Die Ausnahme bestätigt die Regel



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Transkript:

1 Die Ausnahme bestätigt die Regel Ausnahmen im Baurecht, insbesondere durch besondere Verhältnisse gerechtfertigte Ausnahmen (Art. 26 BauG 1 ) Daniel Gallina, Fürsprecher, Rechtsamt Bau-, Verkehrs- und Energiedirektion des Kantons Bern Keine Regel ohne Ausnahme Ausnahmen sind sozusagen der Normalfall im juristischen Alltag. Die Auseinandersetzung mit den Grenzen einer Norm und möglichen Ausnahmen gehört zum Kerngeschäft der Juristinnen und Juristen, welche die generell-abstrakte Norm auf den konkreten Einzelfall anzuwenden haben: "Was erwarten wir von Juristen, von der Richterin, dem Anwalt? Dass sie das geltende Recht zur Anwendung bringen, klar. Nur, was heisst das? (...) Ginge es allein darum, zum gerade strittigen Fall den einschlägigen Buchstaben des Gesetzes und der Erlasse zu finden, wären Juristen rasch überflüssig. Das schafft jedes anständig gefütterte Computerprogramm. ( ) Nicht erst bei offenkundigen 'Gesetzeslücken' denkt der Jurist über das solide Rechtswissen hinaus. Wendet er Gesetze an, legt er Gesetze aus. Sobald er aber Gesetze auslegt, handelt er rechtsschöpferisch, also kreativ. Er kann sich nicht damit begnügen, geltende Rechtssätze zu verstehen, er muss, von Fall zu Fall Recht finden und erfinden, wenn die Rechtsordnung die Wirklichkeit durchdringen soll." 2 Diese rechtsschöpferische Tätigkeit ist immer auch eine Auseinandersetzung mit Grundsatz und Ausnahme. Das Gesetz selber oder zumindest die Praxis dazu sehen regelmässig (aber auch von dieser Regel gibt es Ausnahmen!) Ausnahmewege vor, die es ermöglichen, die gesetzlichen Regelungen einzelfallgerecht zu verfeinern. Gesetzliche Regelungen müssen im Interesse der Einheitlichkeit und Klarheit des Rechts und damit auch im Interesse der Rechtssicherheit die tatsächlichen Verhältnisse generalisierend erfassen. Sie vermögen deshalb den Besonderheiten des Einzelfalles nicht immer gerecht zu werden. Dies gilt insbesondere im Baurecht. Die bau- und planungsrechtliche Ordnung gilt für ein grösseres Gebiet und stellt für dieses verallgemeinernde Bestimmungen auf. Diese können den Besonderheiten der einzelnen Grundstücke und Bauvorhaben nicht Rechnung tragen. Die Gewährung eines Dispenses soll es ermöglichen, ausgesprochene Unbilligkeiten und Unzweckmässigkeiten zu vermeiden, 1 Baugesetz vom 9. Juni 1985 (BauG; BSG 721) 2 Ludwig Hasler, Sollen Juristen überhaupt denken?, in: Die Weltwoche vom 14. Februar 2002, S. 43

2 die sich bei strikter Anwendung der Bauvorschriften im Einzelfall ergeben könnten. Die Ausnahmebewilligung hat denn auch kaum in einem anderen Rechtsgebiet eine derart weitreichende Bedeutung wie im Baurecht. 3 jedoch: Die Ausnahme bestätigt die Regel Ausnahmen dürfen jedoch keine Normenkorrektur bewirken, müssen sich also an die Zielsetzung der jeweiligen Regelungen halten. Eine allgemein ungenügende bau- und planungsrechtliche Ordnung muss im gesetzlichen Verfahren für die Änderung von Vorschriften und Plänen den neuen Verhältnissen und Bedürfnissen angepasst werden (Vorrang der Planung) 4. Der Wille des Gesetzgebers darf nicht auf dem Ausnahmeweg umgangen werden. Die Gewährung von Ausnahmen muss deshalb nach Spielregeln ablaufen, welche die Rechtssicherheit schützen und ein Ausufern in subjektive Beliebigkeit verhindern. Ausnahmeinstitute im Baurecht Das Raumplanungsgesetz des Bundes 5 unterscheidet grundsätzlich zwischen Ausnahmen innerhalb der Bauzonen und solchen ausserhalb der Bauzonen. Das Bundesrecht bestimmt, unter welchen Voraussetzungen Ausnahmen ausserhalb der Bauzonen gewährt werden können (Art. 24 ff. RPG). Die Kantone können nur noch entsprechende Ausführungsbestimmungen erlassen (im Kanton Bern: Art. 80 ff. BauG). Die Regelung von Ausnahmen innerhalb der Bauzonen überlässt der Bund hingegen dem kantonalen Recht (Art. 23 RPG). Der bernische Gesetzgeber regelt dies in den Art. 26 ff. BauG beziehungsweise in weiteren Spezialgesetzen (wie z.b. in Art. 66 SBG 6 für Ausnahmen von den Strassenabständen). Ausnahmen gemäss Art. 26 BauG An dieser Stelle soll auf die in Art. 26 BauG geregelte Möglichkeit für Ausnahmen innerhalb der Bauzonen näher eingegangen werden. Gemäss dieser Bestimmung können Ausnahmen 3 Aldo Zaugg, Kommentar zum bernischen BauG, 2. Auflage, Bern 1995, Vorbemerkungen zu den Art. 26-31 N. 1 und 2; VGE 19320 vom 11. Mai 1995, S. 9 f.; BVR 1991 S. 249 f.; BVR 1990 S. 199 4 BVR 2000 S. 271; Ulrich Zimmerli, Bernisches Verwaltungsrecht, Bern 1999, S. 107, mit Hinweisen; Aldo Zaugg, a.a.o., Vorbemerkungen zu den Art. 26-31 N. 2, mit Hinweisen 5 Bundesgesetz vom 22. Juni 1979 über die Raumplanung (Raumplanungsgesetz, RPG; SR 700), in der Fassung vom 20. März 1998 6 Gesetz vom 2. Februar 1964 über Bau und Unterhalt der Strassen (SBG; BSG 732.11)

3 von einzelnen Bauvorschriften gewährt werden, wenn besondere Verhältnisse es rechtfertigen und keine öffentlichen Interessen beeinträchtigt werden (Art. 26 Abs. 1 BauG). Ausnahmen dürfen überdies keine wesentlichen nachbarlichen Interessen verletzen, es sei denn, die Beeinträchtigung könne durch Entschädigung vollwertig ausgeglichen werden (Art. 26 Abs. 2 BauG). Beim Vorliegen besonderer Verhältnisse muss eine Interessenabwägung vorgenommen werden zwischen den Interessen des Ausnahmegesuchstellers einerseits und allenfalls entgegenstehenden öffentlichen beziehungsweise wesentlichen nachbarlichen Interessen andererseits. Wenn jedoch keine besonderen Verhältnisse vorliegen, müssen die beiden anderen Voraussetzungen (keine Beeinträchtigung öffentlicher Interessen, keine Verletzung wesentlicher öffentlicher Interessen) nicht mehr geprüft werden 7. Das Vorliegen besonderer Verhältnisse ist somit unverzichtbare Grundlage für die Gewährung einer Ausnahme im Sinn von Art. 26 BauG. Besondere Verhältnisse Die Voraussetzung "wenn besondere Verhältnisse es rechtfertigen" geht zurück auf die Teilrevision des Baugesetzes vom 22. März 1994 (in Kraft seit 1. Januar 1995). Sie ersetzte das Erfordernis des "wichtigen Grundes" in der bis am 31. Dezember 1994 geltenden Fassung von Art. 26 BauG. Nach Auffassung des Gesetzgebers sollte diese Neuformulierung der Ausnahmebestimmung von Art. 26 BauG eine gewisse Lockerung im Vergleich zur alten Formulierung bringen. Insbesondere wurde mit der neuen Regelung eine Flexibilisierung beabsichtigt: auch subjektiv wichtige Gründe sollten etwas mehr Gewicht erhalten. Diese leichte Modifizierung geht denn auch aus dem Textbaustein hervor, der in der aktuellen Praxis des Verwaltungsgerichts und der BVE zu Art. 26 BauG verwendet wird: Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts können alle wesentlichen Interessen der gesuchstellenden Person, welche sich auf Zweck, Umfang oder Gestaltung des Bauvorhabens beziehen und in den geltenden Vorschriften keine Berücksichtigung finden, besondere Verhältnisse darstellen und die Gewährung einer Ausnahmebewilligung rechtfertigen. Interessen dieser Art müssen mit den Besonderheiten des Baugrundstücks oder des Bauvorhabens zusammenhängen. Die Gewährung einer Ausnahme ist demnach vorab beim Vorliegen von objektiven Besonderheiten erlaubt (z.b. Lage und Form der Parzelle, Beschaffenheit des 7 VGE 21063 vom 21. Juni 2001, E. 4a

4 Baugrundes, technisch bedingte Ausnahmesituationen usw.). Gestützt auf Art. 26 BauG in der seit dem 1. Januar 1995 geltenden Fassung kann mit der Gewährung einer Ausnahme auch solchen Besonderheiten Rechnung getragen werden, die in den subjektiven Verhältnissen der bauwilligen Person begründet sind (z.b. Bedürfnisse einer behinderten Person). Allerdings genügen rein finanzielle Interessen als Ausnahmegrund ebensowenig wie der Wunsch nach einer (nicht gesetzeskonformen) Ideallösung oder intensives Ausnützungsstreben. Wirtschaftliche Gründe sind nicht ohne weiteres zu beachten, da sie praktisch in jedem Fall angeführt werden können. Der Ausnahmegrund ist keine absolute Grösse. Ob ein Sachverhalt als solcher zu genügen vermag, hängt vielmehr von drei Komponenten ab: Vom Interesse der Bauherrschaft an der Ausnahme, von der Bedeutung der Vorschrift, von der abgewichen werden soll, und von Art und Mass der verlangten Abweichung. Ein wichtiger Grund liegt umso eher vor, je weniger die Ziele der Bauvorschriften gefährdet werden. 8 Eine Auslegeordnung der jüngsten Praxis 9 der BVE und des bernischen Verwaltungsgerichts zu Art. 26 BauG ergibt folgendes Bild: In 12 Fällen wurde die Rechtfertigung einer Ausnahme durch besondere Verhältnisse bejaht: Ausnahme: Unterschreitung des Gebäudeabstandes Überschreitung der zulässigen Höhe für Einfriedung geringe Unterschreitung der minimalen Raumhöhe Überschreitung der Gebäudehöhe durch Betonanlage Unterschreitung des Grenzabstandes gerechtfertigt durch besondere Verhältnisse: spezielle Lage und Form der Parzelle bessere ästhetische Gestaltung Sicherheit von Kindern minimale Abweichung ästhetisch befriedigendere Lösung fehlende (zumutbare) Alternativen Hanglage relativiert Überschreitung Betonanlage befindet sich nicht immer da fehlende (zumutbare) Alternativen technische Notwendigkeit (Abstützung der projektierten Wand auf der tragenden 8 vergleiche dazu: BVR 2002 S. 1 ff. E. 3b, mit Hinweisen; Aldo Zaugg, a.a.o., Art. 26/27 N. 5 9 berücksichtigt wurden die Entscheide der BVE und des Verwaltungsgerichts zu Art. 26 BauG zwischen 1. Januar 2000 und 31. März 2002

5 Wand im darunter liegenden Geschoss) Unterschreitung des Grenzabstandes Unterschreitung des Waldabstandes Überschreitung der Gebäudetiefe durch Liftanbau Versetzung der in der Überbauungsordnung festgelegten Einfahrt der Autoeinstellhalle Entfernung beziehungsweise Versetzung eines geschützten Mäuerchens zwei von den Bauvorschriften abweichende Dachflächenfenster Mobilfunkantenne in mit Antennenverbot belegtem Gebiet baulich bessere Lösung Einhaltung des Strassenabstandes ästhetisch befriedigendere Lösung Liegenschaft zu 70% von älterer Mieterschaft bewohnt fehlende Alternativen für Lifteinbau fehlende privatrechtliche Vereinbarung für gemeinsame Autoeinstellhalle verhindern die Realisierung der definitiven Erschliessung innert nützlicher Frist spezielle Lage der Parzelle fehlende Alternativen zur Errichtung der notwendigen Parkplätze Notwendigkeit zur Beleuchtung des Zwischengeschosses nur geringfügige Abweichung (Unterschied kaum wahrnehmbar) optimale Versorgung betriebstechnische Gründe In 29 Entscheiden lagen nach Ansicht der BVE bzw. des Verwaltungsgerichtes keine besonderen Verhältnisse vor, die eine Ausnahme gerechtfertigt hätten. Insbesondere folgende Argumente wurden nicht als besondere Verhältnisse im Sinn von Art. 26 BauG anerkannt: die Korrektur von angeblich nicht zeitgemässen oder nicht passenden Nutzungsvorschriften der Wunsch, die Parzelle über das erlaubte Mass zu nutzen ein spezielles Konzept des Architekten für einen Lichthof und der damit verbundene geringe Energiegewinn familiäre Gründe die persönliche Verbundenheit mit einer bestimmten Gegend eine angeblich "bessere Lösung" die Notwendigkeit einer günstigen Infrastruktur für Jungunternehmer bisher erfolglose Bemühungen für den Verkauf oder die Vermietung einer Liegenschaft

6 die unbefriedigende bisherige Lösung (Gartenzelt mehrmals vom Winde verweht) eine ästhetisch zwar bessere, aber dennoch nicht gänzlich befriedigende Lösung Parkplatzmangel im Quartier wegen Einführung der blauen Zone rein finanzielle Gründe eine Komfortsteigerung angeblich "gestalterische Gründe" die Ideallösung für die Bauherrschaft die Notwendigkeit der Ausnahme, damit das Bauvorhaben realisiert werden kann die Notwendigkeit neuer Parkplätze zur Vermietung der gewerblich genutzten Räume fehlende Garagen im Quartier die Zustimmung der Nachbarn die zweckmässigere Ausnutzung des Grundstückes Weiter wurde das Vorhandensein besonderer Verhältnisse mehrmals verneint, wenn mögliche und zumutbare Alternativen (zum Ausnahmeweg) vorhanden waren. Von den 41 untersuchten Beschwerdeentscheiden wurde in ca. 30 % die Ausnahme aufgrund besonderer Verhältnisse gewährt, in den restlichen ca. 70 % wurde sie verweigert. Auch bei vorsichtiger Interpretation dieser Zahlen kann festgestellt werden, dass sich die Gesetzesänderung von 1994 in Richtung der angestrebten massvollen Liberalisierung ausgewirkt hat. Aus einer analogen Zusammenstellung im KPG-Bulletin 4/1993 10 (also noch mit der altrechtlichen Formulierung "wichtige Gründe") geht hervor, dass wichtige Gründe nur in etwa 10 bis 15 % aller Beschwerdefälle bejaht wurden. Nicht geändert hat sich jedoch, dass die Voraussetzungen für die Gewährung einer Ausnahme gemäss Art. 26 BauG seitens des Baugesuchsteller oftmals unterschätzt werden. Insbesondere Ausnahmen von Überbauungsvorschriften In einem jüngst ergangenen, inzwischen in Rechtskraft erwachsenen Entscheid 11 hatte sich die BVE mit der Frage zu befassen, ob und wie weit Ausnahmen auch von Überbauungsvorschriften gewährt werden können: 10 Adrian Mauerhofer, Der wichtige Grund als Voraussetzung einer Ausnahmebewilligung nach Art. 26 BauG, in: KPG-Bulletin 4/1993, S. 23 ff. 11 BDE 11079-01 vom 23. Oktober 2001, mit Hinweisen, publiziert auf Internet unter: www.bve.be.ch/ra/index_d.html

7 "Die Ausnahmebewilligung gemäss Art. 26 BauG ist insbesondere als Ergänzung und Korrektiv zu den allgemeinen baurechtlichen Vorschriften (Nutzungsvorschriften in Zonenplan und Baureglement) geeignet. Überbauungsordnungen sind jedoch detaillierte, auf ein eng begrenztes Gebiet zugeschnittene Vorschriften. Sie sind naturgemäss individuell und tragen an sich schon der Einzelfallgerechtigkeit Rechnung. Zwar sind Ausnahmen von Überbauungsordnungen nicht gänzlich ausgeschlossen, da auch eine Überbauungsordnung eine Bauvorschrift im Sinn von Art. 26 BauG ist 12. Die ausführliche Regelung der zulässigen Bauweise für ein einzelnes Grundstück führt jedoch dazu, dass Ausnahmen von einer bereits auf die speziellen Verhältnisse abgestimmten baurechtlichen Ordnung nur mit Zurückhaltung bewilligt werden können 13." Oder, um in der Terminologie der oben bemühten Sprichwörter zu bleiben: "Keine Regel ohne Ausnahme" bedeutet einerseits, dass Prinzipien naturgemäss Ausnahmen nach sich ziehen. Andererseits heisst das auch, dass Ausnahmen eben vom Vorliegen (allgemeingültiger und somit anpassungsbedürftiger) Regeln abhängig sind. Wo - wie bei Überbauungsordnungen - Bestimmungen von Anfang an auf einen konkreten Einzelfall massgeschneidert werden, bleibt wenig Nährboden für den Wuchs oder gar Wildwuchs von Ausnahmen. Hier sind der "rechtsschöpferischen Kreativität" der Juristinnen und Juristen enge Grenzen gesetzt. Daran ändert auch ein weiterer im letzten Jahr ergangener und in Rechtskraft erwachsener Entscheid der BVE 14 nichts Grundlegendes. Darin bestätigte die BVE den Entscheid der vorinstanzlichen Baubewilligungsbehörde, welche eine Ausnahme von einer Überbauungsvorschrift gewährte. Demnach konnte - entgegen der ausdrücklichen Anordnung in der Überbauungsvorschrift - die Zufahrt zu einer Einstellhalle von der südwestlichen auf die südöstliche Seite der Überbauung verschoben werden, jedoch nur als Übergangslösung und angesichts besonderer Sachumstände. An der definitiven Erschliessung der Einstellhalle auf der südwestlichen Seite wurde festgehalten. Der Entscheid wurde denn auch mit der Auflage ergänzt, wonach die Bauherrschaft die ursprünglich vorgesehene Einstellhallenzufahrt auf der Südwest-Seite zu erstellen und die provisorische Einstellhallenzufahrt auf der Südost- Seite aufzuheben hat, sobald die besonderen Sachumstände wegfallen. Somit ist dieser Entscheid nur eine Ausnahme der Regel, wonach Ausnahmen von Überbauungsordnungen nur mit Zurückhaltung zu bewilligen sind. 12 BDE 11102-99 vom 25. Oktober 1999 13 vergleiche dazu: VGE 19320 vom 11. Mai 1995, S. 10 14 BDE 11025-01 vom 6. August 2001