Verletzlichkeit aus gesellschaftlicher Perspektive. 4. Nationale Tagung der ARS / bso, , Bern

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Transkript:

Verletzlichkeit aus gesellschaftlicher Perspektive Prof. Dr. Jörg Dittmann Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtentwicklung 4. Nationale Tagung der ARS / bso, 18.01.2018, Bern

Gliederung 1. Ein Universalbegriff macht sozialwissenschaftliche Karriere 2. Die Schweiz als Risikogesellschaft 3. Die gesellschaftliche Produktion von Verletzlichkeit 4. Nutzen einer Verletzlichkeitsperspektive für die Praxis Sozialer Einrichtungen und Kritik 2

1. Ein Universalbegriff macht sozialwissenschaftliche Karriere 3

1. Ein Universalbegriff macht sozialwissenschaftliche Karriere Verletzlichkeitsmodelle in den Sozialwissenschaften Dittmann et al. 2017

2. Die Schweiz als Risikogesellschaft 2.1 Risiko und Verletzlichkeit im Spiegel gesellschaftlichen Wandels 2.2 Prekarisierung am Arbeitsmarkt 2.3 Prekarisierung im Bereich Wohnen 2.4 Familien im Wandel und unter Druck 5

2.1 Risiko und Verletzlichkeit im Spiegel gesellschaftlichen Wandels These: Der gegenwärtige gesellschaftliche Wandel hat nicht nur Chancen, sondern auch neue Risiken und Verletzlichkeiten geschaffen. Individualisierung: Mehr Lebensqualität, Selbstbestimmung und Optionen, aber nicht für alle Menschen und in allen Lebensphasen Globalisierung: Vernetzung und Vielfalt, jedoch auch mangelnde Selbststeuerung und Abhängigkeit gegenüber Dritten (z.b. Wirtschafts- und Arbeitsmarkt) Wertewandel: Erwartungen an das Leben (z.b. Lebensqualität, Sicherheit, Lebenserwartung) steigen, gleichzeitig steigende Entgrenzung von Krisen Reformen des Sozialstaats: Professionalisierung vs. (Re)Moralisierung von Fürsorge 6

2.2 Prekarisierung am Arbeitsmarkt Globalisierung der Wirtschaft, Digitalisierung der Arbeitswelt Steigende Anforderungen an Erwerbstätige (Qualifizierung, Mobilität, Flexibilität) Integrationskraft des Arbeitsmarktes gilt nicht mehr für alle Erwerbsfähigen Wachstum des prekarisierungsanfälligen Dienstleistungssektors 2005 (2.455.171 Vollzeitstellen= 73%, 3. Quartal 2017: 2.879.700 Vollzeitstellen=78%) (BFS) Hohe Beschäftigungssicherheit, aber auch Prekarisierung Weiterhin geringe Arbeitslosenquote, (November 2017: 3,1%), aber Anstieg der Zahl Langzeitarbeitsloser (2012: 19.250; Nov. 2017: 26.141; SECO) Working Poor 2015 (3.9%, ca. 145.000 Personen; SILC) 7

2.2 Prekarisierung am Arbeitsmarkt Abbildung: Anteil an Stellen mit einem Stundenlohn unter 22 Franken nach Wirtschaftszweig, Schweiz 2012 Quelle: BFS/LSE, Auswertung SECO 8

2.2 Prekarisierung im Bereich Wohnen Steigende finanzielle Aufwendungen für das Wohnen überproportionaler Anstieg der Miet- und Immobilienpreise (BFS: Gebäude und Wohnstatistik 2010-2017) 82% der armutsbetroffenen Haushalte geben mehr als 30% ihres Einkommens für das Wohnen aus, nicht Armutsbetroffene: 8% (Bochsler et al. 2015) Fehlender oder erschwerter Zugang zum Wohnraum Geringe Wohnleerstandsquote 2017: CH: 1.5% (BWO); Kt. Basel-Stadt 2017 : 0.5%; Kt. Zürich 0.9%, Kt. Genf (0.5%)[Quelle: jeweilige kantonale Statist. Ämter] Hinweise für eine Zunahme von Wohnungs-/Obdachlosigkeit (Dittmann et al. 2017) 9

2.2 Prekarisierung im Bereich Wohnen Quelle: BFS, Gebäude und Wohnstatistik (Strukturerhebungen)

2.2 Familien im Wandel und unter Druck Vereinbarkeit von Beruf und Familie, mehr als nur eine Herausforderung Geringe Flexibilität in der Arbeitswelt vs. Entgrenzung der Arbeit Studie ISSP 2015: Schwierigkeiten, 1-2 Stunden für familiäre Angelegenheiten freizuehmen: Frauen: 31,6%; Männer: 16,7% Studie SHP 2014: Durch Arbeit zu erschöpft für Familie/Privates (10er Skala, 10=hoch): Befragte mit Kindern: Mittelwert: 4.8; Befragte ohne Kinder: 4.4) Sinkende Familienstabilität: Steigende Trennungsraten (Scheidungsziffer 2000: 26%; 2016; 42%; BFS) Herausforderung Care Arbeit 2013: 17% der Frauen im Alter zwischen 55 und 64 Jahren kümmern sich wöchentlich um Erwachsene (Männer: 9%; Info-Work Care 2017) Vier Fünftel der Care-Arbeit wird unbezahlt geleistet vorwiegend für Kinder (EDI 2010)

3. Die gesellschaftliche Produktion von Verletzlichkeit These: Verletzlichkeit bedeutet mehr als Problemlagen ausgesetzt zu sein. Es ist vor allem der gesellschaftliche Umgang mit diesen Problemlagen, welcher die Verletzlichkeit erhöht. Menschliche Problemlagen werden in öffentlichen Diskursen, aber auch in der Sozialpraxis häufig als individuelles Fehlverhalten gedeutet Gesellschaftlich bedingte Ursachen, z.b. ungleicher Zugang zu Bildung treten dagegen in den Hintergrund Problemlagen wie z.b. Armut, Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot werden im Zusammenwirken mit der Umwelt zu einer zusätzlichen Belastung, z.b. durch Exklusion und Ausschluss aus anderen Lebensbereichen Moralisierung (z.b. Schuld) der Lebenslage Tabuisierung

3. Die gesellschaftliche Produktion von Verletzlichkeit These: Der sozialstaatliche Umgang mit Anspruchsgruppen zeigt Verletzbarkeitsmomente auf. Sozialreformen und Revisionen im Bereich ALV, IV u. Sozialhilfe sowie Verwaltungsreformen (NPM, WoV) Leistungskürzungen (z.b. Dauer und finanzielle Höhe beim Arbeitslosentaggeld) Staatliche Fürsorge (z.b. Sozialhilfe) stellt Bedingungen («Integrationsleistungen») Eigenverantwortung des/der Klienten/in als dominierende Anwendungs- und Bewertungsregel in der Sozialhilfe Prinzip der Niederschwelligkeit von Angeboten wird durch marktförmige Ausrichtung staatlicher Wohlfahrt unterlaufen Steigende Abhängigkeit der Betroffenen von zivilgesellschaftlichen Kräften (Stiftungen, Hilfswerke, bürgerliches Engagement)

4. Nutzen einer Verletzlichkeitsperspektive für die Praxis Sozialer Einrichtungen und Kritik Nutzen der Verletzlichkeitsperspektive Überdenken der Ursachenzuschreibungen und Wirkungen von Lebenslagen Verletzlichkeit Sozialer Einrichtungen, gerade in Zeiten von Ökonomisierung des Sozialen Einmischung Sozialer Einrichtungen z.b. auf sozialpolitischer Ebene wird offensichtlich Kritik Chancen und Gewinne des gegenwärtigen gesellschaftlichen Wandels werden geschmälert Gefahr der Defizitorientierung anstelle von Ressourcen, Resilienz und Bewältigung Verletzlichkeitsforschung ist bislang vor allem Grundlagenforschung Noch zu wenig Anwendungsorientierung im Sinne von Problemlösung 14

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit Merci beaucoup de votre attention Many thanks for your attention Grazie mille per la vostra attenzione joerg.dittmann@fhnw.ch 15