Aus dem Deutschen Roten Kreuz Schmerz-Zentrum Mainz Direktor: Prof. Dr. H.-R. Casser



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Aus dem Deutschen Roten Kreuz Schmerz-Zentrum Mainz Direktor: Prof. Dr. H.-R. Casser Analyse der Versorgungswege von Patienten/innen mit primär therapieresistenten subakuten und chronischen Schmerzen im Deutschen Roten Kreuz Schmerz-Zentrum Mainz Inaugural-Dissertation zur Erlangung der Doktorwürde der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg vorgelegt von Regina Sorg aus Usingen/Taunus

Gedruckt mit Erlaubnis der Medizinischen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg Dekan: Referent: Korreferent: Prof. Dr. J. Schüttler Prof. Dr. H.-R. Casser Prof. Dr. R. Forst Tag der mündlichen Prüfung: 09. März 2011

Widmung Ich widme diese Arbeit meiner Familie, insbesondere meiner Mutter, die mich über viele Jahre in jeglicher Hinsicht bedingungslos unterstützt hat.

1. Zusammenfassung...1 2. Einleitung...5 2.1. Bedeutung von chronischen Schmerzen für die Gesundheitsversorgung in Deutschland... 5 2.2. Stand der Forschung zu Versorgungswegen von Patienten mit subakuten und chronischen Schmerzen... 6 2.3. Darstellung und Ziele der Arbeit...10 3. Methodik...11 3.1. Beschreibung des Studiendesigns...11 3.2. Auswahl des Studienkollektivs...11 3.2.1. Definition chronischer Kopfschmerz, chronischer und subakuter neuropathischer Schmerz, chronischer Rückenschmerz...11 3.2.2. Ein- und Ausschlusskriterien...13 3.2.3. Rekrutierung der Patienten am DRK Schmerz-Zentrum Mainz...14 3.3. Beschreibung der ausgewählten Instrumente (Fragebögen)...14 3.3.1. Klassifizierung der Diagnosen...14 3.3.2. Beschreibung der Versorgungswege und Erhebung der Versorgungsqualität16 3.3.3. Schmerzcharakteristika und Stadium der Chronifizierung...16 3.3.3.1. Visuelle Analogskala (VAS)...16 3.3.3.2. Schmerzempfindungsskala (SES)...16 3.3.3.3. Pain and Disability Index (PDI)...18 3.3.3.4. Mainzer Stadienkonzept der Schmerzchronifizierung...18 3.3.4. Lebensqualität und Psychopathologien...20 3.3.4.1. Angst und Depressivität Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS)..20 3.3.4.2. Fragebogen zum Gesundheitszustand (SF-12)...21 3.3.4.3. HIT-6 und MIDAS...22 3.3.5. Patientenzufriedenheit mit der Behandlung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz....23 3.3.6. Soziodemographische, sozialrechtliche und gesundheitsökonomische Variablen...23 3.4. Besonderheiten der Patientenversorgung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...24 3.4.1. Ambulante Behandlung...25 3.4.2. Tagesklinik...25 3.4.3. Stationärer Bereich...26 3.5. Studiendurchführung und Datenmanagement...27 3.6. Statistische Auswertung...28

4. Ergebnisse...29 4.1. Beschreibung des erfassten Patientenkollektivs...29 4.1.1. Patientenanzahl und entwicklung...29 4.1.2. Diagnosen, Demographie und sozialrechtliche Daten...29 4.1.3. Psychometrische Daten (Baseline)...37 4.2. Versorgungswege der Schmerzpatienten bis zum Kontakt mit dem DRK Schmerz-Zentrum Mainz...41 4.2.1. Selbstbehandlung der Schmerzen vor dem ersten Arztkontakt...41 4.2.2. Erster Arztkontakt wegen der Schmerzen...41 4.2.3. Erster Facharztkontakt wegen der Schmerzen...44 4.2.4. Arztkonsultationen vor der Erstvorstellung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz45 4.2.5. Initiatoren der Facharztkontakte...49 4.2.6. Kontakte zu speziellen Schmerztherapeuten vor Erstvorstellung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...49 4.2.7. Zeitspanne bis zum Erstkontakt mit dem DRK Schmerz-Zentrum Mainz...50 4.2.8. Diagnostik bis zum Kontakt mit dem DRK Schmerz-Zentrum Mainz...51 4.2.9. Nicht-medikamentöse Therapie bis zum Kontakt zum DRK Schmerz-Zentrum Mainz...56 4.2.10. Medikamentöse Therapie bis zum Kontakt zum DRK Schmerz-Zentrum Mainz...60 4.2.11. Inanspruchnahme alternativer Heilverfahren...61 4.2.12. Inanspruchnahme weiterer Leistungen im Gesundheitssystem...62 4.2.13. Initiative zur Vorstellung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...63 4.3. Versorgung der Patienten im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...64 4.3.1. Dauer vom Erstkontakt bis zum ersten Termin im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...64 4.3.2. Erwartungshaltung der Patienten vor Behandlungsbeginn im DRK Schmerz- Zentrum Mainz...64 4.3.3. Weitere Behandlung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...65 4.3.4. Weitere Diagnostik im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...67 4.3.5. Weitere Therapien im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...70 4.3.6. Kontakte des DRK Schmerz-Zentrum Mainz zum Hausarzt bzw. zum überweisenden Arzt...72 4.3.7. Status der Behandlung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...73 4.3.8. Veränderung der Schmerzen nach der Behandlung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...73

4.3.8.1. Einschätzung der behandelnden Ärzte im DRK Schmerz-Zentrum Mainz bezüglich der Prognose...73 4.3.8.2. Veränderung der Schmerzen aus Patientensicht...73 4.3.8.3. Änderung der AU-Tage, persönlicher Kosten und schwerwiegender Erkrankungen...76 4.3.9. Erfüllung der Erwartungen der Patienten an das DRK Schmerz-Zentrum Mainz...77 4.4. Versorgung der Patienten außerhalb des DRK Schmerz-Zentrums Mainz...78 4.4.1. Arztkontakte nach dem Erstinterview...78 5. Fazit, Diskussion der Ergebnisse...81 5.1. Repräsentativität des untersuchten Patientenkollektivs...81 5.2. Rolle der allgemeinen ambulanten Versorgung im untersuchten Patientenkollektiv...82 5.2.1. Selbstmedikation und eigenverantwortliche Therapien von Schmerzpatienten....83 5.2.2. Rolle des Hausarztes für Schmerzpatienten...84 5.2.3. Rolle des Facharztes für Schmerzpatienten...85 5.2.4. Diagnostik und Therapie von Schmerzsyndromen in der allgemeinen Versorgung von Schmerzpatienten...87 5.2.5. Ansatzpunkte zur Verbesserung der allgemeinen Versorgung von Schmerzpatienten...89 5.3. Rolle der speziellen schmerztherapeutischen Versorgung im untersuchten Patientenkollektiv...91 5.3.1. Beurteilung der Zeitspannen bis zur Versorgung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...91 5.3.2. Zuweisungswege zum DRK Schmerz-Zentrum Mainz...91 5.3.3. Beurteilung des Versorgungsweges innerhalb des DRK Schmerz-Zentrum Mainz...92 5.3.4. Beurteilung der Diagnostik im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...93 5.3.5. Beurteilung der Therapie im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...93 5.3.6. Beurteilung des Behandlungserfolges im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...94 5.3.7. Ansatzpunkte zur Verbesserung der Behandlung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz...95 5.3.8. Zusammenfassende Bewertung der speziellen schmerztherapeutischen Versorgung...97

5.4. Vergleich der Daten des Mainzer Patientenkollektivs mit den Daten des Berliner Patientenkollektivs...98 I. Literaturverzeichnis...100 II. Elektronisches Verzeichnis...106 III. Abkürzungsverzeichnis...108 IV. Tabellenverzeichnis...110 V. Abbildungsverzeichnis...112 VI. Danksagung...117 VII. Anhang...116 Anmerkung: Um zahlreichen Wortwiederholungen und dadurch entstehender Unübersichtlichkeit vorzubeugen, wurde statt der Nennung beider Geschlechter jeweils nur die männliche Form gewählt. Selbstverständlich sind immer Patientinnen und Patienten, Ärztinnen und Ärzte etc. gemeint.

1 1. Zusammenfassung Hintergrund und Ziele: Etwa jeder fünfte Bürger der Bundesrepublik Deutschland leidet unter chronischen Schmerzen. Untersuchungen zeigen, dass die Versorgungswege von Patienten mit primär therapieresistenten subakuten und chronischen Schmerzen unzureichend strukturiert und organisiert sind. In der vorliegenden Arbeit werden die Versorgungswege dieser Patienten beschrieben, mögliche Ursachen der Mangelversorgung benannt und Ansätze zur Verbesserung aufgezeigt. Methodik: Im DRK Schmerz-Zentrum Mainz wurde eine prospektive Beobachtungsstudie mit retrospektivem Studienteil zu Beginn der Untersuchung durchgeführt. Zu diesem Zweck fanden strukturierte Arzt- und Patienteninterviews statt. Insgesamt wurden 95 Patienten vor ihrem ersten Vorstellungstermin im DRK Schmerz- Zentrum Mainz befragt und im Abstand von jeweils sechs Monaten erneut interviewt. Eingeschlossen wurden Patienten mit den drei häufigsten Schmerzdiagnosen. Das untersuchte Kollektiv umfasst 20 Kopfschmerz-Patienten, 66 Rückenschmerz- Patienten und neun Patienten mit neuropathischen Schmerzen, davon 64 Frauen und 31 Männer. Bei der ersten Follow-up Befragung nach sechs Monaten beteiligten sich noch 90 Patienten, für das zweite Follow-up nach zwölf Monaten lagen Daten von 83 Patienten vor. Ergebnisse und Beobachtungen: Die befragten Patienten hatten ein mittleres Alter von 56 Jahren und waren überwiegend hoch chronifiziert (46% Stadium II, 29% Stadium III nach Gerbershagen). Kopfschmerz-Patienten erreichten ein signifikant geringeres Stadium der Chronifizierung als Rückenschmerz-Patienten oder Patienten mit neuropathischen Schmerzen. Etwa die Hälfte der Patienten versuchte beim ersten Auftreten der Schmerzen diese zunächst alleine in den Griff zu bekommen. Zu diesem Zweck setzte jeder dritte auch rezeptfreie Medikamente ein. Nach im Mittel zwei Monaten wurde der Hausarzt konsultiert, ein Facharzt wurde im Durchschnitt nach einem Jahr hinzugezogen. Drei Viertel der Patienten waren zum Zeitpunkt der Befragung noch regelmäßig beim Hausarzt in Behandlung. Die Schmerzerkrankung bestand seit durchschnittlich 15,5 Jahren bis es zur Überweisung ins DRK Schmerz- Zentrum kam (Interquartilsabstand: 6,5 25,5 Jahre). Bei zwei Dritteln der Patienten erfolgte die Zuweisung auf professionellem, bei einem Drittel jedoch auf nichtprofessionellem Wege. RS-Patienten besuchten häufiger einen Facharzt als KS-Patienten. Insgesamt wurden die FA-Besuche etwa jeweils zur Hälfte vom Hausarzt oder dem Patienten selbst initiiert. Jeder Dritte Studienteilnehmer hatte bereits vor dem Vorstellungstermin im

2 DRK Schmerz-Zentrum Mainz Kontakt zu einem anderen speziellen Schmerztherapeuten. Bei vielen Patienten wurden in der Krankengeschichte bildgebende, diagnostische Maßnahmen mehrfach veranlasst, während eine gründliche körperliche Untersuchung nicht immer stattfand (subjektiver Eindruck des Patienten). Diagnostische und therapeutische Verfahren aus dem psychologischen Bereich waren deutlich unterrepräsentiert. Vor allem bei Kopfschmerz-Patienten war die Therapie durch die Verordnung von Medikamenten geprägt. Insgesamt hatte ein Drittel der Patienten bereits starke Opioide wegen der Schmerzen eingenommen. Die Hälfte der Kopfschmerz-Patienten war bereits mit Triptanen vorbehandelt. Nach dem ersten Untersuchungstermin im DRK Schmerz-Zentrum Mainz wurde etwa jeder zweite Patient zu einem stationären Aufenthalt von durchschnittlich drei Wochen Dauer aufgenommen. Knapp ein Fünftel der Patienten wurde ambulant behandelt, ein weiteres Fünftel beendete die Behandlung nach der Erstvorstellung. Die erfassten psychometrischen Daten der Patienten haben sich im Verlauf in allen Bereichen signifikant gebessert. Besonders deutlich fielen die mittels Pain and Disability Index und affektiver Schmerzempfindungs-Skala ermittelten Veränderungen aus. Praktische Schlussfolgerung: Die vorliegende Untersuchung bestätigt die These der unzureichenden Versorgungswege für Patienten mit chronischen Schmerzen in Deutschland. Insbesondere auf der Ebene der allgemeinen Versorgung besteht großer Verbesserungsbedarf. Chronifizierungsgefährdete Patienten müssen frühzeitig erkannt und leitliniengestützt versorgt werden. Häufige Doppeltuntersuchungen und Fixierungen auf passive Therapiemaßnahmen sollten vermieden und Überweisungszeiten zu speziellen schmerztherapeutischen Einrichtungen verkürzt werden.

3 Summary Background and objectives: Approximately every fifth citizen of the federal Republic of Germany suffers from chronic pain. Studies show the channels of healthcare for patients suffering from primarily therapy-resistant subacute and chronic pain to be insufficiently structured and organised. The present study describes those patients channels of healthcare, names possible causes for the lack of care and indicates approaches for improvement. Methods: In collaboration with the DRK Schmerz-Zentrum Mainz a prospective observational study with a retrospective part at the beginning was conducted. For this purpose structured interviews with doctors and patients took place. A total of 95 patients were interviewed prior to their first examination at DRK Schmerz-Zentrum Mainz and further interviews were held in intervals of six months. Patients with the three most common diagnoses of pain were included in this study. The studied collective was comprised of 20 patients with headaches, 66 patients with backpain and nine patients with neuropathic pain. 64 patients were female and 31 patients male. 90 patients participated in the first follow-up interview after six months and 83 patients were available for the second follow-up interview twelve months after the introductory interview. Results and observations: The queried patients had a medial age of 56 years and were predominantly highly chronified (46% stage II, 29% stage III as per Gerbershagen). Patients suffering from headaches had a significantly lower stage of chronification than those suffering from backpain or neuropathic pain. Upon the first appearance of pain about half of the patients tried to get the pain under control themselves. Therefore, a third of the patients used non-prescription drugs. After an average of two months the patients consulted their regular doctor. A specialist was averagely consulted after one year. At the time of interviewing three quarters of the patients were still being treated regularly by their regular doctor. The disease causing the pain existed for 15.5 years on average before the patients were referred to the DRK Schmerz-Zentrum (interquartile range: 6.5 25.5 years). Two thirds of the patients were referred in a professional way, a third, however, reached the unit in a nonprofessional way. Patients suffering from back pain consulted a specialist more often than patients with headaches did. The consultation of a specialist was in equal parts initiated by the regular doctor and by the patients themselves. Every third participant of the study had already contacted a different Therapist specialized in the treatment of pain before coming to the DRK Schmerz-Zentrum Mainz. According to medical history many patients underwent multiple radiological imaging as diagnostic procedure, while a

4 thorough physical examination did not always take place (subjective impression of the patient). Diagnostic and therapeutic procedures from the psychological field were clearly underrepresented. Especially the treatment of patients suffering from headaches was marked by the prescription of drugs. A third of the patients had already taken strong opioids to relieve the pain. Half of the patients with headaches had prior been treated with Triptane. After the first examination by the DRK Schmerz-Zentrum Mainz every second patient was admitted for in-patient treatment for an average length of three weeks. Almost a fifth of the patients received ambulatory treatment and another fifth ended the treatment after the first examination. The acquired psychometric data of the patients improved significantly in all areas during the course of the study. Particularly noticable are the ascertained changes by means of Pain and Disabiliy Index and affective pain experience scale. Practical conclusion: The present study confirms the thesis of insufficient channels of healthcare for patients suffering from chronic pain in Germany. Particularly the level of general care is in need of great improvements. Patients at risk of chronifying have to be diagnosed at an early stage and need to be treated acording to guidelines. Frequent double examinations and fixations on passive therapy procedures should be avoided and the time it takes to refer patients to facilities specialized in treating pain should be shortened.

5 2. Einleitung 2.1. Bedeutung von chronischen Schmerzen für die Gesundheitsversorgung in Deutschland Chronische Schmerzen sind ein in der Bevölkerung weit verbreitetes Krankheitsbild. Laut einer von der WHO in Auftrag gegebenen multizentrischen Studie, stellen chronische Schmerzpatienten weltweit einen Anteil von 22 Prozent der Patienten der Primärversorgung dar (Gureje et al. 1998). In Australien wurden Punktprävalenzen für chronische Schmerzen (mindestens drei Monate) von 17 Prozent für Männer und 20 Prozent für Frauen ermittelt (Blyth et al. 2001). Frauen sind häufiger von chronischen Schmerzen betroffen und geben eine größere Schmerzstärke und mehr Schmerzlokalisationen an (Andersson et al. 1993). Eine Studie in 15 europäischen Ländern und Israel ergab, dass jeder fünfte Bürger in Europa (für Deutschland 17 Prozent) unter chronischen Schmerzen (Schmerzen länger als sechs Monate) mit einer Mindestschmerzstärke von fünf auf einer visuellen Analogskala von eins bis zehn leidet (Breivik et al. 2006). Für chronische Rückenschmerzen wurden in Deutschland Ein-Jahres-Prävalenzen von 16 Prozent für Männer und 22 Prozent für Frauen ermittelt (Neuhauser et al. 2005). Die Lebenszeitprävalenz für chronische RS in Deutschland liegt nach dieser Studie bei 24 Prozent für Männer und 30 Prozent für Frauen. Die Ein-Jahres-Prävalenzen für Migräne betragen in Deutschland 12 Prozent (Kavuk et al. 2004). Nach Hochrechnungen gibt es etwa 2 Millionen Patienten mit rezidivierenden Migräneattacken und 3 Prozent der Bevölkerung leiden unter chronischen Spannungskopfschmerzen (Bundesgesundheitssurvey 1998 1 ). Eine Studie in Schweden hat vor allem für Kopfschmerzen ein deutliches Überwiegen des weiblichen Geschlechts und zusätzlich eine größere Komorbidität zwischen Schmerz und psychiatrischen und somatischen Problemen unter Frauen festgestellt (Bingefors und Isacson 2004). Aus einer Umfrage in schmerztherapeutischen Einrichtungen ergibt sich folgende Verteilung der Schmerzsyndrome (Zimmermann 2001):

6 Tabelle 1: Schmerzsyndrome in 104 schmerztherapeutischen Einrichtungen in Deutschland; 1993 durchgeführte Umfrage bei Schmerztherapeuten (aus Zimmermann 2001) Schmerzsyndrom Zahl der Patientenkontakte pro Woche % Bewegungssystem 2519 44,7 Kopfschmerzen 1716 30,5 Neuropathische Schmerzen 689 12,2 Tumorschmerzen 519 9,2 Ischämie 156 2,8 Medikamentenmissbrauch 34 0,6 Gesamtzahl 5633 100 Schmerzsyndrome des Bewegungssystems und Kopfschmerzen stehen deutlich im Vordergrund. Allein die durch Rückenschmerzen verursachten direkten und indirekten Kosten in Deutschland belaufen sich auf 22 Mrd., dies entspricht etwa einem Prozent des Bruttosozialproduktes (Schmidt und Kohlmann 2005). Für Patienten mit neuropathischen Schmerzen lagen die Gesundheitsausgaben im Jahr 2000 dreimal höher als bei Kontrollpatienten ohne neuropathische Schmerzen (Berger et al. 2004). Ob chronische Schmerzerkrankungen in den letzten Jahren häufiger geworden sind, wird in der Literatur unterschiedlich bewertet. Teils wird vermutet, dass der Anteil von Patienten mit chronifizierten Schmerzzuständen und den damit zusammenhängenden ausgeprägten psychosozialen Belastungsfaktoren in Deutschland größer wurde (Gerbershagen et al. 2002), andere Studien konnten für akute wie auch chronische Rückenschmerzen aber keine Zunahme der Punkt- und Ein-Jahres-Prävalenzen feststellen (Huppe et al. 2006). 2.2. Stand der Forschung zu Versorgungswegen von Patienten mit subakuten und chronischen Schmerzen In der Primärversorgung sind Arztbesuche im Zusammenhang mit akuten oder chronischen Schmerzen sehr häufig. In Italien machen sie ein Drittel der Konsultationen aus (Koleva et al. 2005), in Finnland sogar 40 Prozent (Mäntyselkä et al. 2001). Chronische und akute Schmerzen sind dabei etwa gleich häufig vertreten. 60 Prozent der chronischen Schmerzpatienten haben in den letzten sechs Monaten zweibis neunmal ihren Arzt aufgesucht, 11 Prozent sogar zehn mal und mehr (Breivik et al. 2006). Laut dieser Erhebung wurden gut zwei Drittel der Patienten in dieser Zeit wegen der Schmerzen hauptsächlich von ihrem Hausarzt behandelt. Nur 10 Prozent der deutschen chronischen Schmerzpatienten waren jemals bei einem speziellen

7 Schmerztherapeuten vorstellig; in Israel, Italien und Frankreich liegt dieser Anteil dagegen bei etwa 40 Prozent. In Deutschland geht man von etwa 5 Millionen chronischen Schmerzpatienten aus, davon werden 600.000 als Problempatienten mit chronifizierender Schmerzkrankheit beschrieben, die einer besonderen Betreuung bedürfen (Zimmermann 1994). Für diese Patienten wird eine interdisziplinäre Versorgung durch Ärzte mit der Zusatzbezeichnung Spezielle Schmerztherapie gefordert. Dies entspräche einem Bedarf von etwa 2000 schmerztherapeutischen Einrichtungen (Zimmermann 1994). Zur Klassifikation schmerztherapeutischer Versorgungseinrichtungen gibt es international keine einheitliche Nomenklatur. In Deutschland wird von der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) unterschieden in Schmerzkrankenhäuser, Schmerzabteilungen, Schmerzambulanzen und Schmerzpraxen, ohne einheitliche Zuständigkeitskonzepte für die einzelnen Versorgungsstufen (Gerbershagen et al. 2002). Laut einer Erhebung gibt es insgesamt 579 schmerztherapeutische Angebote an deutschen Kliniken mit etwa 80.000 versorgten Patienten pro Jahr, davon können 33.000 Patienten stationär und 17.000 Patienten in einer Tagesklinik behandelt werden (Lindena et al. 2004). Neuere Daten zur Struktur der ambulanten Schmerztherapie in Deutschland ergaben 545 schmerztherapeutische Angebote mit 443.931 versorgten Patienten pro Jahr (Kayser et al. 2008). In dieser Erhebung zeigten sich große regionale und qualitative Unterschiede in der Versorgung von Schmerzpatienten (Bayern 2,8 Einrichtungen pro 1000 Einwohner, Thüringen 9,4 Einrichtungen pro 1000 Einwohner). Es zeichnet sich zwar insgesamt eine positive Entwicklung in den letzten Jahren ab, in Deutschland besteht aber immer noch eine Unterversorgung chronischer Schmerzpatienten. Anhand des kanadischen Gesundheitssurveys wurde ein signifikant größerer Ressourcenverbrauch von Patienten mit chronischen unteren RS (sog. low back pain ) in verschiedenen Kategorien des Gesundheitssystems als bei anderen Patientengruppen ermittelt (Lim et al. 2006). Starke Schmerzen, große schmerzbedingte Behinderungen und depressive Symptome sind demnach verbunden mit einer größeren Anzahl an Besuchen bei Ärzten, Physiotherapeuten, Masseuren und Akupunkteuren. Je geringer der Grad funktioneller Beeinträchtigung ist, je häufiger werden Chiropraktiker und Masseure aufgesucht. Geringerer sozioökonomischer Status korreliert hier mit weniger Kontakten in allen Bereichen des Gesundheitssystems (Lim et al. 2006).

8 Den größten Einfluss auf die Anzahl der Kontakte zum Gesundheitssystem hat das Ausmaß der schmerzbedingten Behinderung, unabhängig von anderen prädiktiven Variablen wie z.b. Geschlecht oder Alter (Blyth et al. 2004). Ein positiver Zusammenhang zwischen sozioökonomischem Status und aktiven Verhaltensstrategien wurde in mehreren Studien nachgewiesen (z.b. Andersson et al. 1999 und Blyth et al. 2005). Außerdem sind Strategien zum Selbstmanagement assoziiert mit geringerer schmerzbedingter Behinderung und weniger Kontakten zum Gesundheitssystem. In der Studie von Breivik et al. 2006 liegt die mittlere Schmerzdauer deutscher Probanden mit chronischen Schmerzen bei 6,9 Jahren (Gesamtstudie sieben Jahre), davon hat ein Drittel sehr starke Schmerzen (acht bis zehn auf VAS). 40 Prozent dieser Patienten erfahren ein inadäquates Schmerzmanagement (Deutschland 29 Prozent), nur 10 Prozent wurden in Deutschland jemals einem speziellen Schmerztherapeuten vorgestellt (Europaweit 23 Prozent). Zum Befragungszeitpunkt wurden 70 Prozent der Probanden vom Hausarzt, 27 Prozent vom Orthopäden, 10 Prozent vom Neurologen und nur 2 Prozent von einem speziellen Schmerztherapeuten behandelt. Etwas mehr als die Hälfte der befragten Patienten suchte in den letzten sechs Monaten zwei bis sechs verschiedene Ärzte auf. Gut zwei Drittel der Patienten hatten nichtmedikamentöse Anwendungen durchgeführt. Hauptvertreter waren dabei Massagen (46%), Physiotherapie (38%), Akupunktur (16%), Salben und Wärme. Knapp 40 Prozent der Patienten haben diese Anwendungen sehr geholfen. Massagen wurden vor allem in Deutschland, Polen und Österreich besonders häufig angewendet (dagegen Irland und Großbritannien nur 15%). Multidisziplinäre Therapieansätze waren kaum vertreten. Die in Deutschland zur Linderung der Schmerzen eingenommenen Medikamente bestanden zu knapp der Hälfte aus NSAIDs, zu einem Fünftel aus schwachen Opioiden, 8 Prozent Cox-2-Hemmern, 4 Prozent starken Opioiden und 2 Prozent Paracetamol. Je häufiger Patienten Schmerzepisoden erleben und je mehr Komorbiditäten vorhanden sind, umso stärker beanspruchen sie die Hilfe von Spezialisten. Kontakte zu Ärzten der Primärversorgung werden gleichzeitig weniger (Ritzwoller et al. 2006). Dieser Gruppe von Schmerzpatienten sollte in der Therapie größere Aufmerksamkeit gewidmet werden um die kurzfristigen wie langfristigen Kosten zu reduzieren. Zur Reduktion der schmerzbedingten Behinderung und der Schmerzstärke wurde in den letzten Jahren immer mehr Evidenz für multimodale Therapieansätze gefunden (Flor et al. 1992). Diese sind hinsichtlich der Schmerzreduktion, der Abnahme des Schmerzmittelverbrauchs und der Zunahme an Lebensqualität der monodisziplinären Therapie deutlich überlegen (Becker et al. 2000). Widersprüchliche Aussagen kommen von einer Studie aus der Schweiz, in der keine langfristigen Vorteile einer

9 multidisziplinären ambulanten Schmerztherapie gegenüber einer konventionellen Therapie festgestellt werden konnten (Joos et al. 2004). Bausteine einer multimodalen Schmerztherapie folgen einem biopsychosozialen Krankheitsbild (Wadell 1998). Die einzelnen Einrichtungen differieren zwar hinsichtlich ihres Angebotes, einige Grundpfeiler der Therapie sind jedoch regelmäßig vertreten (Williams 1996). Dazu gehören Patientenedukation, Aktivierung des Patienten, Veränderung schmerzbezogener Kognitionen und Emotionen, medizinische Verfahren (wie z. B. Medikamentenmodifikationen, Regionalanästhesien, antidepressive Behandlung), Einbezug und Beratung von Partner/Familie, berufliche Wiedereingliederung, Entspannung und physikalische Verfahren (Nilges et Ljutow 1999). Allerdings profitiert hiervon nur ein kleiner Teil der chronischen Schmerzpatienten, da nur wenige Einrichtungen ein solch kosten- und personalintensives Therapieprogramm gewährleisten können und eine Überweisung zu diesen Spezialeinrichtungen oft zu spät erfolgt (Schulte et al. 2006). Bisher weisen lediglich 4 Bundesländer multidisziplinär besetzte schmerztherapeutische Einrichtungen im Krankenhausbedarfsplan des Landes aus obwohl ein gesetzlicher Anspruch auf Krankenhausbehandlung beim Vorliegen entsprechender Voraussetzungen besteht (Arnold et al 2009). Hierzu gehören eine unzureichende Effektivität der ambulanten Behandlung, eine besondere Komplexität des Krankheitsbildes und ein deshalb erforderlicher erhöhter ärztlicher und pflegerischer Aufwand. Einer Chronifizierung könnte in vielen Fällen bereits in der Primärversorgung vorgebeugt werden. Für die Behandlung akuter, rezidivierender und chronischer Rückenschmerzen liegt eine auf Initiative der Bertelsmann-Stiftung 2007 von einem Expertenpanel verabschiedete Leitlinie vor (Bertelsmannstiftung 2007). Diese beinhaltet auch die frühzeitige Erfassung eines Chronifizierungsrisikos spätestens zwei Wochen nach Krankheitsbeginn mit der Konsequenz einer unmittelbaren Zuführung zu interdisziplinärer Behandlung. Bei diesen Patienten liegen aber im Gegensatz zu bereits chronifizierten Schmerzpatienten bisher keine belegten Erkenntnisse zum erforderlichen Therapieumfang vor (Arnold et al 2009). Die flächendeckende Implementierung einheitlicher Leitlinien und eine entsprechende abgestufte Versorgung der Patienten stellt weiterhin eine Herausforderung für die Zukunft der Schmerztherapie dar.

10 2.3. Darstellung und Ziele der Arbeit Bisher durchgeführte Untersuchungen beschreiben für Deutschland unzureichend strukturierte und organisierte Versorgungswege für Patienten mit primär therapieresistenten subakuten und chronischen Schmerzen. In dieser Arbeit sollen diese unzureichenden Versorgungswege durch quantitative und qualitative Beschreibung aufgezeigt werden. Mögliche Ursachen für die Mangelversorgung werden benannt, um einzelne Faktoren der Versorgungswege verbessern zu können. Spezielle schmerztherapeutische Einrichtungen wie das DRK Schmerz-Zentrum Mainz werden von Patienten mit primär therapieresistenten subakuten und chronischen Schmerzen oft erst nach einer langen Krankheitsgeschichte aufgesucht. Die Patienten haben meist bereits eine Vielzahl unnötiger diagnostischer Maßnahmen und eine Reihe ineffizienter Therapieversuche erlebt. Um die Wege dieser Patienten innerhalb des Versorgungssystems möglichst wahrheitsgemäß abzubilden, werden Patienten mit den drei häufigsten Schmerzsyndromen am Tag ihrer ersten Vorstellung im DRK Schmerz-Zentrum Mainz mittels eines standardisierten Interviews retrospektiv befragt. Im Follow-up wird die weitere Versorgung durch die spezielle schmerztherapeutische Einrichtung bzw. der allgemeine Versorgungsweg analysiert. Es wird überprüft, ob die Patienten wieder in die Primärversorgung integriert werden und ob die durch das DRK Schmerz-Zentrum Mainz initiierten Therapien Auswirkungen auf die Schmerzerkrankung haben. Die Arbeit geht über eine rein epidemiologische Studie hinaus, da sie auch die medizinische Versorgung genau betrachtet, ohne dabei nur einen kleinen Ausschnitt der medizinischen Realität abzubilden, wie es bei klinischen Interventionsstudien oft der Fall ist.

11 3. Methodik 3.1. Beschreibung des Studiendesigns Bei der vorliegenden Arbeit handelt es sich um eine in der Schmerzambulanz des DRK Schmerz-Zentrums Mainz durchgeführte prospektive Beobachtungsstudie mit retrospektivem Studienteil zu Beginn der Untersuchung. Es wurden strukturierte Arztund Patienteninterviews geführt. Die Fragebögen erhoben quantitative Daten, einige wenige qualitative Fragen waren aber ebenfalls enthalten. Patienten mit chronischen Kopfschmerzen, chronischen Rückenschmerzen sowie chronischen und subakuten neuropathischen Schmerzen, die erstmalig den Kontakt zur Ambulanz des DRK Schmerz-Zentrum Mainz suchten, wurden während eines Zeitraumes von sechs Monaten konsekutiv gescreent. Bei Bereitschaft zur Teilnahme und Bestätigung der Studiendiagnose durch den behandelnden Arzt wurden diese retrospektiv zu ihren bisherigen Versorgungswegen befragt und daraufhin über zwölf Monate prospektiv verfolgt und nochmals interviewt. Diese Studie wurde zuvor ebenso in Berlin durchgeführt, hier wurden Patienten aus den vier Schmerzambulanzen der Charité sowie von zwei niedergelassenen Schmerztherapeuten befragt. Die Daten aus beiden Studienorten wurden verglichen. 3.2. Auswahl des Studienkollektivs 3.2.1. Definition chronischer Kopfschmerz, chronischer und subakuter neuropathischer Schmerz, chronischer Rückenschmerz Die Definition der International Association for the Study of Pain (IASP Bonica 1979) für Schmerz lautet: Schmerz ist ein unangenehmes Sinnes- und Gefühlserlebnis, das mit aktueller oder potenzieller Gewebeschädigung verknüpft ist oder mit Begriffen einer solchen Schädigung beschrieben wird. Als chronisch bezeichnet man in der Literatur meist über sechs Monate, dauerhaft bestehende Schmerzen, bei denen die Ursache nicht mehr allein auf eine spezifische Krankheit zurückgeführt werden kann. Ein Hinweis für nozizeptive Stimulation oder

12 neuropathische Störung kann fehlen und die Prognose ist ohne multimodale therapeutische Intervention ungünstig (Gehling und Tryba 2001). Die Unterscheidung in akuten oder chronischen Schmerz wirft jedoch einige Probleme auf. So gibt es in der Literatur keine einheitliche Definition zu chronischem Schmerz. Raspe H. et al. 2003 fanden bei einer Recherche zu Definitionen chronischer Rückenschmerzen in 40 verschiedenen Studien sehr unterschiedliche Angaben. Meist erfolgte die Beschreibung anhand von Zeitschemata. Dabei variieren die Zeitangaben zwischen 4 Wochen und 12 Monaten. Einige Autoren fordern zusätzlich ein bestimmtes Ausmaß an funktioneller Beeinträchtigung, Partizipationsstörungen wie Arbeitsunfähigkeit oder häufige Arztkonsultationen. Andere führen als Kriterium Behandlungsresistenz an. Die Quebec Task Force (Spitzer 1987) nutzt ein zeitliches Kriterium (ein mehr als sieben Wochen dauernder Schmerz) und beschreibt zusätzlich ein Schmerzsyndrom als chronisch, wenn eine mögliche behandelbare aktive Erkrankung ausgeschlossen und der Schmerz mit all seinen Konsequenzen zur Hauptsorge des Patienten wird und seine täglichen Aktivitäten limitiert. Allgemein gilt für chronische Schmerzen: - Der Schmerz wird zum Dauerschmerz der immer mehr zur Behinderung wird. - Die Lebensqualität ist durch den Schmerz stark eingeschränkt. - Der Schmerz verliert seine Leit- und Warnfunktion und erlangt selbständigen Krankheitswert. - Für Kopfschmerz gilt: Dauer und Häufigkeit der Episoden steigen stark an. Die Pathophysiologie des chronischen Schmerzes lässt sich mit der Plastizität des Nervensystems ( Schmerzgedächtnis ) erklären: - Unter wiederholter Schmerzreizung verändern sich biochemische und physiologische Funktionen der Nervenzellen bis auf Niveau der Gen-Ablesung. - Zentrale Hemmmechanismen werden abgeschwächt. Es resultiert eine erhöhte Empfindlichkeit des Nervensystems auf nachfolgende Schmerzreize. In die Studie wurden Patienten mit chronischen Kopfschmerzen, chronischen und subakuten neuropathischen Schmerzen und chronischen Rückenschmerzen aufgenommen.

13 Kopfschmerzen wurden nach der International Headache Society (IHS) in primäre (keine bekannte, ursächliche strukturelle Läsion) und sekundäre (KS als Symptom anderer Erkrankungen oder äußerer Einflüsse) Kopfschmerz-Erkrankungen eingeteilt. Es wurden Patienten mit Migräne, Spannungskopfschmerz, Kopfschmerz nach Schädeltrauma, medikamenteninduziertem Kopfschmerz und anderen Kopfschmerzformen in die Studie aufgenommen. In die Kategorie Rückenschmerzen wurden für die Studie nur Patienten mit Schmerzen die von der LWS- und BWS ausgingen eingeschlossen. Es wurde unterschieden, ob eine Ausstrahlung der Schmerzen, zusätzliche neurologische Befunde, Wurzelkompressionen, spinale Stenosen oder ein postoperativer Status vorlagen. Neuropathische Schmerzen sind laut IASP 2 (Vergleiche Internetauftritt IASP) Schmerzen, die initiiert oder verursacht werden durch eine primäre Läsion, eine Dysfunktion oder eine vorübergehende Irritation des peripheren oder zentralen Nervensystems. Es kommt zu einer Funktionsstörung oder pathologischen Veränderung im nozizeptiven System (Baron und Jänig 2001). So zählten hierzu im Rahmen der Studie z. B. Patienten mit CRPS (I und II), akutem Herpes Zoster, postzosterischen Schmerzen, Trigeminusneuralgien, Polyneuropathien, fokalen Neuropathien, Phantomschmerzen und zentralen Schmerzsyndromen. Der Original-Diagnosebogen ist im Anhang wiedergegeben. 3.2.2. Ein- und Ausschlusskriterien Für die Teilnahme an der Studie mussten Patienten folgende Einschlusskriterien erfüllen: 1. Der Patient besuchte das erste Mal diese spezielle schmerztherapeutische Einrichtung (die Vorstellung in einer anderen schmerztherapeutischen Einrichtung zuvor war möglich). 2. Der Patient war zum baldmöglichsten Termin sowie nach 6 und 12 Monaten bereit für Interviews. 3. Bei dem Patient bestanden Kopfschmerzen, Rückenschmerzen oder neuropathische Schmerzen. 4. Eine der Schmerzdiagnosen stand im Vordergrund. 5. Eine maligne Ursache für die Schmerzen ließ sich weitgehend ausschließen.

14 6. Eine akut interventionsbedürftige Ursache für die Schmerzen ließ sich weitgehend ausschließen. 7. Der Patient war mindestens 16 Jahre alt. 8. Der Patient war sprachlich und intellektuell in der Lage, die Bedeutung der Studie nachzuvollziehen. 9. Es lief derzeit kein Rentenverfahren. 10. Die unterschriebene Einwilligungserklärung des Patienten lag vor. Die Ausschlusskriterien ergeben sich aus den Einschlusskriterien. 3.2.3. Rekrutierung der Patienten am DRK Schmerz-Zentrum Mainz Patienten mit einer der Studiendiagnosen, die sich erstmals in der Ambulanz des DRK Schmerz-Zentrums Mainz vorstellten, wurden angesprochen, die Studie wurde den Patienten ausführlich erläutert und bei Bereitschaft zur Teilnahme wurde die Einwilligung zur Studie eingeholt. Es wurde ein Fragebogen zur Schmerzstärke, Schmerzempfindung und zu psychometrischen Daten ausgefüllt. Bei Bestätigung der Studiendiagnose durch den Prüfarzt wurde im Anschluss an den Arzttermin das Interview in der Schmerzeinrichtung geführt. Teilweise fand dies aus zeitlichen Gründen innerhalb der nächsten vier Wochen statt. Sechs Monate nach dem Einschluss in die Studie wurden die Patienten erneut angeschrieben und schriftlich zu Daten zur Psychometrie und zum Schmerz befragt. Zusätzlich fand ein telefonisches Interview statt und der den Patienten zuletzt behandelnde Arzt füllte einen Arztabschlussbogen aus. Eine dritte Befragung fand zwölf Monate nach Einschluss statt. Die Patienten wurden erneut schriftlich gebeten Daten zur Psychometrie und zum Schmerz anzugeben. 3.3. Beschreibung der ausgewählten Instrumente (Fragebögen) 3.3.1. Klassifizierung der Diagnosen Jede Schmerzform wurde genauer klassifiziert. Für Kopfschmerzen wurden die Kriterien der International Headache Society (IHS) herangezogen (Olesen 1988). So wurde unterteilt in Migräne (mit und ohne Aura), Kopfschmerzen vom Spannungstyp (episodisch < 180 Tage, chronisch > 180 Tage), Clusterkopfschmerz und chronische paroxysmale Hemikranie, Kopfschmerz nach

15 Schädeltrauma, Kopfschmerz durch Einnahme von Substanzen oder deren Entzug sowie andere Kopfschmerzformen. Aus Gründen der besseren Zuordnung wurden Rückenschmerzen nicht anhand der bestehenden Klassifikationen wie z.b. MASK (Klinger et al. 2000) oder ICD 10 eingeteilt, sondern symptomorientiert anhand der Paris Task Force (Abenhaim et al. 2000) und ätiologischer Zusatzinformationen klassifiziert. Es wurden Rückenschmerzen mit und ohne Ausstrahlung, Schmerz mit Ausstrahlung und neurologischen Befunden, Verdacht auf Wurzelkompression, bestätigte Wurzelkompression, spinale Stenose und postoperativer Status unterschieden. Als wahrscheinliche Ätiologie konnte unterteilt werden in degenerativ bedingt, angeborener oder erworbener Formfehler, posttraumatisch, chronisch entzündlich, statisch bzw. muskuläre Schwäche und vorwiegend Ausdruck einer psychosomatischen bzw. neurotischen Störung. Mehrfachnennungen waren hierbei erlaubt. Für neuropathische Schmerzen konnte in der Literatur ebenfalls keine eindeutige Klassifikation gefunden werden. Eine Einteilung wurde aufgrund der häufigsten neuropathischen Diagnosen (Baron und Jänig 2001) vorgenommen: CRPS (I und II), akuter Herpes Zoster, postzosterische Schmerzen, Trigeminusneuralgie, andere Neuralgie, Polyneuropathie (Ätiologie: Diabetes, Alkoholabusus, HIV-Infektion, toxisch, andere), fokale Neuropathie (Ätiologie: Engpasssyndrom, posttraumatisch, diabetische Mononeuropathie, Borreliose, andere), Phantomschmerz, zentrale Schmerzsyndrome, sonstige neuropathische Schmerzen. Dem Prüfarzt lag der Diagnosebogen vor, anhand dessen markierte er die zutreffenden Diagnosen und gab, wenn möglich, eine Ätiologie an. Die Hauptdiagnose wurde mit einem Pfeil gekennzeichnet. So konnten auf einen Patienten mehrere Diagnosen bzw. Unterdiagnosen zutreffen, es musste aber eine Diagnose, wegen der er sich vorstellte, im Vordergrund stehen. Ein Patient konnte unter Rückenschmerzen und Migräne leiden, die Vorstellung erfolgte aber wegen der Rückenschmerzen, die Migräne stand im Hintergrund. Wurden beide Diagnosen gleichwertig behandelt, war ein Einschluss in die Studie nicht möglich. Zusätzlich gab der Arzt die Hauptschmerzdiagnose und Lokalisation sowie schmerzrelevante Nebendiagnosen in einem Freitextfeld an.

16 3.3.2. Beschreibung der Versorgungswege und Erhebung der Versorgungsqualität Beschrieben werden: Zeitspannen im Versorgungsgebiet An der medizinischen Versorgung beteiligte Gruppen Initiatoren der Bewegungen Tatsächliche Therapien im Laufe des Versorgungsweges Vergleich der tatsächlichen Versorgung mit der für die jeweilige Prozessfolge adäquaten Versorgung Da es keine standardisierten Fragebögen für die Versorgungssituation von Patienten gibt, wurden die Parameter mittels selbstentwickelten, strukturierten Interviews erhoben. Die genauen Fragestellungen sind den Interviewbögen im Anhang zu entnehmen. 3.3.3. Schmerzcharakteristika und Stadium der Chronifizierung Um die Schmerzcharakteristika zu erfassen wurden visuelle Analogskalen (VAS), die Schmerzempfindungsskala (Geissner 1996) und der Pain and Disability Index (Dillmann et al.1994) angewandt. Diese wurden vor dem Erstinterview, nach sechs und nach zwölf Monaten erhoben. Das Mainzer Stadienkonzept der Schmerzchronifizierung (Gerbershagen 1986) wurde bei der Erstbefragung ermittelt. 3.3.3.1. Visuelle Analogskala (VAS) Mittels visueller Analogskalen wird die subjektiv größte und geringste Schmerzstärke der letzten vier Wochen, die momentane Schmerzstärke und eine bei erfolgreicher Behandlung erträgliche Schmerzstärke ermittelt. 3.3.3.2. Schmerzempfindungsskala (SES) Für die Schmerzempfindungsskala gibt der Patient auf einer vierstufigen Ratingskala an, inwieweit Schmerzbeschreibungen auf ihn zutreffen. Die SES besteht aus zwei Globaldimensionen ( affektive und sensorische Schmerzempfindung ). Die affektive Schmerzempfindung setzt sich aus den Merkmalen Allgemeine affektive Schmerzangabe und Hartnäckigkeit zusammen, die sensorische aus den Merkmalen Rhythmik, lokales Eindringen und Temperatur.

17 Der Test dient der Erfassung subjektiv erlebter chronischer und akuter Schmerzen und ermöglicht eine Abbildung von Ausprägungsbesonderheiten spezifischer Schmerzformen sowie Veränderungen im Schmerzerleben der betroffenen Person. Dies macht ihn zu einem gut geeigneten Instrument zur Evaluation medikamentöser, psychologischer, physikalisch-therapeutischer und chirurgischer Schmerzbehandlungen sowie zur Messung im Rahmen von epidemiologischen und differentialpsychologischen Fragestellungen. Zunächst wird der zeitlichen Rahmen festgelegt, auf den sich die Antworten beziehen sollen ( letzte 3 Monate, letzte Tage, jetzt in der Studie: in letzter Zeit ). Der Test besteht aus 24 Items, jede Antwort ergibt einen bis vier Punkte und wird ermittelt aus dem Grad persönlicher Übereinstimmung mit der entsprechenden Aussage. Hohe Werte entsprechen einer hohen, niedrige Werte einer geringen Schmerzausprägung. Es erfolgt eine Summenbildung für Global- und/oder Teildimensionen. Für die affektive Schmerzempfindung wird ein Globalmaß empfohlen. Die sensorischen Werte sollten differenziert werden, da hierfür differenzierte Normen vorliegen. Fehlende Werte werden durch den Mittelwert der jeweiligen Skala ersetzt. Für die affektive Schmerzempfindung sind maximal zwei fehlende Werte einfügbar, für die sensorische Schmerzempfindung maximal ein fehlender Wert. Für die Bildung der Teilsummen ist keine Ersetzung erlaubt. Zur Normierung und weiteren Auswertung wird eine Transformation in T-Werte und/oder Prozentränge vorgenommen (Referenztabellen liegen vor). Die Referenzstichprobe stammt von Schmerzpatienten; Normwerte liegen für Patienten zwischen 16 und 80 Jahren vor. Tabelle 2: Beurteilung der T-Werte für SES T-Wert 20-29 Weit unterdurchschnittlich 30-39 Unterdurchschnittlich 40-60 Durchschnittlich 61-70 Überdurchschnittlich 71-80 Weit überdurchschnittlich Für einzelne Patientengruppen liegen spezielle Vergleichstabellen vor. Diese umfassen im Einzelnen folgende Diagnoseuntergruppen: Multilokuläre Schmerzen, Spannungskopfschmerz (Teilskala Rhythmik ), Migräne (Teilskala Rhythmik ), Degenerative Rückenschmerzen, Bandscheibenspätfolgen, Bechterew (Teilskala Lokales Eindringen ), Neurogene Schmerzen (Teilskalen Lokales Eindringen, Temperatur ).

18 3.3.3.3. Pain and Disability Index (PDI) Zur Bildung des Pain and Disability Index schätzt der Patient subjektiv seine Behinderung auf einer 11-stufigen Ratingskala in verschiedenen Lebensbereichen ein. In der Instruktion wird ein klarer Bezug zum Schmerz gefordert, so dass Behinderungen durch andere Ursachen ausgeschlossen werden. Dies ermöglicht einen ersten Überblick über den Einfluss des Schmerzes auf verschiedene Lebensbereiche. Tabelle 3: Variablen zum Pain and Disability Index Variable Eingeschätzte Behinderung bei/im pdi1_0 pdi2_0 pdi3_0 pdi4_0 pdi5_0 pdi6_0 pdi7_0 Familiären und häuslichen Verpflichtungen Erholung Sozialen Aktivitäten Beruf Sexualleben Selbstversorgung Lebensnotwendigen Tätigkeiten Es wird eine Summe aus den sieben einzelnen Antworten gebildet, wobei jede Antwort über eine Spanne von null bis zehn Punkten verfügt, die Endsumme umfasst null bis siebzig Punkte. Ein hoher Summenwert entspricht einer hohen eingeschätzten Behinderung. Zur Normierung erfolgt eine Transformation in Prozentränge. Die zugrunde liegende deutsche Normstichprobe stammt von Patienten aus vier klinischen Studien (N = 318), wobei die erste Studie bei Patienten mit Hüft-OP durchgeführt wurde, zu den anderen Studien gibt es keine Angaben. Es liegen keine Unterschiede zwischen verschiedenen Alters- und Geschlechtsgruppen vor. Zum Umgang mit fehlenden Werten gibt es keine Angaben. Die Variablen Beruf und Sexualleben wurden in der vorliegenden Untersuchung als fehlend akzeptiert und in der Auswertung entsprechend berücksichtigt. 3.3.3.4. Mainzer Stadienkonzept der Schmerzchronifizierung Das Stadium der Chronifizierung wurde mittels des Mainzer Stadienkonzepts der Schmerzchronifizierung (Gerbershagen 1986) erhoben. Dieses geht auf den zeitlichen Aspekt, die Schmerztopographie, das Medikamentenahmeverhalten und die Patientenkarriere ein. Zu jedem Aspekt wird eine Achse gebildet, die Achsensumme ergibt eine Stadieteilung, die Summe dieser Achsenstadien ergibt das

19 Gesamtstadium der Chronifizierung. Die Einteilung lässt sich leicht mittels anamnestischer Daten vornehmen. Das Konzept weicht von der international gebräuchlichen Praxis der Differenzierung zwischen akutem und chronischem Schmerz anhand des zeitlichen Schemas ab und betrachtet Schmerz als ein multiaxiales, dynamisches Geschehen. 1. Zeitlicher Aspekt Häufigkeit des Auftretens (einmal, mehrmals, dauernd) 1-3 Dauer (Stunden, Tage, Wochen) 1-3 Intensitätswechsel (häufig, gelegentlich, nie) 1-3 2. Räumlicher Aspekt Schmerzbild (monolokulär, bilokulär, multilokulär) 1-3 1-3 3. Medikamentenahmeverhalten Medikamentenahme (unregelmäßig max. 2 periphere Analgetika, max. 3 periphere Analgetika davon höchstens 2 regelmäßig, regelmäßig > 2 periphere Analgetika oder Opiate Anzahl der Entzugsbehandlungen (keine, eine, > 1) 1-3 4. Patientenkarriere Wechsel d. persönlichen Arztes (kein Wechsel, max. 3 Wechsel, > 3 Wechsel) Schmerzbedingte Krankenhausaufenthalte (bis 1, 2 bis 3, mehr als 3) Schmerzbedingte OP`s (bis 1, 2 bis 3, mehr als 3) 1-3 Schmerzbedingte Reha`s (keine, bis 2, mehr als 2) 1-3 1-3 1-3 1-3 3-9 2-6 4-12 Gesamtstadium I. 4-6 II. 7-8 III. 9-12 Tabelle 4: Stadium der Chronifizierung nach Gerbershagen Achsen (Einteilungen) Wert Achsensumme Achsenstadium 1. 3 2. 4-6 3. 7-9 1. 1 2. 2 3. 3 1. 2 2. 3-4 3. 5-6 1. 4 2. 5-8 3. 9-12 Es besteht ein relevanter Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Chronifizierung und dem psychischen Befinden, sowie der schmerzbedingten Beeinträchtigung bei Verrichtungen des alltäglichen Lebens (Disability). Die gute Validität dieses Zusammenhangs ist nachgewiesen (Pfingsten 2000). Ein Nachteil des Fragebogens besteht in der diagnosespezifischen Anwendbarkeit. Kopfschmerzpatienten können aufgrund ihrer Krankheitsmerkmale nur einen geringeren Chronifizierungsgrad als Rückenschmerzpatienten erreichen (Pfingsten 2000).

20 3.3.4. Lebensqualität und Psychopathologien Die Ermittlungen von Lebensqualität und Psychopathologien erfolgten vor der Erstbefragung und in den Follow-ups nach sechs und zwölf Monaten mittels der Hospital Anxiety and Depression Scale Deutsche Version (Herrmann et al. 1995), des Fragebogens zum Gesundheitszustand (SF-12 Bullinger und Kirchberger 1998) und eines Kopfschmerzfragebogens, bestehend aus dem Headache Impact Test (Kosinski et al. 2003) und zwei Fragen aus dem Migraine Disability Assessment Score (Stewart et al. 1999). Alle Testverfahren sind standardisiert und gut validiert. 3.3.4.1. Angst und Depressivität Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS) Die Hospital Anxiety and Depression Scale ist ein Selbstbeurteilungsfragebogen zur Erfassung von Angst und Depressivität. Die Originalversion stammt von Zigmond und Snaith 1983. Für Angst und Depression wird jeweils eine Skala gebildet. Die insgesamt 14 Items werden alternierend abgefragt (je 7 pro Subskala). Es gibt vierstufige itemspezifische Antwortmöglichkeiten (0-3) mit wechselnden Schlüsselrichtungen (8 negativ und 6 positiv gepolt). Die Symptome der Angstskala entsprechen zum Teil den Leitsymptomen einer generalisierten Angststörung. Tabelle 5: Variablen Hospital Anxiety and Depression Scale Deutsche Version Frage Angst/Depression Variable Nr. Polung 1 had1_n Angespannt/überreizt Angst 3-2-1-0 2 had2_n Heute freuen wie früher Depression 0-1-2-3 3 had3_n Ängstliche Vorahnung Angst 3-2-1-0 4 had4_n Lachen/lustige Seite sehen Depression 0-1-2-3 5 had5_n Beunruhigende Gedanken Angst 3-2-1-0 6 had6_n Glücklich Depression 3-2-1-0 7 had7_n Behaglich dasitzen/entspannen Angst 0-1-2-3 8 had8_n In Aktivitäten gebremst Depression 3-2-1-0 9 had9_n Ängstliches Gefühl in Magengegend Angst 0-1-2-3 10 had10_n Interesse an äußerlicher Erscheinung verloren Depression 3-2-1-0 11 had11_n Rastlos/immer in Bewegung sein Angst 3-2-1-0 12 had12_n Mit Freude in die Zukunft blicken Depression 0-1-2-3 13 had13_n Plötzlich panikartiger Zustand Angst 3-2-1-0 14 had14_n An gutem Buch/Radio-/TV-Sendung freuen Depression 0-1-2-3

21 Zur Auswertung wird die Summe für jede Skala gebildet, der Range pro Skala umfasst null bis 21 Punkte. Es darf maximal ein fehlender Wert pro Skala durch den Skalenmittelwert ersetzt werden. Zur Normierung erfolgt eine Transformation in T- Werte. Tabelle 6: Rohwertbewertungsskala Hospital Anxiety and Depression Scale Deutsche Version Rohwert Bewertung 7 Unauffällig 8-10 Grenzwertig 11 Auffällig 11-14 Schwere Symptomatik 15-21 Sehr schwere Symptomatik Es liegen Normen für die Allgemeinpopulation und für kardiologische Patienten vor. Die Normstichprobe (N = 6200) besteht zum Großteil aus kardiologischen Patienten, wobei 71 Prozent Männer sind. 3.3.4.2. Fragebogen zum Gesundheitszustand (SF-12) Mittels des Fragebogens zum Gesundheitszustand (SF-12) erfolgte die Erfassung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Der SF-12 stellt eine Kurzform des sehr häufig benutzten SF-36 Health Surveys dar. Der SF-12 besteht aus insgesamt zwölf Items mit unterschiedlichen Antwortmodalitäten. Aus diesen werden zwei Summenskalen gebildet; eine für psychische, eine für körperliche Gesundheit. Die körperliche Summenskala ergibt sich aus der körperlichen Funktionsfähigkeit (KÖFU), der körperlichen Rollenfunktion (KÖRO), dem Schmerz (SCHM) und der allgemeinen Gesundheitswahrnehmung (AGES). Die psychische Summenskala wird mittels der Parameter Vitalität (VITA), soziale Funktionsfähigkeit (SOFU), emotionale Rollenfunktion (EMRO) und psychisches Wohlbefinden gebildet. Für die Berechnung der körperlichen und der psychischen Summenskala müssen zunächst Werte, die außerhalb des potentiellen Wertebereichs für die Antwortmöglichkeit liegen (Werte niedriger als der vorkodierte Minimalwert oder höher als der vorkodierte Maximalwert) in fehlende Werte umgewandelt werden. Bei vier Items erfolgt eine Umpolung, damit ein höherer Skalenwert einen besseren Gesundheitszustand reflektiert. Es werden Indikator-Variablen mit den Werten 0 oder 1