14 Locked-in-Syndrom. 14.1 Einführung. 14.2 Beispiel: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) 14.2.1 Einführung. 14.2.2 Klinisches Bild



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Transkript:

302 14 Locked-in-Syndrom Andrea Kübler und Niels Birbaumer 14.1 Einführung Verschiedene neurologische Erkrankungen können die verbale und nicht verbale Kommunikation einschränken (Tab. 14-1). Die Unfähigkeit Gefühle, Gedanken und Wünsche mitzuteilen, ist eines der drängendsten Probleme von Patienten im Locked-in-Zustand. Die Patienten sind bewusst und aufmerksam, können aber ihre Muskeln weder zur sprachlichen noch zur schriftlichen oder gestischen Kommunikation einsetzen. Das klassische Lockedin-Syndrom ist die Folge von Blutungen im vorderen Hirnstamm (meist im ventral [bauchwärts] gelegenen Teil der Brücke [Pons cerebri]; Chia 1991; Smith und Delargy 2005). Augenbewegungen und Lidschlag bleiben oft, aber nicht immer erhalten. Durch Augenzwinkern können diese Patienten Ja und Nein signalisieren. Locked-in heißt Eingeschlossensein und daher wird der Begriff locked-in auch für den Zustand weitgehender oder vollständiger Lähmung als Folge anderer Krankheiten verwendet, wie degenerative Motoneuronerkrankungen (Karitzky und Ludolph 2001), Polyneuritis, Tumoren (Breen und Hannon 2004), Schädel-Hirn-Traumata (Leon- Carrion et al. 2002), Hirnhautentzündungen (Acharya et al. 2001) oder infantile Zerebralparese (Neuper et al. 2003). Als Beispiel für degenerative Motoneuronerkrankungen wird im Folgenden die Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) beschrieben. Diese Krankheit wurde von uns gewählt, da das beschriebene auf Neurofeedback beruhende Selbstregulations- und Kommunikationstraining vor allem mit ALS- Patienten durchgeführt wurde. 14.2 Beispiel: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) 14.2.1 Einführung Die Inzidenz der ALS liegt weltweit zwischen 2,0 und 2,5 pro 100 000 Einwohner (Seljeseth et al. 2000). Die Prävalenz wird auf etwa 3 bis 8 pro 100 000 Einwohner geschätzt. Das Haupterkrankungsalter für die ALS liegt zwischen 50 und 70 Jahren. Am häufigsten ist die sporadische Form (90 95 %), die von der familiären (5 10 %) und endemischen Form unterschieden wird. In Gebieten des Westpazifiks und auf den Guam-Inseln ist die Inzidenz bei Männern 50/100 000 und bei Frauen 20/100 000. Dort ist sie häufig von Demenz und Parkinson-Symptomatik begleitet (Ma - suhr und Neumann 2007). Bekannte Persönlichkeiten mit ALS sind der Physiker und Autor Stephen Hawking und der im Jahre 2007 verstorbene Maler und Bildhauer Jörg Immendorff. Die Krankheit wird in den USA als Lou Gehring s Disease bezeichnet, nach einem der erfolgreichsten Baseballspieler der 1930er Jahre. 14.2.2 Klinisches Bild Die Amyotrophe Lateralsklerose ist eine progrediente degenerative Erkrankung des motorischen Systems, die erstmals von J. M. Charcot im Jahre 1869 beschrieben wurde (Masuhr und Neumann 2007).

14.2 Beispiel: Amyotrophe Lateralsklerose (ALS) 303 Tab. 14-1 Übersicht über Inzidenz und Prävalenz verschiedener Krankheiten, die zum Locked-in-Syndrom führen können Erkrankung Inzidenz/100 000 in der Bundesrepublik Deutschland Amyotrophe Lateralsklerose 1,5 1 Schlaganfall (Überbegriff für alle zerebrovaskulären Erkrankungen 150 2 mit akut auftretenden neurologischen Defiziten) Hirnstamminfarkt (in der Pons cerebri) 32 3 Polyneuritis 1,2 1,7 1 Tumor 15 2 Meningitiden und Enzephalitiden (entzündliche Prozesse des 15 2 Gehirns und Rückenmarks) Traumatische Läsionen 800 1 Infantile Zerebralparese 1/1 000 Geburten 1 Multiple Sklerose 3 2 Parkinson-Krankheit 20 2 1 aus Klingelhöfer und Spranger 2003; 2 Masuhr und Neumann 2007; 3 Markus und Reber 1992 Erste Symptome sind Muskelschwäche, Krämpfe und Schluckstörungen. Die Patienten zeigen Spastiken, Faszikulationen und Atrophien der kleinen Handmuskeln. 14.2.3 Diagnostik Die Diagnose der ALS wird anhand der sog. El-Escorial-Kriterien gestellt, die als Goldstandard der ALS-Diagnostik gelten (Brooks et al. 2000) und ausschließlich auf klinischen Befunden, das heißt auf dem Nachweis der Zeichen der Degeneration sowohl des unteren als auch des oberen Motoneurons in verschiedenen Körperregionen beruhen. Zurzeit wird diskutiert, mehr Befunde von EMG-Untersuchungen (z. B. Faszikulationspotenziale) zu berücksichtigen, da dies eine frühere Diagnostik erlauben würde (sog. Awaji-Kriterien; Dengler 2008). Leitsymptom der Erkrankung ist das kombinierte Auftreten peripherer, schlaffer und zentraler spastischer Paresen, die ein Zeichen für die Schädigung der 1. (Pyramidenbahn) und 2. (Vorderhornzellen) Motoneurone sind. Die Lähmungen beginnen meist fokal, breiten sich im Verlauf auf benachbarte Körperregionen aus und sind von lebhaftem Reflexniveau begleitet (Gastl und Ludolph 2007). 20 bis 25 % der Patienten weisen einen bulbären Beginn auf, bei dem zuerst die Schluck- und Kaumuskulatur betroffen ist (Gastl und Ludolph 2007). Diagnostik und Differenzialdiagnostik beruhen auf klinisch-neurologische Befunderhebung, die unter anderem Blutbild, Schilddrüsendiagnostik und Immunelektrophorese mit einschließt. Die Lungenfunktion wird mittels Blutgasanalyse und Messung der Vitalkapazität bestimmt. Die Beteiligung des 1. Motoneurons zeigt sich durch längere Latenzen der motorisch evozierten Potenziale und das Ausbleiben der muskulären Antwort. Schließlich ist auch die Atemmuskulatur betroffen, was zuerst zu Schlafstörungen, Tagesmüdigkeit und Konzentrationsstörungen, dann jedoch zur Ateminsuffizienz und Tod führt.

304 14 Locked-in-Syndrom 14.2.4 Ätiologie und Pathogenese Die Ursachen der sporadisch auftretenden ALS sind weitgehend unbekannt. Für die erbliche Form sind autosomal-dominante und -rezessive Erbgänge beschrieben, aber nur für 5 bis 10 % der familiären Form konnte eine Genmutation (21q22.1), die zu einer Fehlfunktion des Enzyms Kupfer-Zink-Superoxiddismutase (Cu/Zn-SOD) führt, nachgewiesen werden. Darüber hinaus sind mehr als 100 autosomaldominant vererbte Mutationen bekannt, die insgesamt bei 1 % der ALS-Patienten als ursächlich angesehen werden und zusammen mit dem transgenen Mausmodell, das die 21q22.1 Mutation trägt, eine wichtige Grundlage darstellen, um neue Erkenntnisse über die Pathophysiologie und -biochemie der ALS zu gewinnen (Gastl und Ludolph 2007). Oxidativer Stress scheint für die ALS eine zentrale Rolle zu spielen, wobei bislang unklar ist, ob dieser die Folge einer noch unbekannten Ursache oder die eigentliche Ursache der Neurodegeneration ist. Weitere mit der ALS einhergehende physiologisch-zelluläre Auffälligkeiten sind unter anderem ein erhöhter Glutamatspiegel im Gehirn, der durch vermehrten Einstrom von Calcium in die Zellen zum Zelltod führt, und morphologische Veränderungen der Mitochondrien, die auf deren Dysfunktion hindeuten (Barber und Shaw 2010). wobei jedoch neuropsychologische Defizite, die kurz als milde frontale Demenz zusammengefasst werden (Gastl und Ludolph 2007, S. 1452) beschrieben sind (Strong et al. 2009). Emotionales Erleben kann dahingehend verändert sein, dass positive Erlebnisse verstärkt empfunden werden, ein eher ausgeglichenes Erregungsniveau (Arousal) vorherrscht (Lulé et al. 2005) und eine erhöhte Sensitivität für soziale und emotionale Hinweisreize besteht (Lulé et al. 2007). Letztendlich kann am Ende des Degenerationsprozesses ein intaktes Bewusstsein in einem gelähmten Körper eingeschlossen sein. Entgegen der gängigen Meinung sind ALS- Patienten und Patienten im Locked-in- Zustand jedoch nur relativ selten depressiv und können trotz fortschreitender Krankheit eine hohe Lebensqualität erleben (z. B. Lulé et al. 2009); mit ca. 10 % liegt die Prävalenz für irgendeine depressive Störung nur wenig über derjenigen der Allgemeinbevölkerung (Hammer et al. 2008). Depression und Lebensqualität als Indikatoren der Anpassung an ALS sind abhängig von der wahrgenommenen sozialen Unterstützung, vom Ausmaß der Suche nach Information und vom Vertrauen in das eigene Bewältigungspotenzial, nicht jedoch vom Ausmaß der körperlichen Beeinträchtigung (Matuz et al. 2010). Mit Fortschreiten der Erkrankung wird die Aufrechterhaltung der Kommunikation zunehmend wichtig (Abb. 14-1) und immer schwieriger. ALS-Patienten sind daher eine Zielgruppe für Brain-Computer Interfaces (BCI) zur Kommunikation. 14.2.5 Klinische Aspekte Bislang gibt es nur eine symptomatische Therapie, die aber das fortschreitende Absterben der Nervenzellen, die das Bewegungssystem steuern, nicht aufhalten kann (Gastl und Ludolph 2007). Kognitive Fähigkeiten, wie logisches Denken und Aufmerksamkeit bleiben vor allem bei Patienten, die lange mit der Krankheit leben, meist erhalten (Lakerveld et al. 2008), 14.2.6 Prognose Die mittlere Überlebensdauer beträgt 3,5 Jahre, und nur 5 % aller Patienten leben länger als zehn Jahre. Die Lebenszeit kann jedoch zuerst mit nichtinvasiver Maskenbeatmung und dann mittels Beatmung über einen Luftröhrenschnitt (Tracheotomie) erheblich verlängert werden.

14.3 Neurofeedback 305 durchschnittliche relative Wichtigkeit (%) 40 30 20 10 T1 T2 T3 T4 0 Familienleben Sozialleben Freundschaften Freizeitbeschäftigungen Kommunikation Selbstständigkeit spirituelles Leben Produktivität medizinische Versorgung Finanzen Mobilität Gesundheit kognitive Fähigkeiten die Lebensqualität ausmachende Bereiche Abb. 14-1 Bereiche, die wichtig sind für die Lebensqualität von ALS-Patienten über einen Zeitraum von ca. zwei Jahren; viermal wurden Daten im Abstand von ca. sechs Monaten erhoben (4 Balken pro Bereich). Ergebnis: Nur die Kommunikation nimmt im Zeitverlauf an Bedeutung zu. (Dank an T. Matuz für die Abbildung aus der Dissertation Betreuungsstrategien für schwerstgelähmte Patienten: Empirische Ethik und neurowissenschaftliche Ansätze, Tübingen: Psychologisches Institut 2009). 14.3 Neurofeedback 14.3.1 Ziel Ziel der Biofeedback-Behandlung von Pa tienten im Locked-in-Zustand ist die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung der Kommunikation mithilfe sog. Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer Interfaces, BCIs), die die Hirnaktivität in externe Signale oder Computerbefehle umwandeln und das Ergebnis dem Probanden in Echtzeit zurückmelden (Neurofeedback). Ergebnisse aktueller Forschung zeigen, dass Echtzeitschnittstellen zwischen dem Gehirn und Neuroprothesen (im weitesten Sinne) möglich sind. Sie erlauben es Patienten mit neurodegenerativen, muskulären oder anderen neurologischen Krankheiten, die zu starker körperlicher Beeinträchtigung und Lähmung führen, Kontrolle über ihre motorischen und sprachlichen Funktionen aufrechtzuerhalten oder wiederherzustellen. Mit BCIs können Kommunikationsprogramme (Birbaumer et al. 1999), Neuroprothesen (Donoghue et al. 2007) und Unterhaltungsmedien (z. B. Brain Painting: Kübler et al. 2008; Internet Surfing: Mugler et al. 2010; Spiele: Tangermann et al. 2009) gesteuert werden. Zunehmend wird versucht, BCIs mit anderen Hilfsmitteltechnologien zu kombinieren (Millàn et al. im Druck). 14.3.2 Behandlungsansätze Bisher wurde Neurofeedback langsamer kortikaler Potenziale (LKP) (Birbaumer et al. 1999), sensomotorischer Rhythmen (SMR) (Kübler et

306 14 Locked-in-Syndrom al. 2005; Neuper et al. 2006) und Aktivität von Zellverbänden in motorischen Arealen (Hochberg et al. 2006) zur Steuerung eines BCI durch Locked-in-Patienten über einen längeren Zeitraum erprobt und zur Kommunikation eingesetzt. Durch LKP-gesteuerte BCIs sind zwar die einzigen, Neurofeedback-basierten BCIs, die bislang zu ausführlicher Kommunikation von den Patienten auch ohne Anwesenheit eines Trainers zu Hause genutzt wurden (Kübler et al. 2001a; Neumann et al. 2003), jedoch sind sie aufgrund ihrer geringen Informationsübertragungsrate (maximal zwei Buchstaben pro Minute) und langer Trainingszeit oft nicht die Methode der Wahl. Das zurzeit am häufigsten zur Kommunikation eingesetzte BCI beruht auf der Nutzung evozierter Potenziale und vor allem der sog. P300. Da hier das erwünschte Signal des Gehirns durch externe Stimulation und nicht durch Neurofeedback erzeugt wird, handelt es sich bei dem durch die P300-gesteuerten BCIs (P300-BCI) nicht um ein echtes Neurofeedback-Paradigma. Aufgrund des Potenzials des P300-BCIs für die Kommunikation von Locked-in-Patienten beschreiben wir auch dieses BCI. Zur Durchführung des BCI-Trainings werden ein 8- oder 16-Kanal-EEG-Verstärker (z. B. g-tec-usb-verstärker), die BCI2000- Software (www.bci2000.org; Schalk et al. 2004), eine entsprechende Elektrodenkappe mit Zinn- oder Silber-Silberchlorid-Elektroden, ein PC zur Steuerung (z. B. IBM Think- Pad Pentium 4 M 1.6 GHz, 512 MB RAM, Windows XP) und ein separater Monitor für das Feedback benötigt. In den folgenden Abschnitten werden wir zuerst das Erlernen der Selbstregulation des EEG durch Neurofeedback mithilfe eines BCI erläutern und dann spezifisch auf das BCI, das durch sensomotorische Rhythmen gesteuert wird, und danach auf das P300-BCI eingehen. 14.3.3 Durchführung Auch wenn die graphischen Darstellungen voneinander abweichen können, so folgen Schnittstellen, die die Selbstregulation des EEG erfordern, dem folgenden Prinzip: Wie in der Abbildung 14-2 gezeigt, werden die Benutzer mit zwei (selten mehr, s. z. B. Wolpaw and McFarland 2004) Aufgabenstellungen konfrontiert, die z. B. in Form zweier Rechtecke eines oben, eines unten am rechten Rand des Bildschirms dargestellt werden können (Kübler et al. 2001b). Die Aufgabe der Benutzer ist es, den Cursor, der z. B. die Form eines großen Kreises haben kann, in das jeweils aufleuchtende Rechteck zu steuern. Entscheidend ist, dass der Cursor nur durch zwei unterscheidbare EEG-Signale in unterschiedliche Richtungen gesteuert werden kann. Das heißt für die Benutzer, dass sie ihr Gehirn in zwei unterschiedliche Zustände versetzen, also zwei unterschiedliche mentale Zustände erzeugen müssen. Voraussetzungen dafür, dass durch diese Anordnung die Selbstregulation des EEG erlernt werden kann, sind erstens Echtzeitrückmeldung (Online-Feedback) des EEG und zweitens die Belohnung richtiger Antworten (Birbaumer 1984). Schon eine Zeitverzögerung des Feedbacks von einer Sekunde verschlechtert die Leistung (McFarland et al. 1998). Durch die Belohnung, die z. B. in Form eines lächelnden Gesichtes am Ende eines erfolgreichen Durchgangs dargeboten werden kann, wird den Benutzern vermittelt, dass sie genau jetzt das Richtige getan haben und mit dieser Strategie fortfahren sollen (operante Konditionierung). Sensomotorische Rhythmen zur BCI-Steuerung Sensomotorische Rhythmen (SMR) oder µ-rhythmus bezeichnet eine EEG-Aktivität im oberen Alpha-Band (8 13 Hz), die im Wachzustand über motorischen und somatosenso-

14.3 Neurofeedback 307 Abb. 14-2 Feedback-Bildschirm während des Trainings zur Selbstregulation des sensormotorischen Rhythmus. Der Cursor hier als schwarzes Quadrat dargestellt bewegt sich von links nach rechts und wird nach oben und unten durch die Variation im sensomotorischen Rhythmus des EEG bzw. MEG ausgelenkt. Die hellgrauen Quadrate zeigen einen hypothetischen Verlauf eines Durchgangs. Der Cursor soll in das am oberen rechten Bildschirmrand erscheinende Rechteck gesteuert werden. Das zweite Rechteck ist gestrichelt angedeutet. Die beiden Rechtecke erscheinen nie gleichzeitig. rischen kortikalen Arealen gemessen werden kann (s. auch Kap. 11). Für gewöhnlich werden sensomotorische Rhythmen von Beta-Aktivität im Bereich von 18 bis 26 Hz begleitet (Niedermeyer 2005). Ihre Amplitude verringert sich bzw. der Rhythmus desynchronisiert mit Bewegungsausführung oder Bewegungsplanung, und die Amplitude steigt an bzw. der Rhythmus synchronisiert nach der Bewegung bzw. während Ruhe (Pfurtscheller und Lopes da Silva 2005). Darüber hinaus, und das ist besonders wichtig im Hinblick auf Locked-in- Patienten, desynchronisiert der Rhythmus auch bei Bewegungsvorstellung. Dies bedeutet: Um die Amplitude sensomotorischer Rhythmen zu verändern, ist keine tatsächliche Bewegungsausführung erforderlich. Hierbei ist jedoch wichtig, dass die Benutzer instruiert werden, sich die Bewegung möglichst kinesthetisch, das heißt körperlich, vorzustellen, sie sollen die Bewegung gewissermaßen spüren. Bei nur visueller Vorstellung unterscheiden sich die Aktivierungsmuster stark von denjenigen, die bei Bewegungsausführung zu finden sind, und die Desynchronisation der sensomotorischen Rhythmen ist eher diffus und wesentlich schlechter klassifizierbar als bei kinesthetischer Vorstellung (Neuper et al. 2005) (s. Instruktion, S. 310). In zahlreichen Studien wurde gezeigt, dass gesunde Probanden und neurologische Patienten in einem Feedback-Training lernen können, ihre sensomotorischen Rhythmen zu regulieren (Blankertz et al. 2010; Kübler et al. 2005; Neuper et al. 2005; Wolpaw und McFarland 2004). Selbstregulationstraining Bevor mit dem Training begonnen werden kann, werden im Rahmen eines Screenings die optimale Elektrodenposition und die Vor-