1. Kapitel Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht



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Transkript:

I. Wirtschaftskriminalität 1. Kapitel Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht I. Wirtschaftskriminalität Eine allgemein anerkannte kriminologische Definition dessen, was Wirtschaftskriminalität ist, existiert nicht (Überblick zu den verschiedenen Ansätzen bei Wittig 2 Rn. 6 ff.). Unstreitig ist dagegen ihre große praktische Bedeutung, wie sie sich etwa in den Schadensziffern der polizeilichen Kriminalstatistik niederschlägt, die für das Jahr 2009 von einem durch Wirtschaftskriminalität verursachten volkswirtschaftlichen Schaden in Höhe von 3,43 Mrd. Euro ausgeht. Trotz Fehlens einer eindeutigen kriminologischen Definition lassen sich aber bestimmte typische Eigenschaften sowohl von Wirtschafsstraftaten als auch von Wirtschaftsstraftätern angeben. 1. Wirtschaftsstraftaten. Kennzeichen von Wirtschaftsstraftaten ist zumeist, dass sie in bzw. aus Wirtschaftsunternehmen heraus begangen werden. Dabei kann man mit einem aus den USA stammenden kriminologischen Ansatz zwischen Straftaten unterscheiden, die im wirtschaftlichen Interesse des Unternehmens begangen werden (Unternehmenskriminalität corporate crime) und Taten, die im persönlichen Eigeninteresse des Täters im Kontext von dessen Berufsausübung begangen werden (berufsbezogene Kriminalität occupational crimes). Nicht selten zeichnen sich solche Taten durch ihre geringe Sichtbarkeit aus. Anders als die Leiche eines Mordopfers sind die Schäden durch Wirtschaftstraftaten (z. B. der Steuerschaden des Fiskus infolge einer raffinierten Steuerhinterziehung) häufig nicht offensichtlich feststellbar. Vielfach sind Wirtschaftsstraftaten Distanzdelikte, bei denen kein unmittelbarer Kontakt zwischen Täter und Opfer besteht, bzw. das Opfer eine anonyme Institution (Fiskus, Sozialkassen) ist (näher Meier, Kriminologie, 4. Aufl. 2010, 11 Rn. 13 f.). 2. Wirtschaftsstraftäter. Für die Kennzeichnung von Wirtschaftsstraftätern greift man häufig auf den von dem amerikanischen Kriminologen Sutherland geprägten Begriff des white collar crime zurück. Danach werden Wirtschaftsstraftaten überdurchschnittlich oft von Tätern aus der Mittel- oder Oberschicht 1 1 2 3

1. Kapitel Wirtschaftskriminalität und Wirtschaftsstrafrecht begangen, im Gegensatz zur Alltagskriminalität (z. B. Körperverletzung und Diebstahl), bei der die Täter oft der Unterschicht entstammen. Wirtschaftskriminelle weisen typischerweise einen höheren Bildungsgrad auf als durchschnittliche Straftäter. Sie sind meist in einem geordneten sozialen Umfeld verwurzelt und häufig noch nie durch andere Straftaten auffällig geworden. Daraus kann dann auch eine höhere Empfindlichkeit für Kriminalstrafen und die damit verbundene soziale Ächtung resultieren. Viele Wirtschaftsstraftäter sehen sich aber auch nach einer rechtskräftigen Verurteilung nicht als Kriminelle, sondern zeigen wenig oder gar kein Unrechtsbewusstsein, was auf den oben beschriebenen Distanzcharakter der Taten zurückzuführen sein könnte. II. Typische Merkmale des Wirtschaftsstrafrechts 4 Ebenso wie keine allgemein anerkannte Definition des Begriffs Wirtschaftskriminalität existiert, lässt sich auch nicht genau angeben, welche Straftatbestände dem Wirtschaftsstrafrecht zuzurechnen sind und welche nicht. Einen gewissen Anhaltspunkt bietet 74c GVG, der die Zuständigkeit der an den Landgerichten eingerichteten Wirtschaftstrafkammern anhand einer Aufzählung bestimmter Strafnormen festlegt. Das Wirtschaftsstrafrecht ist nur zu einem kleineren Teil im StGB geregelt. Zahlreiche, zum Teil äußerst wichtige Tatbestände, gehören zum Nebenstrafrecht und finden sich in spezialgesetzlichen Regelungen, z. B. die Steuerhinterziehung in 370 AO oder die Insolvenzverschleppung in 15a InsO. 5 1. Geschützte Rechtsgüter. Wirtschaftsstrafrechtliche Tatbestände schützen häufig das Individualrechtsgut Vermögen, z. B. Betrug ( 263 StGB) und Untreue ( 266 StGB). Kennzeichnend für das Wirtschaftsstrafrecht ist aber auch, dass es hier nicht selten um den Schutz überindividueller Rechtsgüter der Allgemeinheit geht, z. B. den Schutz der Funktionsfähigkeit des Kapitalmarkts bei den Straftaten nach 38 WpHG oder um die Erhaltung einer funktionsfähigen Versicherungswirtschaft beim Versicherungsmissbrauch ( 265 StGB). 6 2. Regelungstechniken. Typisch für das Wirtschaftsstrafrecht sind auch bestimmte Regelungstechniken. So sind zahlreiche Tatbestände als Sonderdelikte ausgestaltet, die nicht von jedermann, sondern nur von bestimmten Tätern begangen werden können, die besondere persönliche Merkmale ( 14 StGB) auf- 2

II. Typische Merkmale des Wirtschaftsstrafrechts weisen. Beispiele für Sonderdelikte sind etwa die nur vom Schuldner begehbaren Bankrotttatbestände oder der an die Eigenschaft als Arbeitgeber anknüpfende 266a StGB. Zu beachten ist, dass Personen, bei denen das besondere persönliche Merkmal nicht gegeben ist, sich zwar nicht als Täter, aber ohne weiteres als Teilnehmer (Anstifter oder Gehilfe, 26, 27 StGB) strafbar machen können, z. B. wenn ein Steuerberater dem Schuldner Hilfestellung beim Beiseiteschaffen von Vermögensgegenständen i. S. v. 283 Abs. 1 Nr. 1 StGB leistet. Häufig finden sich im Wirtschaftsstrafrecht Tatbestände, die als abstrakte Gefährdungsdelikte ausgestaltet sind. D.h. sie setzen weder eine Verletzung noch die Schaffung einer konkreten Gefahr für ein Rechtsgut voraus, sondern lassen es ausreichen, dass die Tathandlung generell geeignet sein kann, eine solche Gefährdung herbeizuführen. Beispiele hierfür sind etwa der Subventions- oder der Kreditbetrug ( 264, 265b StGB), die schon die Vornahme einer Täuschung unter Strafe stellen, aber nicht voraussetzen, dass jemand dieser Täuschung erliegt und es dadurch zum Eintritt eines Vermögensschadens kommt. Typisch für das Wirtschaftsstrafrecht ist außerdem die Ausgestaltung der Vorschriften als Blanketttatbestände. Dies sind Normen, die zur Ausfüllung einzelner Tatbestandsvoraussetzungen auf andere Vorschriften desselben oder eines anderen Gesetzes verweisen. Diese müssen sozusagen in die Strafvorschrift mit hineingelesen werden, um beurteilen zu können, ob deren Tatbestand erfüllt ist. Ein Beispiel hierfür bildet etwa 34 AWG, der an zahlreichen Stellen auf nationale oder europäische Ausfuhrverordnungen verweist. Problematisch ist diese Regelungstechnik unter dem Gesichtspunkt des Bestimmtheitsgrundsatzes (Art. 103 Abs. 2 GG, s. StR I Rn. 15) insbesondere dann, wenn es sich um gleichsam dynamische Verweisungen auf sich ständig ändernde Regelungsmaterien handelt, da dann für den Normadressaten kaum noch aus dem Gesetz ersichtlich ist, welches Verhalten mit Strafe bedroht ist. 7 8 3

2. Kapitel Strafrechtliche Verantwortung im Unternehmen 2. Kapitel Strafrechtliche Verantwortung im Unternehmen 9 Werden Straftaten aus Unternehmen heraus begangen, so ergibt sich das Problem, welche Unternehmensangehörigen dafür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können. Insbesondere stellt sich in der Praxis häufig die Frage nach der Verantwortlichkeit der Geschäftsleitung. Die Beantwortung dieser Frage wird dadurch erschwert, dass moderne Unternehmen hochgradig arbeitsteilig organisiert sind. Dementsprechend sind Wissen und Handlungsmöglichkeiten und -pflichten häufig auf eine Vielzahl von Personen verteilt. Daher ist die Zuweisung von Verantwortlichkeit im Unternehmen für das Wirtschaftsstrafecht ein Kernproblem. Diese Zuweisung kann dabei zum einen vertikal erfolgen, nämlich in Form der Verantwortung von Leitungspersonen für das Verhalten ihnen untergeordneter Mitarbeiter (z. B. bei der Geschäftsherrenhaftung, Rn. 37 f.) oder durch die Übertragung der strafrechtlich relevanten Unternehmen als Juristische Person (z.b. AG) Überwälzung bes. Pflichtenstellungen, 14 StGB Geschäftsleitung (z.b. mehrköpfiger Vorstand) A B C D E Generalverantwortung der Unternehmensleitung Abb. 1: 4 Mitarbeiter des Unternehmens Verantwortlichkeit im Unternehmen Täterschaft, Teilnahme, 25 ff. StGB Geschäftsherrenhaftung Aufsichtspflichtverletzung, 130 OWiG

I. Verantwortlichkeit von Organen, Vertretern und Beauftragten, 14 StGB Pflichtenstellung einer juristischen Person auf ihre Organe und Vertreter ( 14 StGB, Rn. 10 ff.). Zum anderen kann eine horizontale Zurechnung von Wissen oder Handlungen erforderlich sein, etwa innerhalb des arbeitsteilig tätigen mehrköpfigen Vorstands einer Aktiengesellschaft (Gremienverantwortlichkeit für Kollegialentscheidungen, Rn. 21 ff.). I. Verantwortlichkeit von Organen, Vertretern und Beauftragten, 14 StGB Einige Straftatbestände sind so ausgestaltet, dass sie nur von Tätern verwirklicht werden können, die besondere persönliche Merkmale aufweisen (Sonderdelikte, s. o. Rn. 6). Auch andere Statusmerkmale wie etwa die Amtsträgereigenschaft nach 11 Abs. 1 Nr. 2 StGB sind besondere persönliche Merkmale im Sinne des Strafrechts. Da viele Unternehmen am Rechtsverkehr als juristische Personen oder rechtsfähige Personengesellschaften teilnehmen und als solche auch eigene Rechte und Pflichten haben können, kann es vorkommen, dass die in einem Straftatbestand vorausgesetzten besonderen persönlichen Merkmale zwar bei der juristischen Person oder rechtsfähigen Personengesellschaft vorliegen, aber nicht bei Vertretern, die für sie handeln. Für diesen Fall ermöglicht 14 StGB (im Ordnungswidrigkeitenrecht übernimmt der inhaltsgleiche 9 OWiG dieselbe Funktion), dass der betreffende Straftatbestand auch auf den Vertreter angewendet werden kann. Die Pflichtenstellung des Vertretenen wird gewissermaßen auf den Vertreter überwälzt. Dadurch werden Strafbarkeitslücken bei Sonderdelikten vermieden. Beispiel: A unterlässt es als Geschäftsführer der X-GmbH, für deren Mitarbeiter die Arbeitnehmerbeiträge zur Sozialversicherung zum Fälligkeitszeitpunkt abzuführen. Fraglich ist, ob A wegen Vorenthaltens und Veruntreuens von Arbeitsentgelt nach 266a StGB bestraft werden kann. Täter einer Straftat nach 266a StGB kann nur der Arbeitgeber sein. Arbeitgeber ist hier aber die X-GmbH, da die Arbeitsverträge zwischen ihr und ihren Mitarbeitern geschlossen wurden. 5 10 11

2. Kapitel Strafrechtliche Verantwortung im Unternehmen Gemäß 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB kann die Arbeitgebereigenschaft aber gleichsam auf A übergewälzt werden, weil er als Geschäftsführer gemäß 35 Abs. 1 GmbHG gesetzlicher Vertreter der X-GmbH ist. Daher kann A hier tauglicher Täter einer Straftat nach 266a StGB sein. 12 1. Systematik des 14 StGB. 14 StGB unterscheidet in seinen Abs. 1 und 2 zwischen gesetzlichen Vertretungsverhältnissen einerseits und gewillkürten Beauftragten andererseits. 14 Abs. 3 StGB regelt den Fall, dass eine Person faktisch als Vertreter oder Beauftragter tätig wird. In all diesen Fällen können besondere persönliche Merkmale des Vertretenen auf den Vertreter oder Beauftragten überwälzt werden. 14 StGB 14 Abs. 1 Nr. 1 14 Abs. 1 Nr. 2 14 Abs. 1 Nr. 3 14 Abs. 2 Organe von juristischen Personen Vertreter rechtsfähiger Personengesellschaften Gesetzliche Vertreter Gewillkürte Vertreter des Betriebsinhabers 14 Abs. 3 Erweiterung der Anwendbarkeit von 14 Abs. 1 und 2 auf faktische Organe und Beauftragte Abb. 2: Systematik des 14 StGB. 13 2. Organe und gesetzliche Vertreter, 14 Abs. 1 StGB. 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB ermöglicht die Überwälzung besonderer persönlicher Merkmale auf die vertretungsberechtigten Organe einer juristischen Person bzw. deren Mitglieder. In Betracht kommen hier insbesondere die Geschäftsführer einer GmbH ( 35 Abs. 1 GmbHG), Vorstände von Aktiengesellschaften ( 76, 78 AktG) oder eines Vereins ( 26, 29 BGB). 14 14 Abs. 1 Nr. 2 StGB gilt für vertretungsberechtigte Gesellschafter rechtsfähiger Personengesellschaften. Dies sind insbesondere die Komplementäre einer KG ( 161 Abs. 2, 125 HGB), die Gesellschafter einer OHG ( 125 HGB) und die vertretungsberechtigten Gesellschafter einer BGB-Außengesellschaft ( 714 BGB). 6

I. Verantwortlichkeit von Organen, Vertretern und Beauftragten, 14 StGB 14 Abs. 1 Nr. 3 StGB überwälzt besondere persönliche Merkmale auf andere gesetzliche Vertreter. Hier kommen insbesondere der Insolvenzverwalter ( 80 InsO) und der Liquidator ( 66 GmbHG) in Betracht. 15 Im Rahmen von 14 StGB kann es zu regelrechten Überwälzungsketten kommen. Ist im obigen Beispiel Arbeitgeber eine GmbH & Co. KG (also eine Personengesellschaft), so wird die Arbeitgebereigenschaft zunächst nach 14 Abs. 1 Nr. 2 StGB auf deren vertretungsberechtigten Komplementär abgewälzt. Dies ist eine GmbH, also eine juristische Person. Über 14 Abs. 1 Nr. 1 StGB wird die Arbeitgebereigenschaft deshalb dann weiter auf deren vertretungsberechtigtes Organ, also den oder die Geschäftsführer nach 35 Abs. 1 GmbHG übertragen. 14 Abs. 1 StGB setzt jeweils voraus, dass die betreffende Person gerade als Organ oder Vertreter handelt. Wann dies der Fall ist, ist umstritten. Die h.m. folgte hierzu bis vor kurzem der sog. Interessentheorie. Danach kommt die Anwendung von 14 Abs. 1 StGB nur in Betracht, wenn der Vertreter zumindest auch im Interesse des Vertretenen handelt. Handelt er hingegen ausschließlich im eigenen Interesse, so kommt eine Überwälzung nach 14 StGB nicht in Betracht. Diese Ansicht wurde in der Literatur immer schon heftig kritisiert, weil sie insbesondere zu einer stark eingeschränkten Anwendbarkeit der Bankrottdelikte bei juristischen Personen und somit zu einer Ungleichbehandlung gegenüber Einzelkaufleuten führt (s. u. Rn. 247). Stattdessen wurde vorgeschlagen, die Anwendbarkeit von 14 Abs. 1 StGB davon abhängig zu machen, ob zwischen dem Handeln ein objektiv-funktionaler Zusammenhang besteht ( Funktionstheorie ) bzw. ob das Handeln dem Vertretenen wertungsmäßig zuzurechnen ist ( Zurechnungsmodell ). Insbesondere dann, wenn bei rechtsgeschäftlichem Handeln der Vertreter im Namen des Vertretenen auftritt bzw. die Rechtswirkungen aus dem Geschäft den Vertretenen treffen, soll nach diesen Ansichten immer ein Handeln als Vertreter vorliegen, auch wenn das Rechtsgeschäft ausschließlich im eigenen Interesse vorgenommen wird (näher zu den einzelnen Theorien LK-Schünemann 14 Rn. 50 ff.). Bei rein tatsächlichem Handeln (z. B. einem Griff in die Bargeldkasse) soll es darauf ankommen, ob das Handeln gerade durch die Organstellung ermöglicht wurde (Funktionstheorie) oder ob der Vertretene dem zugestimmt hat bzw. das Handeln sich nach außen als Erfüllung einer dem Vertretenen obliegenden Rechtspflicht (z. B. Buchführungspflicht) darstellt (Zurechnungsmodell). Siehe zu diesem Problemkreis auch Übungsfall 6. 7 16

2. Kapitel Strafrechtliche Verantwortung im Unternehmen Während der BGH bislang der Interessentheorie folgte (BGHSt 30, 127, 129 ff. ), haben nun einzelne Senate angekündigt, diese nicht mehr anwenden zu wollen. Sollten sich die restlichen Strafsenate dem anschließen, so dürfte sich die Rspr. künftig in der Sache dann eher an den Kriterien der Funktionstheorie bzw. des Zurechnungsmodells orientieren, vgl. BGH NStZ 2012, 89 ). 17 3. Beauftragte, 14 Abs. 2 StGB. 14 Abs. 2 StGB betrifft den Fall, dass zwar kein Fall gesetzlicher Vertretung vorliegt, dass eine Person aber durch den Inhaber eines Betriebs mit dessen Leitung ( 14 Abs. 2 Nr. 1 StGB) oder mit der eigenverantwortlichen Wahrnehmung betriebsbezogener Aufgaben, die eigentlich dem Inhaber obliegen ( 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB), betraut wurde. In Betracht kommen hier insbesondere die selbständige Leitung einer Zweigniederlassung oder die eigenverantwortliche Wahrnehmung eines bestimmten Aufgabenbereichs wie etwa der technischen oder kaufmännischen Leitung. 18 Der Begriff des Betriebs umfasst wirtschaftliche Unternehmungen aller Art ohne Rücksicht auf deren Rechtsform. Neben Produktions- und Handwerksbetrieben kommen auch landwirtschaftliche Betriebe, Dienstleistungsunternehmen, Kanzleien, Apotheken und Arztpraxen in Betracht. 19 Die Beauftragung muss jeweils durch den Inhaber des Betriebs oder einen sonst dazu Befugten (z. B. den Prokuristen) erfolgen. Nimmt der Betrieb als juristische Person am Rechtsverkehr teil, ist Inhaber des Betriebs die juristische Person, also nicht etwa deren Gesellschafter oder Aktionäre. Die Beauftragung wird dann für die juristische Person durch ein vertretungsberechtigtes Organ erteilt. 20 4. Faktische Organe und Beauftragte. 14 Abs. 1 und Abs. 2 StGB setzen jeweils voraus, dass die Bestellung zum Organ oder Vertreter bzw. die Beauftragung rechtswirksam erfolgt sind. Für den Fall, dass diese Voraussetzung nicht erfüllt ist, sieht 14 Abs. 3 StGB die Möglichkeit vor, dass 14 Abs. 1 und Abs. 2 StGB trotzdem angewendet werden können, wenn jemand faktisch die Aufgaben 8 Während in Fällen des 14 Abs. 2 Nr. 1 StGB die Beauftragung auch stillschweigend erfolgen kann, verlangt der Wortlaut des 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB explizit eine ausdrückliche Beauftragung. Dadurch soll verhindert werden, dass im Unternehmen strafrechtliche Verantwortung allzu leicht untergeordneten Hilfspersonen zugeschoben wird, indem man sie im Nachhinein zu Beauftragten nach 14 Abs. 2 Nr. 2 StGB erklärt.

II. Verantwortlichkeit innerhalb von Leitungsgremien eines Organs oder Beauftragten wahrnimmt. 14 Abs. 3 StGB greift unstreitig dann ein, wenn eine wirksame Bestellung oder Beauftragung beabsichtigt war, der Bestellungsakt dann aber scheiterte, z. B. wegen eines Formmangels oder Geschäftsunfähigkeit des Auftraggebers. In der Praxis nicht selten sind jedoch insbesondere Fälle faktischer Geschäftsführung, bei denen eine wirksame Bestellung von den Beteiligten niemals beabsichtigt war. Die Rspr. wendet 14 Abs. 3 StGB auch in diesen Fällen an, weil sie Strafbarkeitslücken im Bereich der rein faktischen Geschäftsführung verhindern möchte (BGHSt 47, 324, 325 f. ). In der Literatur wird diese Auffassung hingegen überwiegend abgelehnt. Aus dem Wortlaut von 14 Abs. 3 StGB ergebe sich, dass nach dem Willen des Gesetzgebers nur die Fälle unwirksamer Bestellungshandlungen erfasst werden sollten. Eine Anwendung der Vorschrift auf Fälle, in denen eine solche Bestellungshandlung gar nicht beabsichtigt war, verstoße daher gegen das Analogieverbot des Art. 103 Abs. 2 GG. II. Verantwortlichkeit innerhalb von Leitungsgremien Die Suche nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit führt regelmäßig zur Geschäftsleitung des Unternehmens, da hier Wissen und Handlungskompetenzen konzentriert sind. Besonders in großen Unternehmen ist aber auch die Geschäftsleitung häufig arbeitsteilig organisiert und auf mehrere Personen verteilt. Dies wirft das Problem auf, ob und inwieweit einzelne Mitglieder der Unternehmensleitung auch für das Verhalten ihrer Kollegen im Leitungsgremium strafrechtlich mitverantwortlich sind. Das Problem wird in erster Linie im Zusammenhang mit Fahrlässigkeitsund Unterlassungsdelikten relevant. Es geht vor allem um die Frage nach dem Bestehen von Sorgfaltspflichten und der Reichweite von Garantenstellungen insbesondere im Zusammenhang mit Verstößen gegen Arbeitsschutzvorschriften und Fällen strafrechtlicher Produkthaftung. 1. Ressortprinzip und Generalverantwortung. Typischerweise sind mehrköpfige Vorstände und Geschäftsführungen so organisiert, dass die Mitglieder jeweils für ein spezielles Ressort, z. B. Produktion, Finanzen oder Personal, zuständig sind. Dabei verlassen sich die einzelnen Leitungsmitglieder normalerweise darauf, dass ihre Kollegen in deren jeweiligem Verantwortungsbereich 9 21 22

2. Kapitel Strafrechtliche Verantwortung im Unternehmen sorgfältig und ordnungsgemäß handeln. Dieses für das Funktionieren arbeitsteiliger Organisationen unentbehrliche Vertrauensprinzip wird auch vom Recht respektiert. Grundsätzlich knüpft daher die strafrechtliche Verantwortung zunächst an die Ressortverteilung innerhalb der Geschäftsleitung an. 23 Beispiel: A und B sind Geschäftsführer der X-GmbH, die Werkzeugmaschinen herstellt. Dabei ist A in erster Linie für die technischen Fragen in Entwicklung und Produktion zuständig, während B sich um die kaufmännischen Fragen kümmert. Weil A aus Nachlässigkeit nicht dafür sorgt, dass die Schutzvorrichtungen an einer Maschine auf dem neuesten Stand der Technik sind, kommt es bei der Produktion zu einem schweren Unfall, bei dem ein Mitarbeiter tödlich verletzt wird. Auch dem B war bekannt, dass die Maschine schon seit längerem nicht mehr modernisiert worden war. Er hat sich jedoch darauf verlassen, dass der A schon das Nötige tun und sich über den aktuellen Stand der Sicherheitstechnik informieren werde. Eine Strafbarkeit des A wegen fahrlässiger Tötung durch Unterlassen nach 222,13 StGB kann hier ohne weiteres bejaht werden. Er hat es hier unterlassen, dafür zu sorgen, dass die Maßnahmen zum Arbeitsschutz nach dem neuesten Stand der Technik durchgeführt wurden und damit gegen Pflichten nach 3 Abs. 1, 4 Nr. 3 ArbSchG verstoßen. Fraglich ist aber, ob dieser Vorwurf auch dem B gemacht werden kann. Die Sorgfaltspflichten nach dem ArbSchG treffen den Arbeitgeber und damit die GmbH, die durch A und B als Geschäftsführer vertreten wird. Innerhalb der Geschäftsführung wurden die Pflichten nach dem ArbSchG aber ausschließlich durch A als den für die Produktion zuständigen Geschäftsführer wahrgenommen. Diese Delegierung der Pflichten an einzelne Ressorts ist grundsätzlich zulässig. B durfte sich auch darauf verlassen, dass A seinen Aufgaben ordnungsgemäß nachkommt. Daher kann dem B hier kein Pflichtverstoß vorgeworfen werden. Er ist nicht aus 222, 13 StGB strafbar. 24 Das Ressortprinzip wird aber in zweierlei Hinsicht eingeschränkt. Zum einen besteht grundsätzlich eine Pflicht jedes Mitglieds der Geschäftsleitung, die Tätigkeit der anderen Mitglieder zu überwachen. Diese Überwachungspflicht wird zwar durch das Vertrauensprinzip begrenzt. Wenn jedoch konkrete Anhaltspunkte dafür bestehen, dass ein Leitungsmitglied seine Aufgaben nicht korrekt wahrnimmt, besteht für seine Kollegen eine Pflicht zum Einschreiten. Dies ergibt sich aus dem Grundsatz der Allzuständigkeit und Generalverantwortung der Geschäftsleitung als Ganzer, der zwar durch das Ressortprinzip 10