Aktuelle Informationen zum Arbeitsrecht Osborne Clarke, Köln Inhalt Pauschalabgaben für Minijobs geändert Erfurt jetzt ganz nah bei Straßburg Update Juli 2006 Sehr geehrte Damen und Herren, nachstehend präsentieren wir Ihnen die Juli- Ausgabe unserer monatlich erscheinenden Kurzinformation. Wie gewohnt, informieren wir über die Neuigkeiten der arbeits- und sozialversicherungsrechtlichen Praxis. Wer trägt die pauschale Lohnsteuer bei geringfügiger Beschäftigung? Widerruf vergüteter Zusatzaufgaben durch Betriebsvereinbarungen Verschlechterung einer Tarifregelung über ordentliche Unkündbarkeit Für Rückfragen selbstverständlich nicht nur zu den angesprochenen Themen stehen wir Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung. Das Team Arbeitsrecht von Osborne Clarke, Köln Osborne Clarke 2006 Page 1
Pauschalabgaben für Minijobs geändert Dr. Andreas Imping Auf der Grundlage des Haushaltsbegleitgesetzes werden ab dem 1.7.2006 die Pauschalabgaben für geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse von 25 auf 30 Prozent erhöht. Der Pauschalbeitrag zur gesetzlichen Krankenversicherung hebt sich von bislang 11 auf 13 Prozent sowie der Pauschalbeitrag zur gesetzlichen Rentenversicherung von bisher 12 auf 15 Prozent an. Der einheitliche Pauschsteuersatz in Höhe von 2 Prozent bleibt hingegen unverändert. Geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse in Privathaushalten bleiben von der Erhöhung der Pauschalbeiträge unberührt. Folge der Erhöhung des Pauschalbeitrages zur Rentenversicherung ist, dass Arbeitnehmer, die vollwertige Rentenansprüche erwerben möchten und deshalb auf ihre Versicherungsfreiheit verzichten, ab dem 1.7.2006 anstelle des bisherigen Eigenanteils von 7,5 lediglich 4,5 Prozent des Arbeitsentgelts zahlen müssen. Die geänderten Pauschalbeiträge haben ferner Auswirkungen auf das Beitragsnachweisverfahren für geringfügig Beschäftigte. Bei der Übermittlung und Zahlung der Pauschalbeiträge ab Monat Juli 2006 bzw. für den Beitragsmonat Juli 2006 sind folgende Änderungen zu beachten: Das maschinelle Beitragsnachweisverfahren macht es erforderlich, die Abrechnungsprogramme auf die neuen Beitragssätze für geringfügig entlohnte Beschäftigungsverhältnisse anzupassen. Sofern von der Übergangsregelung nach 119 Abs. 2 SGB IV (Zahlung des Januarbeitrages 2006 in sechs Raten) Gebrauch gemacht wird, so gelten für das im Monat Juli 2006 zu zahlende letzte Sechstel des Beitragsmonats Januar 2006 die bis zum 30.6.2006 gültigen und nicht die ab dem 1.7.2006 geänderten Beitragssätze. Sofern der Minijob Zentrale ein Dauerbeitragsnachweis ohne Inanspruchnahme der Übergangsregelung nach 119 Abs. 2 SGB IV übermittelt wurde, sollte zum Anfang des Beitragsmonats Juli 20006 der Minijob-Zentrale ein entsprechend der Anhebung der Pauschalabgaben neu erstellter Dauerbeitragsnachweis zugereicht werden. Liegt der Minijob-Zentrale ein Dauerbeitragsnachweis vor, in dem die Beitragsanteile aus der Übergangsregelung nach 119 Abs. 2 SGB IV (ein Sechstel des Beitragsmonats Januar) enthalten sind, ist aufgrund der gesetzlichen Änderung ein Einzelnachweis zuzüglich des Beitragsanteils der Sechstelregelung für den Beitragsmonat Juli 2006 zu übermitteln. Ab dem Beitragsmonat August 2006 kann wieder bei unveränderten Arbeitsentgelten ein neuer Dauerbeitragsnachweis unter Berücksichtigung der neuen Beitragssätze für Pauschalabgaben übermittelt werden. BAG, Urteil vom 06.04.2006, 8 AZR 222/04 Erfurt jetzt ganz nah bei Straßburg Dr. Andreas Imping Nachdem sich die Erfurter Bundesrichter in der Vergangenheit häufig schwer taten, die richtungsweisenden Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes, insbesondere zum Betriebsübergang, bei der Interpretation von 613 a BGB uneingeschränkt zu übernehmen, hat das BAG nunmehr entschieden, dass es bei der Feststellung eines Betriebsübergangs auf die eigenwirtschaftliche Nutzung sächlicher Betriebsmittel nicht ankommt. Damit hat das höchste deutsche Arbeitsgericht die Vorgaben der Straßburger Kollegen, vornehmlich aus den Entscheidungen "Carlito Abler" (NZA 2003, 1385) sowie "Güney-Görres/Demir" (NZA 2006, 29) nahezu vollständig übernommen. Im Rahmen der letztgenannten Entscheidung hatte der EuGH bestimmt, dass die Bewertung der Auftragsneuvergabe des Sicherheitskontrolldienstes am Düsseldorfer Flughafen als Betriebsübergang nicht davon abhänge, ob die vom Flughafeninhaber dem Sicherheitsdienst überlassenen Kontrolleinrichtungen (Sicherheitsschleusen, Sonden etc.) zur eigenwirtschaftlichen Nutzung überlassen werden. Osborne Clarke 2006 Page 2
Der Sachverhalt: Das BAG hat über folgenden, in dieser Form sehr häufig vorkommenden Sachverhalt zu entscheiden: Eine Verlagsgesellschaft hatte ihre u.a. tarifgebundene Schwestergesellschaft auf der Grundlage eines Rahmenvertrages mit verschiedenen Serviceaufgaben bei der Vorbereitung der Druckerzeugnisse zum Versand betraut. Nach Ablauf des Dienstvertrages entschloß sich der gemeinsame Gesellschafter, das Druckserviceunternehmen zu schließen. Der Serviceauftrag sollte hiernach von einem neu gegründeten, nicht tarifgebundenen Unternehmen fortgeführt werden, in dem ein geringer Prozentsatz von Arbeitnehmern des ursprünglichen Druckservices beschäftigt waren. Im Rahmen des Serviceauftrages mußten u.a. auch Maschinen des Auftraggebers gewartet und instand gesetzt werden. Ein mit diesen Tätigkeiten betrauter, ursprünglich bei dem stillgelegten Unternehmen beschäftigter Arbeitnehmer wehrte sich gegen die ihm wegen Stilllegung des Betriebes erklärte ordentliche Kündigung. Die Klage war erfolgreich. Das BAG hat die Kündigung für unwirksam erklärt, da der Betrieb des Druckserviceunternehmens eben nicht stillgelegt worden sei, sondern vielmehr ein Betriebsinhaberwechsel nach 613 a BGB durch den neuen Auftragnehmer stattgefunden habe. Im Rahmen der rechtlichen Prüfung der Tatbestandsvoraussetzung des Betriebsüberganges haben die Erfurter Richter sich zunächst an den vom EuGH in der Entscheidung "Süzen" (NZA 1997, 433) aufgestellten, und von der deutschen Rechtsprechung ständig übernommenen Indizien orientiert. Danach ist zu prüfen, ob im Rahmen einer Gesamtwürdigung die Art des betreffenden Betriebes, der etwaige Übergang der materiellen Betriebsmittel (Gebäude, bewegliche Güter), der Wert der immateriellen Aktiva im Zeitpunkt des Übergangs, die etwaige Übernahme der Hauptbelegschaft, der etwaige Übergang der Kundschaft sowie der Grad der Ähnlichkeit zwischen den vor und nach dem Übergang verrichteten Tätigkeiten und die Dauer einer eventuellen Unterbrechung dieser Tätigkeit zu prüfen, ob ein Betriebsübergang stattgefunden hat. Das BAG hat entgegen der vorhergehenden Instanzen dabei bestimmt, dass die Übernahme nur weniger Arbeitnehmer kein Indiz gegen den Übergang der Arbeitsverhältnisse darstelle, da der zu beurteilende Sachverhalt keinen Dienstleistungsbetrieb, bei dem die Fähigkeiten der einzelnen Arbeitnehmer von entscheidender Bedeutung sind, sondern vielmehr ein Produktionsbetrieb in Rede stand. Entgegen seiner früheren Rechtsprechung hat das BAG im Rahmen der Gesamtwürdigung unter Hinweis auf die "Güney-Görres/Demir-Entscheidung" des EuGH aus November 2005 ferner bestimmt, dass dem Umstand, dass vorliegend die eigenwirtschaftliche Nutzung der im Eigentum des Auftraggebers stehenden Betriebsmittel kein wesentliches Abgrenzungskriterium für den Betriebsübergang darstelle. Vielmehr haben die Erfurter Richter den Sachverhalt unter Hinweis auf die nahezu unveränderte Fortführung des Betriebszweckes durch den Auftragsnachfolger als Betriebsübergang bewertet. Hinweise für die Praxis: Die jüngste Entscheidung des BAG zu 613 a BGB belegt, dass in diesem Themenkomplex stets mit überraschenden Entscheidungen der Gerichte zu rechnen ist. Bedauerlicherweise führt dieses Ergebnis dazu, dass sich weitgehend verläßliche Bewertungen entsprechender Sachverhalte im Vorfeld kaum vornehmen lassen. Mit seiner Entscheidung hat das BAG auch den in der Praxis zuletzt verwendeten Grundsatz schwer erschüttert, dass eine bloße Auftragsnachfolge einen Betriebsübergang nach 613 a BGB nicht begründen könne. Die beteiligten Arbeitgeber sind deshalb zu größter Vorsicht zu ermahnen. Das BAG läßt in seiner Entscheidung zwischen den Zeilen erkennen, dass Auftragsneuvergaben wohl auch immer dann der kritischen Würdigung unterliegen, wenn sie mutmaßlich auch der Ablösung von Arbeitnehmerrechten (hier: Tarifbindung) dienen sollen. BAG, Urteil vom 1.2.2006, 5 AZR 628/04 Wer trägt die pauschale Lohnsteuer bei geringfügiger Beschäftigung? Annabel Lehnen Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat entschieden, dass ein geringfügig beschäftigter Arbeitnehmer die anfallende Lohnsteuer im Verhältnis zum Arbeitgeber zu tragen hat, sofern eine Bruttovergütung vereinbart wurde. Nur bei einer Nettolohnabrede, die hinreichend deutlich zum Ausdruck kommen muß, hat der Arbeitgeber die Lohnsteuer selbst zu tragen. Osborne Clarke 2006 Page 3
Der Sachverhalt: Die Klägerin war als Reinigungskraft in einem geringfügigen Beschäftigungsverhältnis bei der Beklagten beschäftigt. Nach ihrem Arbeitsvertrag erhielt sie Tariflohn von damals DM 627,00 brutto monatlich. Bis einschließlich März 2003 wurde der Lohn abzugsfrei ausgezahlt. Ab dem 1. April 2003 bestand eine gesetzliche Steuerpflicht. Danach konnte der Arbeitgeber unter Verzicht auf die Vorlage einer Lohnsteuerkarte die Lohnsteuer mit einem einheitlichen Pauschsteuersatz von 2 Prozent des Arbeitsentgeltes erheben. Da die Klägerin keine Lohnsteuerkarte vorlegte, führte der Arbeitgeber pauschal 2 Prozent des Lohns als Lohnsteuer ab. Die auf die Abzugsbeträge gerichtete Klage war in allen Instanzen erfolglos. Das BAG hat die Klage zurückgewiesen mit dem Hinweis darauf, dass die Abwälzung der pauschalierten Lohnsteuer auf den geringfügig Beschäftigten nicht zu beanstanden ist. Das maßgebliche Steuerrecht verpflichtet den Arbeitgeber gerade nicht, die Pauschalsteuer wirtschaftlich zu tragen. 40 Abs. 3 Satz 2 EStG läßt sogar ausdrücklich zu, die pauschale Lohnsteuer im Arbeitsverhältnis auf den Arbeitnehmer abzuwälzen. Diese Rechtslage entspricht auch der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofes, die die pauschale Lohnsteuer als eine von der Steuer des Arbeitnehmers abgeleitete Steuer behandelt. Die Belastung der geringfügig Beschäftigten mit der pauschalen Lohnsteuer verstößt auch nicht gegen den auf das Arbeitsverhältnis anzuwendenden allgemein verbindlichen Lohntarifvertrag. Denn der tarifliche Bruttolohn wird hierdurch nicht unterschritten. Auch verstößt eine solche Vereinbarung nicht gegen die Vorschriften der Inhaltskontrolle gem. 307 BGB. Denn dieses Transparenzgebot des 307 Abs. 1 Satz 2 BGB verlangt nicht, Rechte, die aus dem Gesetz oder aus der Rechtsnatur einer Vereinbarung wie der hier getroffenen Bruttolohnabrede folgen, ausdrücklich zu regeln oder den Vertragspartner darüber zu belehren. Letztendlich verstößt die Abwälzung der Pauschalsteuer auf die geringfügig Beschäftigten nicht gegen 4 Abs. 1 TzBfG (sog. Diskriminierungsverbot von Teilzeitbeschäftigten). Denn die Klägerin hatte jederzeit die Möglichkeit, die Einzelbesteuerung zu verlangen. Insoweit oblag ihr ein Wahlrecht. Damit war sie gegenüber einem vollzeitbeschäftigten Arbeitnehmer mit individueller Besteuerung nicht benachteiligt. Hinweis für die Praxis: Um jegliche Mißverständnisse dieser Art bei geringfügigen Beschäftigungen vermeiden zu können, ist Arbeitgebern anzuraten, die geringfügig Beschäftigten über das steuerrechtliche Wahlrecht zwischen einer Pauschalbesteuerung und einer Besteuerung nach individuellen Merkmalen in bezug auf eine Bruttolohnvereinbarung bei Abschluß des Arbeitsvertrages hinreichend aufzuklären und dies auch ggf. schriftlich zu fixieren. BAG, Urteil vom 1.2.2006, 5 AZR 187/05 Widerruf vergüteter Zusatzaufgaben durch Betriebsvereinbarungen Dr. Timo Karsten Anders als in Arbeitsverträgen, in denen einseitige Widerrufsklauseln zu Gunsten des Arbeitgebers einer Kontrolle wie Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) unterworfen sind, können die Betriebsparteien in einer Betriebsvereinbarung entsprechende Regelungen verbindlich für die Betriebsbelegschaft aufstellen. Der Sachverhalt: In einem vom Bundesarbeitsgericht zu entscheidenden Fall hatten die Betriebsparteien einer Fluggesellschaft durch Betriebsvereinbarung festgelegt, dass der Arbeitgeber einzelnen Arbeitnehmern eine zusätzlich vergütete Sonderaufgabe zuweisen und diese Ernennung jederzeit einseitig wieder widerrufen durfte. Im konkreten Fall wurden einzelnen Flugbegleiterinnen die Zusatzfunktion "Coach Kabine" übertragen, die mit einer Zulage in Höhe von 766,94 zusätzlich vergütet wurde. Die Zuweisung der Aufgabe durch den Arbeitgeber erfolgte jeweils durch eine vorformulierte Individualvereinbarung mit der jeweiligen Flugbegleiterin. Auch diese Individualvereinbarungen sahen vor, dass die Zusatzfunktion jederzeit einseitig vom Arbeitgeber widerrufen werden konnte. Nach einem entsprechenden Widerruf der Zusatzfunktion "Coach Kabine" wurde von seiten der Flugbegleiterinnen Klage erhoben. Das Bundesarbeitsgericht hat entschieden, dass der erfolgte Widerruf der Ernennung wirksam ist. Der in der Betriebsvereinbarung geregelte Widerrufsvorbehalt des Arbeitgebers ist nach 310 Abs. 4 Satz 1 BGB einer AGB-Prüfung entzogen. Der Widerrufsvorbehalt in den mit den einzelnen Flugbegleiterinnen geschlossenen Individualvereinbarungen hat daneben nur eine wiederholende Funktion, trifft aber keine eigenständige Regelung. Osborne Clarke 2006 Page 4
Er setzt nur um, was aufgrund der Betriebsvereinbarung bereits verbindlich für die Belegschaftsmitglieder gilt. Hinweis für die Praxis: Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zeigt, dass die Betriebsparteien wirksam Auswahlrichtlinien für die Übertragung von zusätzlich vergüteten Sonderfunktionen aufstellen können und die Übertragung von Funktionen unter dem Vorbehalt der jederzeitigen Widerruflichkeit gestellt werden kann. Das Bundesarbeitsgericht mußte im konkreten Fall nicht entscheiden, ob auch derartige betriebsverfassungsrechtliche Regelungen einer Angemessenheitskontrolle unterzogen werden können. Die Betriebsvereinbarungs-Regelung hätte den vom BAG für individualvertragliche Regelungen aufgestellten Voraussetzungen jedenfalls genügt. Danach können bis zu 25 bis 30 Prozent des Gesamtverdienstes unter einem Widerrufsvorbehalt des Arbeitgebers gestellt werden, soweit dadurch nicht der Tariflohn unterschritten würde. Bei entsprechenden individualvertraglichen Regelungen sollten zudem abstrakt die Gründe benannt werden, aus denen ein entsprechender Widerruf von Vergütungsbestandteilen möglich sein soll. Der Sachverhalt: Der Kläger war in dem Berufsfortbildungswerk der Beklagten als Ausbilder tätig. Der Haus- Manteltarifvertrag (MTV) zwischen der Beklagten und der zuständigen Gewerkschaft galt für das Arbeitsverhältnis kraft arbeitsvertraglicher Bezugnahmeklausel. Ursprünglich sah der MTV nach dem Erfüllen bestimmter Voraussetzungen (Beschäftigungszeit 15 Jahre oder 10 Jahre und Vollendung des 50. Lebensjahrs), die der Kläger auch erfüllte, die ordentliche Kündigung nur noch bei Stilllegung des Betriebs oder Stilllegung eines wesentlichen Betriebsteils vor. In anderen Fällen war die ordentliche Kündigung aufgrund des tariflichen Sonderkündigungsschutzes unzulässig. Mit der Neufassung des Tarifvertrags aus dem Jahr 2003 wurden die Voraussetzungen für den Eintritt dieses Schutzes für die Zukunft erhöht und das Sonder-Kündigungsschutzniveau mit Wirkung auch für die Altfälle abgesenkt: nunmehr waren bereits ordentliche betriebsbedingte Kündigungen zulässig, die durch notwendige Betriebsänderungen bedingt waren. Die Beklagte kündigte dem Kläger nach Inkrafttreten der tariflichen Neuregelung bedingt durch eine notwendige Betriebsänderung. Der Kläger hielt die Neufassung der Tarifregelung über den Sonderkündigungsschutz wegen unzulässiger Rückwirkung für unwirksam, soweit sie in seinen bisherigen erworbenen Besitzstand eingreife. Nach der ursprünglichen Fassung des Tarifvertrags sei die Kündigung ausgeschlossen, da kein wesentlicher Betriebsteil stillgelegt worden sei. BAG, Urteil vom 2.2.2006, 2 AZR 58/05 Verschlechterung einer Tarifregelung über ordentliche Unkündbarkeit Sonja Riedemann LL.M. (LSE) Regelungen in einem Tarifvertrag tragen die immanente Schwäche ihrer nachträglichen Abänderbarkeit durch eine gleichrangige Norm jederzeit in sich. Auch Regelungen über einen Sonderkündigungsschutz sind davon nicht ausgenommen. Sofern der oftmals als tarifliche Unkündbarkeit bezeichnete Schutz eben nicht umfassend ist, sondern Ausnahmen bestehen, in denen eine ordentliche Kündigung dennoch zulässig sein soll, genießt der betreffende Arbeitnehmer auch keinen Vertrauensschutz. Die Ausnahmeregelung kann durch Änderungstarifvertrag erweitert werden, auch wenn die Voraussetzungen für den Sonderkündigungsschutz bereits erfüllt waren. Der Kläger obsiegte mit seiner Kündigungsschutzklage vor dem Arbeitsgericht; LAG und BAG gaben jedoch dem Arbeitgeber Recht und bestätigten die Wirksamkeit der Kündigung. Schon nach der 1994 geänderten Rechtssprechung des Bundesarbeitsgerichtes tragen Regelungen in einem Tarifvertrag den immanenten Vorbehalt ihrer nachträglichen Änderung durch Tarifvertrag in sich. Vormals hatte das höchste deutsche Arbeitsgericht einen rückwirkenden Eingriff in bereits fest erworbenen Rechtspositionen (z.b. Unkündbarkeit) und wohlerworbene Ansprüche als unzulässig angesehen. Als Argument führt das BAG nunmehr an, kollektivvertragliche Regelungen tragen die Schwäche der Abänderbarkeit durch eine gleichrangige Norm jederzeit in sich. Grenze der Rückwirkung ist allerdings der Vertrauensschutz. Eine zulässige rückwirkende Abänderung eines Tarifvertrages kann in einer Modifikation des ordentlichen Kündigungsaus- Osborne Clarke 2006 Page 5
schlusses durch Präzisierung der Ausnahmetatbestände liegen, wenn die so genannte Unkündbarkeit ansonsten unangetastet bleibt. Kündigungsbestimmungen über tarifliche Unkündbarkeit können somit ohne Verstoß gegen das Vertrauensschutzprinzip geändert werden, wenn sie als bloße Modifikationen einen bereits erworbenen Status nicht antasten. So lag der Fall hier: dem Kläger wurde der erworbene Status tariflicher Sonderkündigungsschutz durch die tarifliche Neuregelung nicht genommen. Lediglich die Ausnahmen wurden modifiziert: anstatt einer Betriebs(teil)stilllegung rechtfertigte nun auch eine notwendige Betriebsänderung eine ordentliche Kündigung. Das BAG hat mit dieser Entscheidung klargestellt, dass auch diese Absenkung des Sonder-Kündigungsschutzes als bloße Modifikation der bereits bestehenden Ausnahme zulässig ist. Hinweise für die Praxis: In Fällen wie diesen hat die Geltung von Tarifverträgen seine Vorteile für Arbeitgeber. Tarifverträge und auch Änderungen der Tarifverträge gelten unmittelbar und zwingend. Dem Nachteil der Einschränkung der freien Entscheidung steht aus Arbeitgebersicht der Vorteil der gleichen Einschränkung der freien Arbeitnehmer-Entscheidung gegenüber: Eine entsprechende Absenkung des Kündigungsschutzniveaus wäre wohl in der Praxis nicht zu erreichen gewesen, wenn alle Arbeitnehmer individuell ihrer Vertragsänderung hätten zustimmen müssen. Die Gewerkschaft in diesem Fall war leichter von wirtschaftlichen Argumenten zu überzeugen und hatte sich sogar dem Ergebnis einer Zwangsschlichtung unterworfen. Der Haus- Tarifvertrag des Arbeitgebers (und die richtige Besetzung der Schlichtungsstelle) haben sich in diesem Fall also bezahlt gemacht. Tarifverträge haben auch seltene Vorteile, nachdem nun die Klauseln von Muster-Arbeitsverträgen rechtlich wie Allgemeine Geschäftsbedingungen (AGB) überprüft werden. Sie dürfen etwa kürzere Verfallfristen (1 Monat) und längere Arbeitszeiten (täglich bzw. Sonntagsarbeit) regeln. Ob diese die unbestreitbaren Nachteile von Tarifverträgen aufwiegen, muss die Praxis zeigen. Kontakt Dr. Andreas Imping Rechtsanwalt/Fachanwalt für Arbeitsrecht t +49 (0)221 5108 4066 f +49 (0)221 5108 4067 andreas.imping@osborneclarke.com Annabel Lehnen Rechtsanwältin/Fachanwältin für Arbeitsrecht t +49 (0)221 5108 4050 f +49 (0)221 5108 4051 annabel.lehnen@osborneclarke.com Dr. Timo Karsten Rechtsanwalt/Fachanwalt für Arbeitsrecht t +49 (0)221 5108 4192 f +49 (0)221 5108 4193 timo.karsten@osborneclarke.com Sonja Riedemann LL.M. (LSE) Rechtsanwältin t +49 (0)221 5108 4066 f +49 (0)221 5108 4067 sonja.riedemann@osborneclarke.com Diese Zusammenfassung erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit und ersetzt nicht den individuellen Rechtsrat. Die Komplexität und der ständige Wandel der Rechtsmaterie machen es jedoch notwendig, Haftung und Gewähr auszuschließen. Für weitere Fragen steht Ihnen Osborne Clarke natürlich gerne zur Verfügung. Osborne Clarke Juli 2006 Osborne Clarke 2006 Page 6