Veränderungen im ICD-11 im Bereich Trauma & Dissoziation

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Transkript:

Veränderungen im ICD-11 im Bereich Trauma & Dissoziation Jan Gysi, November 2018 (V1.1) Einleitung Die Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme (ICD, englisch International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems) ist das wichtigste, weltweit anerkannte Klassifikationssystem für medizinische Diagnosen. Es wird von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegeben 1. Die aktuelle, international gültige Ausgabe ist ICD-10 und stammt von 1991. Jedoch wurde im Juni 2018 bereits eine erste Version des zukünftigen ICD-11 publiziert 2. Diese neue Version soll nach Angaben der WHO auf deren Weltgesundheitsversammlung im Mai 2019 verabschiedet werden. Der Zeitplan für den Übergang von ICD-10 auf ICD-11 in Tarmed, Tarpsy und anderen Abrechnungssystemen in der Schweiz ist noch nicht festgelegt. Für die Anpassung der Diagnostik in Medizin und Psychotherapie gibt es keine offiziellen Vorgaben. Seit die WHO den definitiven Text des ICD-11 verabschiedet hat, können sich BehandlerInnen bereits auf die neue Version beziehen. Die definitive englische Textversion ist online abrufbar 3.Die Übersetzung stammt vom Autoren, die definitive deutsche Version sollte spätestens im Frühjahr 2019 online erhältlich sein. Im Bereich Trauma und Dissoziation werden mit dem ICD-11 markante Verbesserungen eingeführt. Speziell in der Arbeit mit Menschen mit Traumafolgestörungen macht es deshalb Sinn, nicht mehr nach dem wissenschaftlich veralteten Klassifikationsmanual ICD-10 zu diagnostizieren, sondern bereits jetzt das moderne ICD-11 anzuwenden. Die wichtigsten Veränderungen werden hier kurz vorgestellt. 1. Übersicht zu posttraumatischen Störungen Im Bereich der posttraumatischen Störungen gibt es neu einen eigenen Ordner mit «Störungen besonders assoziiert mit Stress». In diesem Ordner werden Störungen aufgeführt, die besonders und ursächlich auf traumatische Erfahrungen zurückzuführen sind. Störungen besonders assoziiert mit Stress (6B4) im ICD-11 Posttraumatische Belastungsstörung (6B40) Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (6B41) Verlängerte Trauerreaktion (6B42) Anpassungsstörung (6B43) Die andauernde Persönlichkeitsänderung nach Extrembelastung (ICD-10: F62.0) und die akute Belastungsreaktion (ICD-10: F43.0) werden im ICD-11 nicht mehr aufgeführt. Bei allen Diagnosen müssen die Symptome wesentliche Einbussen in verschiedenen Lebensbereichen beinhalten (persönlich, Familie, Soziales, Ausbildung, Arbeit, o- der andere). 1.1 Definition von auslösendem Ereignis im ICD-11 Im Vergleich zum ICD-10 werden im ICD-11 traumatische Erfahrungen neu definiert. Die Kriterien des ICD- 10, wonach traumatische Erfahrungen Ereignisse «mit aussergewöhnlicher Bedrohung oder katastrophenartigem Ausmass» sein müssen, wurden überarbeitet. Definition Trauma im ICD-11 ICD-11 PTBS: Ein extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen. ICD-11 Komplexe PTBS: Ein extrem bedrohliches oder entsetzliches Ereignis oder eine Reihe von Ereignissen, meistens längerdauernde oder wiederholte Ereignisse, bei denen Flucht schwierig oder unmöglich war (z.b. Folter, Sklaverei, Genozidversuche, längerdauernde häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Kindsmissbrauch). Ein wesentlicher neuer Aspekt ist, dass auch Menschen, die nicht unmittelbar selber bedroht worden sind, auch posttraumatische Störungen erleiden können (Polizei, Rettungsdienst, Lokomotivführer, u.a.). 1.2 Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) Die Hauptkriterien der posttraumatischen Belastungsstörung sind im Vergleich zum ICD-10 nicht wesentlich angepasst worden. Die drei Kardinalsymptome Wieder- Dr. med. Jan Gysi FMH Psychiatrie und Psychotherapie Sollievo.net Interdisziplinäres Zentrum für Psychische Gesundheit Länggassstrasse 84 3012 Bern Tel.: 031 300 29 51 Fax 031 300 29 59 jan.gysi@sollievo.net www.sollievo.net

erleben, Vermeiden und erhöhte Wachsamkeit (Hypervigilanz) müssen weiterhin für die Diagnose der PTBS erfüllt sein. Posttraumatische Belastungsstörung (6B40) Kann nach Exposition mit einem extrem bedrohlichen oder entsetzlichem Ereignis oder einer Reihe von Ereignissen auftreten. Charakterisiert durch: 1) Wiedererleben des traumatischen Ereignisses oder der traumatischen Ereignisse in der Gegenwart in Form von lebhaften intrusiven Erinnerungen, Flashbacks, oder Albträumen, typischerweise verbunden mit starken und überflutenden Emotionen wie Angst oder Horror und starken körperlichen Empfindungen, oder Gefühlen von Überflutung oder Versunkensein mit den gleichen intensiven Emotionen wie während des traumatischen Ereignisses. 2) Vermeidung von Gedanken und Erinnerungen an das Ereignis, oder Vermeidung von Aktivitäten, Situationen oder Menschen in Verbindung mit dem Ereignis oder den Ereignissen. 3) Persistierende Wahrnehmung erhöhter gegenwärtiger Gefahr, zum Beispiel mit Hypervigilanz oder verstärkter Schreckhaftigkeit auf Reize wie unerwartete Geräusche. Die Symptome müssen mindestens über mehrere Wochen auftreten und wesentliche Einbussen in verschiedenen Lebensbereichen beinhalten (persönlich, Familie, Soziales, Ausbildung, Arbeit, oder andere). 1.3 Die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (kptbs) Im ICD-10 wurde ignoriert, dass es repetitive Gewalterfahrungen (wie z.b. organisierte sexualisierte Gewalt, Inzest über viele Jahre) und deren besonderen posttraumatischen Folgen gibt. Mit dem ICD-11 hat die WHO nun anerkannt, dass wiederholte Gewalterfahrungen vorkommen und besondere psychische Folgen verursachen können. Neu wurde deshalb die komplexe posttraumatische Belastungsstörung eingeführt. Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung (6B41) Die Komplexe Posttraumatische Belastungsstörung ist eine Störung, die nach der Exposition mit einem oder mehreren Ereignissen auftreten kann, die extrem bedrohlich oder entsetzlich waren, meistens längerdauernde oder wiederholte Ereignisse, bei denen Flucht schwierig oder unmöglich war (z.b. Folter, Sklaverei, Genozidversuche, längerdauernde häusliche Gewalt, wiederholter sexueller oder körperlicher Kindsmissbrauch). Die Störung ist charakterisiert durch die Kernsymptome der PTBS; alle diagnostischen Bedingungen für eine PTBS waren im Verlauf der Störung einmal erfüllt. Zusätzlich ist die kptbs charakterisiert durch: 1) Schwere und tiefgreifende Probleme der Affektregulation; 2) Andauernde Ansichten über sich selber als vermindert, unterlegen oder wertlos, verbunden mit schweren und tiefgreifenden Gefühlen von Scham, Schuld oder Versagen in Verbindung mit dem traumatischen Ereignis; und 3) Andauernde Schwierigkeiten in tragenden Beziehungen oder im Gefühl der Nähe zu anderen. Die Symptome müssen mindestens über mehrere Wochen auftreten und wesentliche Einbussen in verschiedenen Lebensbereichen beinhalten (persönlich, Familie, Soziales, Ausbildung, Arbeit, oder andere). 1.4 Die verlängerte Trauerreaktion Bei der verlängerten Trauerreaktion sollen prolongierte Trauerreaktionen diagnostiziert werden. Diese Diagnose ist im Vergleich zum ICD-10 neu. Verlängerte Trauerstörung (6B42) Verlängerte Trauerstörung, bei der nach dem Tod eines Partners, eines Elternteils, eines Kindes oder einer anderen nahen Person eine andauernde und tiefgreifende Trauerreaktion auftritt, charakterisiert durch ein starkes Verlangen nach der verstorbenen Person verbunden mit intensivem emotionalem Schwerz (z.b. Traurigkeit, Schuld, Wut, Leugnen, Beschuldigen, Schwierigkeiten mit dem Akzeptieren des Todes, Gefühl einen Teil von sich selber verloren zu haben, eine Unfähigkeit zu positive Gefühlen, eine emotionale Taubheit, und Schwierigkeiten, sich in soziale oder andere Aktivitäten zu begeben). Die Trauerreaktion hat für eine atypisch lange Zeit angedauert (mindestens 6 Monate) und übertrifft deutlich die erwarteten sozialen, kulturellen und religiösen Normen der Gesellschaft oder des Kontextes des Betroffenen. Trauerreaktionen, die länger angedauert haben, aber sich innerhalb der gesellschaftlichen Norm befinden, werden als normale Trauerreaktion angesehen und nicht dieser Diagnose zugeordnet. 1.5 Anpassungsstörung Die Anpassungsstörung soll längere Reaktionen beschreiben, bei denen die Kardinalsymptome der PTBS nicht erfüllt sind, jedoch trotzdem eine psychische Beeinträchtigung besteht. 2

Anpassungsstörung (6B43) Anpassungsstörungen sind maladaptive Reaktionen auf einen identifizierbaren psychosozialen Stressor oder mehrere Stressoren (z.b. Scheidung, Krankheit, Behinderung, sozio-ökonomische Probleme, Konflikte zu Hause oder an der Arbeit), die normalerweise innerhalb eines Monats nach dem Stressor auftreten. Die Störung ist charakterisiert durch eine ausgeprägte Beschäftigung mit dem Stressor und seinen Konsequenzen, mit exzessiven Sorgen, wiederholten und belastenden Gedanken an den Stressor, o- der konstantes Gedankenkreisen über die Konsequenzen, und ein Scheitern beim Anpassen an den Stressor. Die Symptome sind nicht ausreichend spezifisch o- der schwerwiegend für die Diagnose einer anderen psychischen Erkrankung und verschwinden typischerweise innerhalb von 6 Monaten, ausser der Stressor dauert länger an. Die Unterdiagnosen des ICD-10 wie kurze oder längere depressive Reaktion oder eine Störung anderer Gefühle und des Sozialverhaltens werden im ICD-11 nicht mehr erwähnt. 2. Dissoziative Störungen Im Bereich der dissoziativen Störungen sind die Anpassungen im ICD-11 besonders ausgeprägt, unter anderem weil einige neue Diagnosen eingeführt werden. Dissoziative Störungen (6B6) im ICD-11 Dissoziativ-neurologische Symptomstörungen (6B60) Dissoziative Amnesien (6B61) Trance Störung (6B62) Possession trance disorder (6B63) Dissoziative Identitätsstörung (6B64) Partielle Dissoziative Identitätsstörung (6B65) Depersonalisations-Derealisationsstörung (6B66) 2.1 Dissoziativ-neurologische Symptomstörungen (DNSS) Bei den dissoziativ-neurologischen Symptomstörungen geht es primär um körperliche dissoziative Symptome von Motorik und Sensorik. Auch einzelne psychische dissoziative Symptome wie dissoziatives Stimmenhören (welches differentialdiagnostisch vom psychotischen Stimmenhören abgegrenzt werden muss) werden hier aufgeführt. Dissoziativ-neurologische Symptomstörungen DNSS mit visuellen Beeinträchtigungen (6B60.0): Visuelle Verzerrungen, Tunnelblick, Halluzinationen, Blindheit DNSS mit akustischen Beeinträchtigungen (6B60.1): Akustische Halluzinationen (Unspezifisch), Hörverlust, dissoziatives Stimmenhören DNSS mit Schwindel oder Benommenheit (6B60.2) DNSS mit anderen sensorischen Beeinträchtigungen (6B60.3): Brennen, Schmerzen, Kribbeln, Anspannung, Gefühllosigkeit, oder andere Symptome im Zusammenhang mit Berührung, Geschmack, Geruch, Gleichgewicht, Tiefensensibilität, Bewegungssinn oder Temperatursinn. DNSS mit nicht-epileptischen Krampfanfällen (6B60.4) DNSS mit Beeinträchtigungen des Sprechens (6B60.5): Dysarthrie DNSS mit Parese oder Schwäche (6B60.6) DNSS mit Beeinträchtigungen des Gangs (6B60.7): Ataxie u.a. DNSS mit Beeinträchtigungen der Bewegungen (6B60.8): Chorea, Myoklonus, Tremor, Dystonie, Gesichtsspasmen, Parkinsonismus, Dyskinesien DNSS mit kognitiven Symptomen (6B60.9): eingeschränkte kognitive Leistungsfähigkeit von Erinnerung, Sprache oder anderen kognitiven Bereichen 2.2 Dissoziative Amnesie Die dissoziative Amnesie beschreibt Erinnerungslücken als singuläres dissoziatives Symptom. Amnesien im Rahmen einer (partiellen) dissoziativen Identitätsstörung sollen nicht separat diagnostiziert werden. Dissoziative Amnesie (6B61) Unfähigkeit wichtige autobiographische Erinnerungen abzurufen, typischerweise von kürzlichen traumatischen oder stressvollen Ereignissen, unvereinbar mit normalem Vergessen. Dissoziative Amnesien können kürzliche Ereignisse beinhalten, jedoch auch länger zurückliegende biographisch wichtige Ereignisse betreffen. Die verschiedentlich geäusserte Behauptung, dass traumatische Erfahrungen nicht vergessen werden können, wird von der WHO und deren ExpertInnen nicht unterstützt. 3

2.3 Dissoziative Identitätsstörung (DIS) Die dissoziative Identitätsstörung (6B64) beschreibt eine Störung, bei der zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeitszustände auftreten. Wechsel zwischen Persönlichkeitszuständen sind verbunden mit damit verbunden Veränderungen von Empfindungen, Wahrnehmung, Affekten, Kognitionen, Erinnerung, motorischer Kontrolle und Verhalten. Typischerweise gibt es Episoden von Amnesien, die schwergradig sein können. Die Symptome können nicht durch eine andere Erkrankung oder durch Substanzen oder Medikamente erklärt werden Jeder Persönlichkeitszustand hat ein eigenes phänomenales Selbstmodell, das heisst ein eigenes Ich-Bewusstsein mit eigenem Muster von Erleben, Wahrnehmen, Erfassen und Interagieren mit sich selber, dem eigenen Körper und der Umwelt. Die dissoziative Identitätsstörung wurde im ICD-10 noch «multiple Persönlichkeit» genannt und wies viele unwissenschaftliche Behauptungen auf zu Seltenheit, iatrogener Induzierbarkeit, kulturspezifischen Besonderheiten und anderen in der Zwischenzeit widerlegten Merkmalen. Manchmal wurde behauptet, dass es diese Störung nicht geben würde. Mit dem ICD-11 offizialisiert die WHO nun jedoch diese Störung noch einmal, nennt sie aber um und beschreibt sie deutlich differenzierter und ausführlicher. Die Diagnose und Differenzialdiagnose der dissoziativen Identitätsstörung braucht eine spezielle Ausbildung und viel Erfahrung in Diagnostik und Therapie. Diagnostiker ohne fundierte Kenntnisse zum Krankheitsbild sollten diese Störung weder diagnostizieren noch ausschliessen, da ein hohes Risiko für falsch negative wie auch falsch positive Diagnosen besteht. Für die Diagnostik empfiehlt sich das TADS-Interview 4. Dissoziative Identitätsstörung (6B64) Störung der Identität, charakterisiert durch zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeitszustände ( personality states ), verbunden mit deutlichen Unterbrüchen des Selbsterlebens und der eigenen Wirksamkeit. Jeder Persönlichkeitszustand beinhaltet sein eigenes Muster von Erleben, Wahrnehmen, Erfassen und Interagieren mit sich selber, dem eigenen Körper und der Umgebung. Mindestens zwei unterschiedliche Persönlichkeitszustände übernehmen wiederholt die exekutive Kontrolle des Bewusstseins und des Handelns in zwischenmenschlichen Interaktionen, im Austausch mit der Umwelt, und in verschiedenen Lebensbereichen wie Elternschaft, Arbeit, oder in Reaktion auf spezifische Situationen (z.b. als bedrohlich erlebte Situationen). 2.4 Partielle dissoziative Identitätsstörung Die partielle dissoziative Identitätsstörung (pdis) unterscheidet sich von der DIS darin, dass die Spaltung zwischen den Persönlichkeitszuständen weniger ausgeprägt ist. In der Regel treten keine Amnesien, aber regelmässig teildissoziiertes Handeln auf. Ein Persönlichkeitszustand ist dominant und andere Persönlichkeitszustände versuchen intrusiv zu beeinflussen, sind jedoch nicht dominant. Intrusive Beeinflussungsversuche beinhalten oft Selbst- und Fremdverletzungen, Essstörungen, Einnahme von Suchtmitteln und sexuelle Handlungen. Diese Diagnose ist neu. Partielle dissoziative Identitätsstörung (6B65) Störung der Identität, charakterisiert durch zwei oder mehr unterschiedliche Persönlichkeitszustände ( personality states ), verbunden mit deutlichen Unterbrüchen des Selbsterlebens und der eigenen Wirksamkeit. Jeder Persönlichkeitszustand beinhaltet sein eigenes Muster von Erleben, Wahrnehmen, Erfassen und Interagieren mit sich selber, dem eigenen Körper und der Umgebung. Ein Persönlichkeitszustand ist dominant und funktioniert normalerweise im Alltag, wird aber durch einen oder mehrere nicht-dominante Persönlichkeitszustände beeinträchtigt (dissoziative Intrusionen). Diese Intrusionen sind verbunden mit Veränderungen von Empfindungen, Wahrnehmung, Affekten, Kognitionen, Erinnerung, motorischer Kontrolle und Verhalten und werden als Beeinträchtigung des Funktionierens des dominanten Persönlichkeitszustands und typischerweise als störend erlebt. 4

Die nicht-dominierenden Persönlichkeitszustände übernehmen nicht wiederholt die exekutive Kontrolle über das Bewusstsein und das Funktionieren, aber es kann gelegentlich limitierte vorübergehende Episoden geben, in denen ein eigenständiger Persönlichkeitsanteil die exekutive Kontrolle übernimmt, um begrenzte Handlungen zu vollziehen, z.b. als Antwort auf extreme emotionale Zustände oder während Zuständen mit Selbstverletzungen oder dem Wiedererleben von traumatischen Erinnerungen. Die Symptome können nicht durch eine andere Erkrankung oder durch Substanzen oder Medikamente erklärt werden. 2.5 Depersonalisations-Derealisationsstörung Depersonalisation und Derealisation beschreiben Beeinträchtigungen der Wahrnehmung von sich selbst und der Umgebung. Sie können komorbid bei verschiedenen anderen psychiatrischen Erkrankungen wie Depression, Sucht und Psychose auftreten. Depersonalisations- Derealisationsstörung (6B66) Depersonalisation: Sich selber als fremd, unwirklich, losgelöst erleben, oder als wäre man ein Aussenbeobachter der eigenen Gedanken, Gefühle, Empfindungen, des Körpers oder der Handlungen. Derealisation: Andere Menschen, Objekte oder die Welt als fremd oder unwirklich erleben (zb wie in einem Traum, distanziere, neblig, leblos, farblos, oder visuell verzerrt), oder Gefühl des Getrenntseins von der Welt. Während Depersonalisation und Derealisation bleibt die Realitätsprüfung intakt. Nicht während andere dissoziative Störung auftritt. Schlussfolgerungen Im Bereich Trauma und Dissoziation führt die WHO mit dem ICD-11 markante Anpassungen ein. Nachdem der definitive Text nun publiziert worden ist, macht es Sinn, in vielen diagnostischen und therapeutischen Bereichen wie Psychiatrie, Forensik, Psychotherapie, Psychosomatik und Rechtspsychologie sich ab sofort auf diese neue Klassifikation zu beziehen. Die professionelle Diagnostik und Behandlung von Menschen mit posttraumatischen und dissoziativen Störungen bedarf spezieller Ausbildung. Informationen zu Weiterbildung in Diagnostik und Therapie komplexer posttraumatischer und dissoziativer Störungen nach ICD-11 sowie Literaturhinweise auf www.jangysi.ch Impressum Dr. med. Jan Gysi Facharzt für Psychiatrie & Psychotherapie FMH Sollievo.net Länggassstrasse 84 CH - 3012 Bern www.jangysi.ch info@jangysi.ch Die Urheber- und alle anderen Rechte an Inhalten und Bildern dieser Seiten gehören ausschliesslich dem Autoren. Dieser Artikel darf kopiert und weitergeleitet werden.. 1 Seite Internationale statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme. In: Wikipedia, Die freie Enzyklopädie. Bearbeitungsstand: 7. November 2018, 19:45 UTC. URL: https://de.wikipedia.org/w/index.php?title=internationale_statistische_klassifikation_der_krankheiten_und_verwandter_gesundheitsprobleme&oldid=182552844 (Abgerufen: 17. November 2018, 10:30 UTC) 2 WHO: WHO releases new International Classification of Diseases (ICD 11), June 18 2018; http://www.who.int/news-room/detail/18-06-2018-who-releases-new-international-classification-of-diseases-(icd-11) 3 https://icd.who.int/ 4 Trauma & Dissociative Symptoms Interview, nach S. Boon & H. Mathess. Deutsche Version siehe https://jangysi.ch/therapie,-medizin,-journalismus/ 5