Diskussionspapier zur Versorgungssituation der pflegebedürftigen Menschen im Kontext der Diskussion um illegale Beschäftigung osteuropäischer Bürger (erstellt durch den Initiativkreis Pflegemanagement, der Region Borken, Coesfeld, Dorsten) Praxisbeispiel zur Annäherung Christine Wenzel ist 84 Jahre und war wochenlang im Krankenhaus. Endlich wieder zu Hause, fällt ihr vieles noch schwer: vom Aufstehen bis hin zum Kochen. Seit kurzem geht ihr die junge Rumänin Angelica Petre zur Hand, die ihr auf Anfrage von der Bundesagentur für Arbeit (BA) als Haushaltshilfe vermittelt wurde. Ganz legal, für 900 Euro plus Sozialabgaben im Monat. Die Haushaltshilfe ist die einzige Möglichkeit für Frau Wenzel, in ihrer gewohnten Umgebung bleiben zu können. Seit Anfang des Jahres 2005 dürfen osteuropäische Haushaltshilfen auf Vermittlung der BA in Deutschland beschäftigt werden. Pflegen aber dürfen sie nicht. Würde Angelica Petre der noch geschwächten Rentnerin helfen, sich zu waschen, wäre das schon wieder illegal. Offiziell darf Frau Petre 38,5 Stunden bei Frau Wenzel im Haushalt arbeiten, mit Anspruch auf Urlaub. Die 32-jährige aber wohnt bei der Rentnerin, schläft im ehemaligen Arbeitszimmer, ist somit rund um die Uhr einsatzbereit. Wer weiß schon, wo die Hausarbeit aufhört und die pflegerische Tätigkeit beginnt? Eine Alternative hätte es für Frau Wenzel nicht gegeben. Zuvor kümmerte sich ein Pflegedienst um sie für 200 Euro pro Tag. (...) (Auszug aus der ZDF-Sendung ML Mona-Lisa vom 27.05.2005) Seite 1 Initiativkreis Pflegemanagement / 17.10.2006
1. Problembeschreibung In privaten Haushalten mit Pflegebedürftigen in Deutschland gibt es zunehmend einen Bedarf an Rund-um-die-Uhr-Versorgung. Dies schließt sowohl die Versorgung mit spezifischen pflegerischen Leistungen als auch die Hilfe für Alltagsverrichtungen wie oben beschrieben mit ein. Wer diese Leistung in Anspruch nehmen will, muss hierfür etwa 6000 Euro und mehr (je nach Bedarf) monatlich bezahlen. Dieser Bedarf wird momentan fast ausschließlich mit illegal beschäftigten Haushaltshilfen (und damit deutlich preisgünstigeren) aus den osteuropäischen Staaten abgedeckt. Bis zu 70.000 Familien sollen nach Angaben des Bundesverbandes der Privaten Anbieter sozialer Dienste eine solche illegale Unterstützung in Anspruch nehmen. Dies hat neben dem positiven Aspekt, dass mehr Pflegebedürftige länger in ihrer häuslichen Umgebung verbleiben können und Familienangehörige entlastet werden, durchaus problematische Auswirkungen sowohl auf die Beteiligten am Pflegegeschehen selbst, als auch auf das Angebot professioneller Anbieter von Pflegeleistungen. Nicht unbeachtet sollte der Umstand bleiben, dass aus der sozialen Notlage des Pflegebedürftigen und seiner Angehörigen eine strafbare Handlung entsteht, die mit einem erheblichen rechtlichen Risiko für die Betroffenen belastet ist. Aus diesem Dilemma der Verknüpfung positiver, gewollter Effekte durch die Duldung illegaler Verfahrensweisen entwickelt sich ein dringlicher Handlungsbedarf, zudem wir mit dieser Stellungnahme unsere konstruktive Mitarbeit anbieten. 1.1. Die Situation des Pflegebedürftigen Neben den beschriebenen positiven Effekten kann es im Hinblick auf die Versorgungssicherheit für den Versorgungsbedürftigen auch zu einer Reihe von unerwünschten negativen Begleiterscheinungen kommen. Hierzu zählen insbesondere: Kommunikationsprobleme aufgrund sprachlicher und kultureller Unterschiede Fehlender Schutz des Pflegebedürftigen vor unsachgemäßer Pflege Fehlender Schutz des Versorgungsbedürftigen vor Ausnutzung Verschlechterung der Pflegesituation durch unsachgerechtes Handeln Verschlechterung der Versorgungssituation durch mangelndes Wissen elementarer Umweltbedingungen Gefahr der Kriminalisierung durch illegale Beschäftigung Seite 2 Initiativkreis Pflegemanagement / 17.10.2006
1.2. Die Situation der illegal beschäftigten Menschen Wir halten es für unerlässlich bei der Betrachtung dieser Konstellation auch die Situation für die illegal beschäftigten Menschen gedanklich mit einzubeziehen. Auch diese Menschen haben mit vielen Nachteilen und Risiken gegenüber den legal beschäftigten Menschen in Deutschland zu tun: Arbeitsschutzvorschriften gelten nicht für illegal Beschäftigte Sozialversicherungsrechtliche Absicherung entfällt komplett Gefahr der Ausnutzung durch fehlende Lohngarantie Soziale Absicherung durch Lohnfortzahlung im Krankheitsfall entfällt Vereinsamung durch fehlende soziale Kontakte über den Pflege-/ Versorgungsbedürftigen hinaus Fatale Folgen für das soziale Umfeld des illegal Beschäftigten und der Gesellschaft des Herkunftslandes 1.3. Die Situation der professionellen Pflege Logische Konsequenzen aus den beschriebenen Rahmenbedingungen ist ein Rückgang sozialversicherungspflichtiger Arbeitsleistung. Die Gefahren für die Versorgungssituation der Pflegebedürftigen sind aufgrund der mangelnden Datenlage in Deutschland erst langfristig merkbar. Amerikanische und Englische Studien belegen, dass die Sterblichkeitsrate sowie die Gefahr der Entstehung zusätzlicher chronischer Erkrankungen signifikant mit der Präsenz von pflegerischem Fachpersonal sinkt. Einer kurzfristigen Absenkung der Nachfrage nach stationärer Altenpflege steht somit diametral eine Zunahme stationärer Krankenhauseinweisungen durch unsachgerechte pflegerische Versorgung gegenüber. Eine vermeintlich kostengünstige Versorgungssituation für den Pflege-/Versorgungsbedürftigen selbst provoziert volkswirtschaftlich erheblichen Schaden. 2. Forderungsbeschreibung Die Ist-Situation in der Versorgung von Pflegebedürftigen in der häuslichen Umgebung zeigt ein Versorgungsdefizit auf. Dass führt dazu, dass zurzeit Versorgungsformen angeboten und aufgebaut werden, die aus arbeitsrechtlicher und pflegefachlicher Sicht sehr kontrovers zu diskutieren und nicht grundsätzlich zu akzeptieren sind. Seite 3 Initiativkreis Pflegemanagement / 17.10.2006
Strukturelle und finanzielle Probleme aus unterschiedlichen Blickwinkeln sind die Grundlagen der Versorgungsdefizite. Die Pflegebedürftigen und deren soziales Umfeld erkennen und kennen nicht das erforderliche Angebot. Die Kosten der bestehenden Angebote überschreiten vielmals die Möglichkeiten der Betroffenen. Grundsätzlich besteht nicht die Möglichkeit des zielorientierten Einsatzes der Sozialversicherungsleistungen. Es besteht in diesem Zusammenhang eine falsche Gewichtung zwischen stationären und ambulanten Leistungen zu Lasten der ambulanten Leistungen. Die legalen Dienstleister können nicht aufgrund der rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen ein adäquates Angebot gegenüber dem Schwarzmarkt aufbauen und anbieten. Weiterhin entstehen volkswirtschaftliche Probleme und Ungleichgewichte durch den nicht legalen Versorgungsmarkt. Daher gilt es das Versorgungsdefizit an den Stellen der Problemdarstellung anzugehen. Unter anderen steht im Vordergrund die Schaffung und Unterstützung beim Aufbau zielorientierter neuer Angebote zur Versorgung von Menschen mit einem Pflege- und Hilfsbedarf. Eine Reform der Pflegeversicherung, die es ermöglicht einen individuellen Bedarf zielorientiert zu unterstützen, gilt es zu initiieren. Zur Sicherung der Versorgung und der Qualität sind grundsätzlich pflegefachliche Beratungs-, Steuerungs- und Kontrollstrukturen notwendig. Die Arbeitsgemeinschaft der Pflegemanager stellt daher Forderungen aus unterschiedlichen Gesichtspunkten auf. 2.1. Forderungen aus Sicht der Beschäftigten: Rahmenbedingungen (z.b. Tarifrecht) der Beschäftigung müssen auf ein westeuropäisches Niveau gestellt werden Beschäftigungsvoraussetzungen für Pflegekräfte aus EU-Mitgliedstaaten oder Drittländern dürfen aus rechtlichen und ethischen Gründen nicht schlechter sein, wie die Voraussetzungen der Deutschen auf dem Arbeitsmarkt Soziale Sicherheiten für die Arbeitnehmer müssen mit in die Rahmenbedingungen der Arbeitsverhältnisse aufgenommen werden Schutz der Beschäftigten vor haftungsrechtlichen Problemen durch Bestimmung des pflegerischen Tätigkeitsspektrums (Vorbehaltsaufgaben) Seite 4 Initiativkreis Pflegemanagement / 17.10.2006
2.2. Forderungen aus Sicht der Sozialversicherung: Die Grundlagen der Sozialversicherung gelten auch für die Arbeitsverhältnisse von Pflegekräften und Haushaltshilfen in häuslicher Situation Ein Vergehen muss entsprechend der rechtlichen Bestimmungen verfolgt und geahndet werden 2.3. Forderungen aus Sicht der Pflegebedürftigen: Sicherung der pflegerischen Versorgung durch legale Beschäftigungsverhältnisse. Sicherung der Qualität der pflegerischen Versorgung auf ein notwendiges, ausreichendes, wirtschaftliches und zweckmäßiges Niveau Ausschluss des Haftungsrisikos für die Pflegebedürftigen Unterstützung und Förderung alternativer Wohnformen und individueller Versorgungsangebote Aufbau eines Case-Managements mit pflegefachlicher Kompetenz zur Sicherung der Versorgung und Qualität der Pflegebedürftigen und zur Gewährleistung eines sinnvollen Einsatzes von finanziellen Mitteln Dritter Angebot von Information, Beratung, Schulung und Nachbetreuung durch pflegefachliche Kompetenz 2.4. Forderung an die Verwaltung und die Kreispflegekonferenz: Bildung von zwei Kommissionen 1. Arbeitsrechtliche Kommission Zielsetzung: Erarbeitung der arbeitsrechtlich und sozialversicherungspflichtig bedingten Rahmenbedingungen 2. Pflegefachliche Kommission Erarbeitung von Qualitätsnormen Erarbeitung von Versorgungsangeboten 2.4.1. Angebot an die Verwaltung und die Kreispflegekonferenz: Mitwirken von Pflegemanagern aus dem stationären und ambulanten Bereichen in der pflegefachlichen Kommission Seite 5 Initiativkreis Pflegemanagement / 17.10.2006
3. Schlussbetrachtung Das Pflegemanagement im Initiativkreis möchte mit dieser Petition erreichen, dass die zurzeit entstehende Entwicklung pflegerischer Versorgungsangebote in unserer Region beobachtet wird und entsprechende Prozesse eingeleitet werden. Uns liegt es an einer qualifizierten Versorgung der Pflegebedürftigen. Der Graumarkt pflegerischer Versorgung und illegaler Beschäftigung in der Pflege kann zu einem großen Problem werden. Das Verhindern von legalen Beschäftigungsverhältnissen in der Pflege liegt uns fern. Vielmehr gilt es den Pflegebedürftigen und deren pflegenden Angehörigen eine Transparenz des Marktes aufzuzeigen und diesen Personenkreis vor schlechter Pflegequalität und Rechtsverstößen zu schützen. Dieses geht nur durch Schaffung von niedrigschwelligen Instrumenten, wie z.b. das Case Management, die an der tatsächlichen Pflege der Menschen ihre Wirkung zeigt. Der Ausblick auf die Demographie und ihre Auswirkungen prophezeit eine extreme Ansteigung potentieller Fälle und nicht überschaubarer pflegerischer Angebote unter den jetzigen strukturellen Bedingungen. Die Art der Problembeseitigung wie sie z. B. in Österreich getroffen worden sind, sollten uns ein Negativbeispiel sein. Die Improvisation einer Problemlösung sollte einer Organisation einer Problemlösung weichen. Daher würden wir uns freuen, wenn wir uns fachlich an den anstehenden Prozessen beteiligen könnten. Für die Ausgestaltung des Diskussionspapiers sind verantwortlich: Frau Goß Frau Hachmöller Herr Horstick Frau Joemann Herr König Herr Mönning Herr Mört Frau Rottstegge Frau Rößmann Matthias Wittland Pflegedienstleiterin; St. Vincenz Hospital Coesfeld Pflegedienstleiterin; Elisabeth Hospital Dorsten Pflegedienstleiter; Krankenhaus Maria Hilf Stadtlohn stellv. Pflegedienstleiterin; Elisabeth Hospital Dorsten Pflegedirektor; St. Marienhospital Borken GmbH Pflegedienstleiter; St. Antonius Hospital Gronau Fachbereichsleiter; Caritas Senioren Service; CV Borken stellv. Pflegedienstleiterin; St. Vincenz Hospital Coesfeld stellv. Pflegedirektorin; St. Marienhospital Borken GmbH Geschäftsbereichsleiter; Caritas Senioren Service; CV Ahaus Seite 6 Initiativkreis Pflegemanagement / 17.10.2006