranschaulichung ist in Abbildung 22.1 wiedergegeben. C iy f iv C U f(u) x u Abbildung 22.1: Eine Funktion f: C C.

Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie 535 Definition 22.1.1 i) Es sei U C offen, f: U C. Die Funktion f heißt im Punkt z C (komplex) differenzierbar, falls der Grenzwert (die (komplexe) Ableitung f (z )) existiert (in C). f(z) f(z ) lim z z,z=z z z ii) Die Funktion f heißt (komplex) differenzierbar auf U (oder: holomorph auf U, oder: regulär auf U), falls f in jedem Punkt z U differenzierbar ist. Notation: f(z) f(z ) lim z z,z=z z z = f (z )= df dz (z )= df dz z=z. Wie üblich wird hier die komplexe Ableitung aufgefasst als Funktion f : U C. Bemerkungen. i) Die Definition der Ableitung erfolgt analog zum Fall einer Funktion einer reellen Variablen als Grenzwert von Differenzenquotienten. Fasst man f lediglich als Funktion R 2 R 2 auf (ohne komplexe Multiplikation), so ergibt eine solche Definition keinen Sinn. ii) Rekursiv werden höhere Ableitungen definiert: f := (f ), f := (f )..., f (n) := (f (n 1) ). iii) Eine in z komplex differenzierbare Funktion ist dort stetig.

536 Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie Beispiele. i) Konstante Funktionen sind holomorph auf C, ist nämlich f(z) =c = a + ib, c C, a, b R, so folgt für z = z f(z) f(z ) z z =, also lim z z,z=z f(z) fz z z = f (z )=. ii) Es sei f(z) =z und ein beliebiges z C sei fixiert. Es folgt f(z) f(z ) z z lim = lim =1, z z,z=z z z z z,z=z z z also f (z )=1für alle z C, d.h. f (z) 1. iii) Es sei jetzt f(z) = z und z = x + iy C fixiert. Ist speziell z = x + iy, so folgt f(z) f(z ) = (x iy ) (x iy ) z z (x + iy ) (x + iy ) =1, ist andererseits z = x + iy, so folgt f(z) f(z ) = (x iy) (x iy ) z z (x + iy) (x + iy ) = 1. Die Funktion f(z) = z ist nicht holomorph! Nach dem letzten Beispiel ist die Klasse der holomorphen Funktionen nicht so groß wie man es zunächst vielleicht erwartet hätte. Um einzusehen (ohne die Definition heranzuziehen), dass zumindest Polynome etc. holomorph sind, werden wie üblich Rechenregeln benötigt: Satz 22.1.1 Es seien U, V C offen. i) Summe und Produkt zweier (in z U) komplex differenzierbarer Funktionen f, g sind komplex differenzierbar. Es gilt (f + g) (z ) = f (z )+g (z ), (fg) (z ) = f (z )g(z )+f(z )g (z ).

Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie 537 ii) Es sei f: U C in z komplex differenzierbar und f(z ) =. Dann ist 1 f in einer Umgebung von z wohl definiert, in z komplex differenzierbar und es gilt 1 (z )= f (z ) f f 2 (z ). iii) Es seien f: U V und g: V C in z U bzw. in w = f(z ) komplex differenzierbar. Dann ist die Verkettung g f in z komplex differenzierbar mit (g f) (z )=g (w )f (z ). Beispiele. i) Es sei f(z) =z 2. Dann gilt f (z) =1z + z1 =2z, allgemein folgt n =1,2,3,... d dz zn = nz n 1. ii) Es sei f(z) = 1 z, z =. Dann gilt f (z) = 1 z 2, allgemein folgt für k = ±1, ±2, ±3,... (z = im Fall k<) Ruft man sich die Notation d dz zk = kz k 1. f(z) =u(x, y)+iv(x, y), z = x + iy, mit zwei Funktionen u, v: R 2 R ins Gedächtnis, so stellt sich an dieser Stelle die natürliche Frage:

538 Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie Wie hängt die reelle Differenzierbarkeit von u und v mit der komplexen Differenzierbarkeit von f zusammen? Zur Erinnerung: Die Funktion f(z) = z = x+i( y)istnicht komplex differenzierbar, obwohl in diesem Fall u, v beliebig glatt sind. 22.2 Die Cauchy- Riemannschen Differentialgleichungen (komplexe Differenzierbarkeit versus reelle Differenzierbarkeit) Zur Beantwortung obiger Frage wird die zusätzliche Notation u x = u x, v x = v x, u y = u y, v y = v y. eingeführt. Heuristische Idee. Es sei f als Funktion R 2 R 2 differenzierbar. Man schreibt also auch u(x, y) f(z) =f(x, y) =. v(x, y) Nach Kapitel 17.2 gilt (für fixiertes z mit f x = u x R 2 und v x

Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie 539 v y f y = u y R 2 ) f(z) = f(z )+ u x Wegen (vgl. Kapitel 7.1) v x u y v y (z ) x x y y +... = f(z )+f x (z )(x x )+f y (z )(y y )+.... x x = 1 2 (z z )+(z z ), y y = i 2 (z z ) (z z ) folgt f(z) = f(z )+ 1 2 f x(z ) (z z )+(z z ) i 2 f y(z ) (z z ) (z z ) +... 1 = f(z )+(z z ) fx (z ) if y (z ) 2 +(z z ) 1 fx (z )+if y (z ) +.... (1) 2 Ist andererseits f komplex differenzierbar, so muss gelten Der Vergleich mit (1) zeigt f(z) =f(z )+f (z )(z z )+.... f (z ) = 1 2 f x (z ) if y (z ), (2) = f x (z )+if y (z ). (3) Die Gleichungen (2) stellen die komplexe Ableitung in Termen der reellen partiellen Ableitungen dar.

54 Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie Die Gleichungen (3) heißen die Cauchy- Riemannschen Differentialgleichungen, wegen schreibt man sie in der Form f x + if y = (u x + iv x )+i(u y + iv y ) = (u x v y )+i(v x + u y ) u x = v y, u y = v x. ( ) Eine genaue Argumentation liefert tatsächlich: Satz 22.2.1 Für eine Funktion f: U C, U C offen sind die folgenden Aussagen äquivalent: i) f ist in z U komplex differenzierbar. ii) f ist in z U reell differenzierbar und es gelten die Cauchy- Riemannschen Differentialgleichungen ( ). Beispiele. i) Es sei f(z) = 2i +3z +4z 2 = 3x +4x 2 4y 2 +i(2 + 3y +8xy). =u(x,y) =v(x,y) Dann gilt u x = 3+8x = v y, u y = 8y = v x, die Cauchy- Riemannschen Differentialgleichung sind also erfüllt, f ist komplex differenzierbar.

Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie 541 ii) Es sei Hier gilt f(z) = z = x + i( y). u x =1= 1 =v y, die Cauchy- Riemannschen Differentialgleichungen sind also nicht erfüllt, wie bereits bekannt ist f nicht komplex differenzierbar. iii) Es sei f(z) = Re z. Auch hier können die Cauchy- Riemannschen Differentialgleichungen nicht gelten. 22.3 Kurvenintegrale (Das komplexe Integral) (Integrationsweg; Wegunabhängigkeit; Stammfunktion) Identifiziert man die komplexe Ebene mit dem R 2, C = R 2,soüberträgt sich der Begriff eine Kurve (Definition 17.1.1) direkt auf Kurven in der komplexen Ebene. Gleiches gilt für alle weiteren Begriffe aus Kapitel 17.1 (insbesondere den der Parametertransformation). Notation. i) Mit wird im Folgenden die Ableitung einer Kurve in C nach dem reellen Parameter (der Zeit) bezeichnet. Ist also : I =[a, b] R C, (t) =ϕ(t)+iψ(t) = ϕ(t), ψ(t) so ist (t) = d dt (t) = ϕ(t)+i ψ(t) = ϕ(t) ψ(t). ii) Eine stückweise glatte Kurve (vgl. Bemerkungen nach Definition 18.1.1) : [a, b] U C heißt im Folgenden ein Integrationsweg in U C. iii) Für stetiges ξ: [a, b] R C ist b a ξ(t) dt := b a Re ξ(t) dt + i b a Im ξ(t) dt.

542 Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie Definition 22.3.1 Es sei : [a, b] C ein Integrationsweg und f: (I) C eine stetige Funktion. Dann ist das (komplexe) Kurvenintergal (Wegintegral) längs definiert als b f(z) dz := f((t)) (t) dt. a Bemerkungen. i) Die Bildunng des komplexen Integrals erfolgt analog zu der des reellen Kurvenintegrals, wobei das Skalarprodukt durch die komplexe Multiplikation zu ersetzen ist. ii) Die Invarianz unter orientierungserhaltenden Parametertransformationen und der Vorzeichenwechsel bei orientierungsumkehrenden Parametertransformationen sind genau wie in Kapitel 17.1 zu zeigen. Dementsprechend kann wieder von Wegen gesprochen werden, auf die genaue Unterscheidung wird im Folgenden wie üblich nicht immer eingegangen. iii) Es gelten wieder die bekannten Regeln (Linearität, Beschränktheit, Wegadditivität). iv) Ist (t) = ϕ(t) + iψ(t), f(z) = u(x, y) + iv(x, y), so gilt b f(z) dz = u(ϕ(t),ψ(t)) + iv(ϕ(t),ψ(t)) ϕ(t)+i ψ(t) dt Beispiele. = a b a +i u(ϕ(t),ψ(t)) ϕ(t) v(ϕ(t),ψ(t)) ψ(t) dt b a v(ϕ(t),ψ(t)) ϕ(t)+u(ϕ(t),ψ(t)) ψ(t) dt. i) Es seien z C und r> fixiert. Man betrachte den Integrationsweg (positiv orientierte Kreislinie, vgl. Abbildung 22.2) : [, ] C, t z + re it.

Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie 543 C z r Abbildung 22.2: Eine positiv orientierte Kreisline. Es gilt (t) = z + r(cos(t)+i sin(t)), (t) = r sin(t)+ir cos(t) = ire it. ii) Es sei f(z) = z (insbesondere ist f nicht holomorph). Betrachtet sei zunächst der Integrationsweg : [,π] C, t e i(π t). C π 1 1 Abbildung 22.3: Der Integrationsweg aus Beispiel ii). Mit der Notation = ϕ + iψ folgt nach dem Hauptsatz der Differential- und Integralrechnung für Funktionen einer reellen

544 Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie Veränderlichen z dz = = π π 1 (t) dt ϕ(t) dt + i π ψ(t) dt = ϕ(π) ϕ() + i ψ(π) ψ() = (π) () = 2. Betrachtet sei jetzt der Intergrationsweg : [ 1, 1] C, t t. C π 1 1 Abbildung 22.4: Der Integrationsweg aus Beispiel ii). Hier gilt z dz = 1 1 t dt =1= z dz. Wieder hängen Kurvenintegrale i.a. nicht nur vom Anfangs- und Endpunkt des Integrationsweges ab. Das wichtigste Beispiel ist das Folgende:

Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie 545 Satz 22.3.1 Es seien z C, r> fixiert und : [, ] C, t z + re it. Dann gilt z k dz = für k Z { 1}, i für k = 1. C Abbildung 22.5: Zu Satz 22.3.1. Beweis. O.E. sei z =. i) Es sei zunächst k N. Dann gilt z k dz = r k e ikt ire it dt = ir k+1 e i(k+1)t dt = ir k+1 cos((k +1)t) dt + i sin((k +1)t) dt sin((k +1)t) = ir k+1 k +1 + i =. cos((k +1)t) k +1

546 Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie ii) Exakt die gleiche Rechnung liefert den Satz im Fall k = 2, 3, 4... iii) Es sei schließlich k = 1. 1 z dz = r 1 e it ire it dt = i dt =i. Bemerkung. Obwohl die Singularität von beispielsweise z 2 im Ursprung schlimmer aussieht als die von z 1, verschwindet obiges Kurvenintegral über z 2, das über z 1 verschwindet nicht. Kriterien zur Wegunabhängigkeit des Kurvenintegrals? Das erste Kriterium ist ein Analogon zu Satz 18.1.1. Man benötigt dazu: Definition 22.3.2 Es sei U C offen und f: U C stetig. Eine Funktion F : U C heißt Stammfunktion von f, falls F holomorph ist und F = f gilt. Bemerkung. Ist eine Funktion h auf einem Gebiet G holomorph mit h, so ist h konstant. Konsequenz: Auf einem Gebiet G sind Stammfunktionen (falls existent) bis auf Konstanten eindeutig bestimmt. (Warum kann die Aussage nicht für beliebige offene Mengen gelten?)

Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie 547 Satz 22.3.2 i) Es sei f: U C eine stetige Funktion, die eine Stammfunktion F besitze. : [a, b] U sei ein Integrationsweg in U von (a) =z nach (b) =z 1. Dann ist f(z) dz = F (z 1 ) F (z ). ii) Ist insbesondere geschlossen (z = z 1 ), so folgt f(z) dz =. Beweis. Der Beweis folgt leicht aus der folgenden Proposition, einer Art Kettenregel für Kurven in der komplexen Ebene. Man beachte den Unterschied zu Satz 22.1.1, iii). Proposition 22.3.1 Es sei F : U C holomorph auf der offenen Menge U und : [a, b] U eine glatte Kurve in U. Dann gilt d dt F ((t)) = F ((t)) (t). Bemerkung. Es sei nochmals betont, dass F die komplexe Ableitung bezeichnet, wohingegen d/ dt und Ableitungen nach der reellen Variablen t bezeichnen. Beweis der Proposition. Nach Formel (2) aus Kapitel 22.2 ist (F = u(x, y)+iv(x, y)) F = 1 (ux + iv x ) i(u y + iv y ) 2 = 1 2 (ux + v y )+i(v x u y ).

548 Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie Es folgt F ((t)) (t) = 1 (ux + v y ) 1 (v x u y ) 2 2 +i (u x + v y ) 2 +(v x u y ) 1 = u x 1 + u y 2 + i vy 2 + v x 1, wobei die Cauchy-Riemannschen Differentialgleichungen ausgenutzt wurden und wobei die Ableitungen von u und v an der Stelle (t) auszuwerten sind. Andererseits ist nach der (reellen) Kettenregel (Satz 17.2.1) d dt F ((t)) = d u(1 (t), 2 (t)) + iv( 1 (t), 2 (t)) dt = u x 1 + u y 2 + i vx 1 + v y 2 und die Proposition ist bewiesen. Es gilt auch die Umkehrung von Satz 22.3.2 im Sinne von Satz 22.3.3 Es sei f auf einem Gebiet G stetig. Für jeden geschlossenen Integrationsweg in G gelte f(z) dz =. Dann hat f auf G eine Stammfunktion. Beispiele. i) Die Funktion f(z) =z k, k Z, k = 1, hat auf C bzw. C {} im Fall k< die Stammfunktion F (z) = 1 k +1 zk+1 (+konst.), also folgt z k dz = 1 z k+1 1 z k+1, k +1 wobei z, z 1 den Anfangs- bzw. Endpunkt von bezeichnen.

Kapitel 22: Einführunng in die Funktionentheorie 549 ii) Ist : [, ] C, (t) =re it, r>fixiert, so gilt nach Satz 22.3.1: 1 dz =i. z Die auf C {} holomorphe Funktion z 1 kann dort keine Stammfunktion besitzen (vgl. das Beispiel unendlich langer Leiter aus Kapitel 18). Dies ist ein wesentlicher Unterschied zu der Funktion z n, n>1.