96. Staatsangehörigkeit und Europarecht, insb. Art. 5 I 2 EGBGB



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I. Allgemeiner Teil 139 Die Rechtsnachfolge von Todes wegen unterliegt nach Art. 25 I EGBGB dem Personalstatut des Erblassers, also polnischem Recht. Dieses nimmt die Verweisung durch Art. 28 I seines IPR-Gesetzes an. Es stellt sich die Frage, ob sich an der Anwendbarkeit des polnischen Sachrechts durch den Status des B als Deutscher im Sinne des Art. 116 I des Grundgesetzes etwas ändert. Gem. 40a StAG erwarben die sogenannten Statusdeutschen zum 01.08.1999 ex lege die deutsche Staatsangehörigkeit. Damit hat B zwei Personalstatute, von denen das für die Erbfolge entscheidende zu bestimmen ist. Dies geschieht, wie schon im Fall 72, mittels der Hilfsnorm des Art. 5 EGBGB. Nach dessen Absatz 1 Satz 1 wäre zu fragen, mit welchem der beiden Staaten der B am engsten verbunden ist, sog. effektive Staatsangehörigkeit. Für den Fall aber, daß eine der in Frage stehenden Staatsangehörigkeiten die deutsche ist, stellt Art. 5 I 2 EGBGB eine privilegierende Sonderregel auf, nach welcher die deutsche stets vorrangig ist (kritisch Fuchs, NJW 2000, S. 489 ff.; vgl. auch den nachfolgenden Fall). B wird also aus der Sicht des deutschen IPR nach deutschem Recht beerbt. 96. Staatsangehörigkeit und Europarecht, insb. Art. 5 I 2 EGBGB a) Der Minderjährige M ist Doppelstaater: er hat die deutsche Staatsbürgerschaft sowie die eines anderen Mitgliedstaates der EU (letztere entweder durch die unterschiedliche Staatsbürgerschaft der Eltern oder durch Geburt in diesem Staat iure soli). Er möchte für seinen Namen die Namen der beiden Eltern kombinieren. Dieses ist nicht nach deutschem, wohl aber nach dem anderen Recht zulässig. Wie ist über den Antrag zu entscheiden? b) Ein Antragsteller, auch Doppelstaater, möchte einen für ihn eingetragenen Namen selbst ändern und diese Änderung standesamtlich eingetragen haben. Eine private Namensänderung ist nach dem Recht des anderen Mitgliedstaates zulässig. Ist dem Antrag stattzugeben? Angelehnt an EuGHE 2003, I-11613 Garcia Avello = IPRax 2004, 339 mit Anmerkung von Mörsdorf-Schulte, S. 315. a) Art. 10 I EGBGB bestimmt, daß der Name einer Person dem Recht des Staates unterliegt, dem sie angehört. Art. 10 III Nr. 1 EGBGB erlaubt die Wahl des Rechts des Staates, dem ein Elternteil angehört. Ist die andere

140 2. Teil. Internationales Privatrecht Staatsbürgerschaft des Antragstellers auch die eines Elternteils, ist die Wahl des anderen Rechts zulässig und dem Antrag ist stattzugeben. Ist dagegen die andere Staatsbürgerschaft nicht identisch mit der eines Elternteils (z.b. weil nach ius soli durch den Geburtsort und nicht durch Abstammung erworben), entfällt die Wahlmöglichkeit des Art. 10 III Nr. 1 und damit auch die Freistellung von der Bestimmung des Art. 5 I EGBGB. Diese besagt, in S. 2, daß bei doppelter Staatsbürgerschaft, von denen eine die deutsche ist, diese vorgeht. Nach deutschem Namensrecht ist eine Kombination der unterschiedlichen Namen der Eltern nicht zulässig (vgl. 1617 BGB und BVerfGE 104, 373 ff.). In einem gleichgelagerten belgischen Fall (beantragte Kombination der Namen der Eltern nach spanischem Recht) hat der EuGH entschieden, daß der Vorzug des belgischen Rechts und die Nichtberücksichtung des spanischen gegen Art. 12 EGV (Art. 18 AEUV, Verbot der Diskriminierung aufgrund der Staatsbürgerschaft) und Art. 18 EGV (Art. 21 AEUV, Recht auf Freizügigkeit) verstoße. Die Auslegung des EGV/AEUV ist auch für Deutschland verbindlich. Ohne erneute Vorlage an den EuGH ist dem Antrag stattzugeben. b) Eine private Namensänderung (z.b. erlaubt im irischen Recht) verstößt gegen den deutschen ordre public; MünchKomm/Birk, Art. 6 EG (EGBGB) Rn. 29. Auch dieses Verbot ist mit den genannten Bestimmungen des EGV/AEUV unvereinbar. Vgl. Birk, a.a.o., Rn. 150, 151. Dem Antrag ist stattzugeben. Exkurs: (1) Viele Bestimmungen des EGBGB knüpfen an die Staatsangehörigkeit einer Person an, z.b. Art. 7, 9, 13, 14, 17 (i.v.m. 14). Sie verstoßen in der Regel nicht gegen Europarecht, denn die Anknüpfung an das Recht seiner Staatsangehörigkeit ist für jeden Betroffenen die gleiche. Vgl. MünchKomm/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 176. Die besprochenen Probleme ergeben sich aus der Bevorzugung der eigenen Staatsbürgerschaft und der daraus resultierenden Dis kriminierung der anderen bei Doppel- oder Mehrstaatern nach Art. 5 I 2 EGBGB. Stellt man dagegen neutral auf die effektive Staatsbürgerschaft nach Art. 5 I 1 EGBGB ab, liegt wohl meist keine Diskriminierung der jeweils anderen Staatsbürgerschaft vor. Dennoch kann ihre Nichtanwendung den Betroffenen in der Ausübung seiner EG Grundrechte beeinträchtigen. (2) Die besprochenen europarechtlichen Vorschriften verbieten natürlich nicht die Anwendung des Art. 5 I 2 EGBGB im Verhältnis zu Drittstaaten. Dennoch ist zu überlegen, ob staatsvertragliche Verpflichtungen nicht die Übertragung der europarechtlichen Lösungen gebieten. In seinem Überseering-Urteil (EuGHE 2002, I-9919) entnahm der EuGH den Niederlassungsrechtsbestimmungen des EGV/AEUV die Regel, daß das Recht des Gründungsstaats einer Kapitalgesellschaft auch nach Verlegung ihres Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat anwendbar ist. Der BGH übertrug diese Regel auf die Auslegung des Niederlassungsrechts nach dem deutsch-amerikanischen Freundschafts- und Handelsvertrag, der in Art. XXV Abs. 2 S. 2 das Meistbegünstigungsprinzip für Personen und Ge-

I. Allgemeiner Teil 141 sellschaften der jeweils anderen Vertragspartei normiert (BGHZ 153, 353). Unter Anwendung des Meistbegünstigungsprinzip in diesem und anderen deutschen Verträgen mit Drittstaaten sollte die EuGH Rechtsprechung mittelbar Art. 5 I 2 EGBGB verdrängen, soweit seine Anwendung bzgl. Freizügigkeit und Niederlassungsfreiheit zu einer ungleichen Behandlung im Verhältnis zu EG Personen und EG-Gesellschaften führen würde. 97. Gewöhnlicher Aufenthalt Ein weiteres wichtiges Anknüpfungsmerkmal im IPR ist der gewöhnliche Aufenthalt einer Person. Wie wird dieser definiert? Umfassend zum gewöhnlichen Aufenthalt Baetge, Der gewöhnliche Aufenthalt im internationalen Privatrecht, 1994. Eine Legaldefinition des gewöhnlichen Aufenthaltes gibt es im deutschen Recht nicht. Insbesondere ist dieser nicht mit dem Wohnsitz nach 7 ff. BGB gleichzusetzen. Der BGH hat daher eine eigene Begriffsbestimmung entwickelt, wonach für die Annahme eines gewöhnlichen Aufenthaltes der Schwerpunkt der Bindungen einer Person, also ihre soziale Integration durch familiäre, freundschaftliche oder berufliche Beziehungen entscheidend ist. Dabei spielt die Dauer und Beständigkeit des Aufenthaltes eine große Rolle, während der Aufenthaltswille dahinter zurücktritt (vgl. BGH NJW 1975, 1068). Der gewöhnliche Aufenthalt ist zentrales Anknüpfungsmerkmal im vereinheitlichten europäischen IPR. Er dürfte in Zukunft auch im deutschen Kollisionsrecht an Bedeutung gewinnen und die Staatsangehörigkeit als Anknüpfungsmerkmal zurückdrängen (vgl. Kropholler, IPR, 39 III 2). Es ist umstritten, ob es einen doppelten gewöhnlichen Aufenthalt geben kann. MünchKomm/Sonnenberger, Einl. IPR Rn. 734 spricht sich dagegen aus, denn die Annahme eines doppelten oder gar mehrfachen gewöhnlichen Aufenthalts würde diesen nicht vom einfachen Aufenthalt abheben. Abzustellen sei vielmehr auf den effektiven gewöhnlichen Aufenthalt, a.a.o., sowie Rn. 732. Diese Ansicht stellt eine systemgerechte Parallelität zur effektiven Staatsbürgerschaft des Art. 5 I 1 EGBGB (Frage 95) her. Sie ähnelt dem anglo-amerikanischen Domizil- Begriff; übernimmt ihn aber nicht. Der Bezug auf Domizil in den EuGVVO und EuEheVO wurde seinerseits in England gesetzlich als Aufenthalt einer gewissen Länge definiert (vgl. Fall 25 a). Eine Definition des gewöhnlichen Aufenthalts von juristischen Personen findet sich in Art. 19 Rom I-VO sowie in Art. 23 Rom II-VO. Danach ist der gewöhnliche Aufenthalt von Gesellschaften, Vereinen und juristischen Personen der Ort ihrer

142 2. Teil. Internationales Privatrecht Hauptverwaltung. Für den Fall, daß der Vertrag bzw. das schadensbegründende Ereignis aus dem Betrieb einer Zweigniederlassung herrührt, ist der Ort der Niederlassung als gewöhnlicher Aufenthalt anzusehen. Für natürliche Personen, die ihm Rahmen der Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit handeln, gilt der Ort ihrer Hauptniederlassung als gewöhnlicher Aufenthalt. II. Rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse 1. Grundlagen 98. Rechtsgrundlagen Wo ist das internationale Schuldvertragsrecht geregelt? Seit 1980 ist das internationale Schuldvertragsrecht EU-weit durch das Römische EWG-Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht vom 19.6.1980 (EVÜ) vereinheitlicht. Das EVÜ entstand als Staatsvertrag mit dem Ziel, einheitliche Regeln aufzustellen und diese Einheitlichkeit durch eine Auslegungskompetenz des EuGH zu gewährleisten, ohne daß es an eine Mitgliedschaft in der EU gekoppelt war. Anstelle der Übernahme des Übereinkommens als Staatsvertrag (Art. 25 GG) wurde es in Deutschland als Art. 27 37 der Neufassung in das EGBGB des Jahres 1986 inkorporiert. Mittlerweile ist das EVÜ (mit Ausnahme von Dänemark) durch die Rom I-VO (Verordnung Nr. 593/2008 vom 17.6.2008) ersetzt worden. Die Verordnung gilt, innerhalb ihres sachlichen Anwendungsbereichs, für alle Verträge, die nach dem 17.12.2009 geschlossen wurden. Vgl. Art. 28 Rom I-VO. Für ältere Verträge und im Verhältnis zu Dänemark verbleibt es bei der Geltung der Regeln des EGBGB. Hinweis: Soweit in den nachfolgenden Fällen nicht ausdrücklich der Zeitpunkt des Vertragsschlusses angegeben ist, ist von einem Vertragsschluß nach Inkrafttreten der Verordnung auszugehen. Der sachliche Anwendungsbereich der Rom I-VO ist in ihrem Art. 1 definiert. Sie erfaßt vertragliche Schuldverhältnisse in Zivil- und Handelssachen Vgl. Art. 1 I Rom I-VO. Ausgenommen sind nach Abs. 2 unter anderem Schuldverhältnisse familienrechtlicher, güterrechtlicher und erbrechtlicher Art, Verpflichtungen aus Wertpapieren, gesellschafts- und vereinsrechtliche Schuldverhältnisse, Vertretungsrecht, vorvertragliche Schuldverhältnisse und weitere (vgl. Art. 1 II Rom I- VO). Für derartige Schuldverhältnisse bleibt es, soweit nicht anderweitig europarechtlich geregelt, ebenfalls bei der Geltung des EGBGB.

II. Rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse 143 99. Rück- und Weiterverweisung Der Verkäufer V aus dem Staat X schließt auf einer Londoner Messe mit dem Käufer K aus dem Staat Y einen mündlichen Kaufvertrag. Die Parteien haben bei Vertragsschluß keinerlei Rechtswahl getroffen. V liefert nicht. Dadurch entstehen K bei Vornahme eines Deckungsgeschäfts zusätzliche Unkosten. Deshalb erhebt K Klage auf Schadensersatz vor einem deutschen Gericht, auf die sich V gem. 39 ZPO rügelos einläßt. V beantragt die Abweisung der Klage als unbegründet, weil kein Vertrag zwischen den Parteien zustande gekommen sei. Er verweist dabei auf sein Heimatrecht, nach dem sämtliche Kaufverträge der nochmaligen Bestätigung durch den Verkäufer bedürfen. Das Recht des Staates X bestimmt allerdings auch, daß bei Kaufverträgen das Heimatrecht des Käufers anzuwenden ist. Welches Recht wird das deutsche Gericht anwenden und wie lautet sein Ergebnis? Es ist davon auszugehen, daß in keinem der Heimatstaaten das CISG gilt. Zum CISG s.u. Nr. 102 ff. Die Schadensersatzklage wäre unbegründet, wenn das Heimatrecht des V maßgeblich ist. Welches Recht die deutschen Gerichte zugrunde zu legen haben, ist nach der Rom I-VO zu entscheiden. Grundsätzlich findet zuerst Art. 3 Rom I-VO Anwendung. Die Vertragsparteien haben aber keine Rechtswahl getroffen. Deshalb ist auf Art. 4 ff. Rom I-VO zurückzugreifen Nach Art. 4 I a) Rom I-VO ist das Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Verkäufers berufen. Da V aus dem Staat X stammt und dort auch seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat, ist dessen Recht anzuwenden. Die Schadensersatzklage wäre unbegründet. Das IPR des Staates X verweist allerdings auf den Staat Y. Danach könnte der Vertrag auch ohne V s Bestätigung gültig und die Schadensersatzklage begründet sein. Hier greift jedoch Art. 20 Rom I-VO, nach dem der Verweis auf den Staat X nicht dessen IPR umfaßt. Die Kollisionsregeln der Rom I-VO sind demnach Sachnormverweisungen. Es bleibt bei der Anwendung des Rechts des Staates X, und der Antrag des V auf Klageabweisung wird Erfolg haben. 100. Mehrrechtsstaaten Welches Recht ist im vorhergehenden Fall anzuwenden, wenn V seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Schottland hat? Vgl. allgemein zum Problem der Verweisung auf ein Recht eines Mehrrechtsstaates Fall 80.

144 2. Teil. Internationales Privatrecht Die im obigen Fall bezeichneten Kollisionsregeln führen auch hier zum Recht am gewöhnlichen Aufenthalt des Verkäufers. Fraglich ist lediglich, welches Recht das Aufenthaltsrecht des V ist. Großbritannien setzt sich aus mehreren Gebietseinheiten zusammen, die für vertragliche Schuldverhältnisse ihre jeweils eigenen Rechtsvorschriften haben. In solchen Konstellationen greift Art. 22 I Rom I-VO ein. Ebensowenig wie gem. Art. 20 Rom I-VO fremdes IPR zu beachten ist, soll gem. Art. 22 I Rom I-VO fremdes interlokales Recht bei einer Rechtsspaltung herangezogen werden. Die Verweisung der Verordnung auf den Mehrrechtsstaat Großbritannien bezieht sich unmittelbar auf die schottische Teilrechtsordnung. 101. Gebräuche und Gepflogenheiten Wie werden Gebräuche und Gepflogenheiten im (internationalen) Kollisionsrecht berücksichtigt? Die Kollisionsregeln der Rom I-VO enthalten keine Bestimmungen, die auf Gebräuche oder Gepflogenheiten verweisen. Vielmehr finden die Begriffe und Klauseln, wie sie z.b. in den INCOTERMS der internationalen Handelskammer zusammengefaßt sind, nur mittelbare Anwendung dadurch, daß das berufene Sachrecht die Frage nach ihrer Relevanz und Wirkung bei der Auslegung eines ihm unterstellten Vertrages beantwortet (vgl. v. Hoffmann/Thorn, 10 Rn. 28). Für Warenkaufverträge, auf die das Wiener Kaufrechtsabkommen (CISG) anwendbar ist (s.u. Fälle 102 ff.), finden im internationalen Handelsverkehr anerkannte Gebräuche Anwendung: Art. 9 II CISG (Vermutung eines stillschweigenden Einbezugs durch die Parteien). Den Parteien bleibt es aber freigestellt, auf nichtstaatliche Regelwerke Bezug zu nehmen, vgl. Erwägungsgrund Nr. 13 zur Rom I-VO. Zur Wahl nichtstaatlichen Rechts durch die Parteien s. unten Nr. 106. 2. Anwendung des UN-Kaufrechts 102. Geltung des UN-Kaufrechts Die Jurastudenten A, B und C treffen sich allwöchentlich zu einer privaten Arbeitsgemeinschaft, um sich gemeinsam auf ihr Examen vorzubereiten. Als sie hierbei auf das UN-Kaufrecht zu sprechen kommen, ist A der Auffassung, daß die Bedeutung des UN-Kauf-

II. Rechtsgeschäftliche Schuldverhältnisse 145 rechtes gering sei, da es lediglich unverbindliche Empfehlungen enthalte, deren Geltung von den Parteien vereinbart werden müsse. B widerspricht und meint, daß durch das UN-Kaufrecht das Recht der internationalen Kaufverträge umfassend geregelt sei. C wiederum gibt zu bedenken, daß eine detaillierte Kenntnis des UN-Kaufrechtes nicht nötig sei, da bei der Anwendung eventuell auftretende Probleme durch Rückgriff auf das deutsche Recht gelöst werden könnten. Da sich A, B und C nicht einigen können, fragen sie ihren Professor P um Rat. Was wird dieser auf die angesprochenen Fragen antworten? Das Wiener Übereinkommen über Verträge über den internationalen Warenkauf (auch Wiener Kaufrecht und im folgenden als UN-Kaufrecht bezeichnet bzw. gem. der englischen Bezeichnung United Nations Convention on Contracts for the International Sale of Goods, als CISG abgekürzt; Jayme/Hausmann, Nr. 77) enthält keineswegs nur unverbindliche Regelungen. Es stellt einen völkerrechtlichen Vertrag zwischen nunmehr schon über 75 Staaten dar (zum aktuellen Stand siehe www.uncitral.org), der im Rahmen seines Anwendungsbereiches unmittelbar geltendes Recht enthält. Das UN-Kaufrecht vereinheitlicht nicht das Kollisionsrecht, sondern das materielle Recht bei grenzüberschreitenden Warenkaufverträgen. Wichtig: Die Regeln des UN-Kaufrecht sind dispositiv: die Parteien können es abwählen und durch ein anderes anwendbares Recht ersetzen oder die Anknüpfung dem allgemeinen Kollisionsrecht überlassen, Art. 6 CISG. Eine konkrete Vereinbarung zwischen den Parteien ist entgegen der Ansicht des A für die Anwendbarkeit des UN-Kaufrechts nicht zwingende Voraussetzung. Im Gegenteil: liegen seine Anwendungsvoraussetzuungen vor (dazu die nachfolgenden Fälle), gilt es, sofern es von den Parteien nicht ausdrücklich ausgeschlossen wird. Auch die Ansicht des B, daß durch das UN-Kaufrecht eine vollumfängliche Regelung der grenzüberschreitenden Kaufverträge erfolgt, ist unzutreffend. Vielmehr beschränkt sich das Übereinkommen auf den Abschluß und die Durchführung von Verträgen (vgl. Art. 4 CISG). Dies kommt auch in der Gliederung des Abkommens zum Ausdruck, wonach Teil 1 (Art. 1 13 CISG) den Anwendungsbereich des UN-Kaufrechts betrifft und allgemeine Bestimmungen enthält, Teil 2 (Art. 14 24 CISG) den Vertragsabschluß regelt und in Teil 3 (Art. 25 88 CISG) die Vorschriften zum materiellen Kaufrecht (Rechte und Pflichten des Verkäufers und des Käufers) zu finden sind. Teil 4 (Art. 89 101 CISG) des UN-Kaufrechts enthält völkerrechtliche Bestimmungen.

146 2. Teil. Internationales Privatrecht Da es sich beim UN-Kaufrecht um völkerrechtlich geregeltes, international einheitliches Sachrecht handelt, erfordert seine übereinstimmende Geltung eine vertragsautonome Auslegung. Art. 7 I CISG sieht daher eine einheitliche Auslegung des Abkommens vor und soll dem vorschnellen Rückgriff auf nationale Regelungen vorbeugen. Bei Regelungslücken sind gem. Art. 7 II CISG zunächst die allgemeinen Grund - sätze des Übereinkommens heranzuziehen. Ein Rückgriff auf ein über das IPR des Forums berufenes nationales Recht darf nur erfolgen, wenn derartige Grundsätze nicht bestehen oder wenn sich die aufgeworfene Frage außerhalb des Regelungsbereichs des UN-Kaufrechts befindet. Auch die Auffassung des C ist daher unrichtig. 103. Autonome Anknüpfung, Art. 1 I a) CISG Die deutsche Firma A schließt mit der kanadischen Firma X am 12.5.2006 einen Vertrag über den Erwerb von 10.000 Ahorn-Kochlöffeln zum Preis von 4.000,. Der Geschäftsführer der Firma A fragt sich nun, ob sich die Zahlungsverpflichtung nach deutschem, kanadischem oder UN-Kaufrecht richtet. Die Verpflichtung zur Zahlung richtet sich nach Art. 53 CISG, wenn das UN-Kaufrecht auf den Vertrag gem. Art. 1 ff. und 90 ff. CISG (1) sachlich, (2) räumlich sowie (3) zeitlich anwendbar ist, (4) die Verpflichtung zur Zahlung zum Regelungsbereich des Abkommens zählt, und (5) die Parteien es nicht ausdrücklich abgewählt haben (vgl. Fall 102). 1. Sachliche Anwendbarkeit: Das UN-Kaufrecht ist gem. Art. 1 I CISG sachlich anwendbar, wenn es sich um einen Kaufvertrag über Waren handelt. Unter Waren versteht man im UN-Kaufrecht alle beweglichen Sachen, die üblicherweise gehandelt werden; Kaufverträge sind Verträge, bei denen Waren gegen Geld getauscht werden. Hier sind diese Voraussetzungen erfüllt. 2. Räumliche Anwendbarkeit: Räumlich anwendbar ist das UN-Kaufrecht, wenn gem. Art. 1 I a) CISG die Vertragsparteien ihre Niederlassungen in verschiedenen Vertragsstaaten haben oder gem. Art. 1 I b) CISG die Regeln des internationalen Privatrechts zur Anwendung des Rechts eines Vertragsstaates führen. Die Bestimmung der Anwendbarkeit nach Art. 1 I a) CISG bezeichnet man als autonome Anwendung (vgl. Staudinger/Magnus, Art. 1 CISG Rn. 84), denn das Übereinkommen bestimmt dadurch seine Anwendbarkeit selbst (zu Art. 1 I b) CISG; vgl. Fall 104). A und X haben ihre Niederlassungen in verschiedenen