Klangräume des Heiligen Über die Gegenwart und Zukunft der geistlichen Chormusik



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Transkript:

Prof. Siegfried Bauer Klangräume des Heiligen Über die Gegenwart und Zukunft der geistlichen Chormusik Die Zukunft der geistlichen Chormusik kann niemand vorhersagen. Zu sehr ist sie verknüpft mit der Zukunft der Chormusik überhaupt, aber auch mit der Zukunft der Kirchenmusik. Und diese wiederum hängt eng mit der Frage zusammen, wie sich das gottesdienstliche Leben entwickelt. Wenn man Ausblicke in die Zukunft wagen will, muss man die Gegenwart mit offenen Augen oder noch besser: mit offenen Ohren - wahrnehmen. Nur so kann man vielleicht Tendenzen feststellen, die möglicherweise Perspektiven eröffnen. Im Kulturbericht der EKD von 1996 heißt es optimistisch: Die Musik stellt heute ein Glaubens- und Lebenskapital dar, das zunehmend an Bedeutung gewinnt. Diese hoffnungsvolle Aussage stützt sich auf Untersuchungen, die belegen, dass die Kirchenmusik dasjenige Arbeitsfeld in der evangelischen Kirche darstellt, in dem zahlenmäßig mehr als in irgendeinem anderen Bereich ehrenamtliche Mitarbeit vorhanden und wirksam ist. So engagieren sich im Bereich der EKD rund eine halbe Million Frauen und Männer, Jugendliche und Kinder regelmäßig in Chören und Musikgruppen. Das sind ca. 12 Prozent aller Musizierenden in Deutschland. Wie sieht es aber wirklich aus? Zur Situation der kirchlichen Chöre in Württemberg Eine Situationsbeschreibung darf sich nicht auf die Handvoll Spitzenchöre und vielleicht hundert leistungsfähigen Kantoreien und Ensembles in Württemberg beschränken. Diese bilden nicht einmal 10% der Chorlandschaft. Die überwiegende Mehrzahl der Chöre unterliegt den folgenden Trends. Die Chöre werden kleiner Von den 48.500 Laienchören in Deutschland (Stand 5/2006) sind 26.200 Chöre, also mehr als die Hälfte, kirchliche Chöre. Während die weltlichen Chöre durchschnittlich 31,5 Mitglieder haben, bringen es die kirchlichen im Durchschnitt gerade auf 24,8. In der württembergischen Landeskirche gibt es im Jahr 2006 1.730 Chöre mit insgesamt 44.492 Mitgliedern (Durchschnittschorstärke: 25,7). Im Jahr 2000/2001 betrug in Deutschland die durchschnittliche Mitgliederzahl eines Laienchores noch 32, 2005/2006 nur noch 28. Das bedeutet: Die Chöre werden im Durchschnitt kleiner. Die Chöre werden älter Hier haben wir aus unserer Landeskirche keine statistischen Zahlen. Die demographischen Veränderungen in unserer Gesellschaft spiegeln sich aber auch in der Laienchorkultur wieder. Und was die Chorleiterinnen und Chorleiter berichten, spricht Bände: In meinem Chor ist die Jüngste 60. Seit Jahren fällt bei einer Vielzahl unserer Chöre auf (vielleicht ist es sogar eine Mehrzahl!), dass sie für jüngere Mitglieder nicht mehr einladend und anscheinend nicht mehr in der Lage sind, diese zu integrieren. Für viele Jugendliche ist es immer weniger attraktiv, zusammen mit ihren Eltern und Großeltern in einem Chor zu singen. Sie wollen ihre Freizeit mit Gleichaltrigen gestalten. Unter jüngere Mitglieder sind nicht nur Jugendliche gemeint, sondern z.b. auch die Mütter, deren Kinder aus dem Gröbsten

heraus sind und die sich ein neues Hobby suchen oder sich wieder ihrem alten zuwenden möchten. So werden die Sängerinnen und Sänger eines Chores miteinander alt. In nicht wenigen Fällen sind sie dann irgendwann aufgrund ihrer Altersstruktur und ihrer Größe nicht mehr singfähig. Glücklicherweise entstehen gerade im kirchlichen Bereich aber auch neue Kinderund Jugendchöre (davon später mehr), leider nicht in dem Maß, wie die Erwachsenenchöre älter werden. Chöre, die nicht mehr in der Lange sind, die verschiedenen Generationen zusammen zu binden haben verschiedene Möglichkeiten: - Die verbliebenen Sängerinnen und Sänger bleiben beieinander, singen weiter, sich zur Freude, vielleicht verlegen sie ihre Probe auf den Nachmittag und übernehmen ab und an kleinere Dienste in der Kirchengemeinde. Wenn die Kirchengemeinden Glück haben und einen guten Chorleiter, kann vielleicht ein junger Chor gebildet werden, der an die Stelle des alten tritt und auch dessen Aufgaben in Liturgie und Konzert übernimmt. - Eine andere Möglichkeit wäre die Fusion mit einem benachbarten Chor. Wo die Ökumene am Ort lebendig ist, gelingt auch die Zusammenarbeit mit einem katholischen Kirchenchor. Nicht selten erwächst aus der Kooperation eine Fusion und damit ein leistungsfähiger Chor, der möglicherweise auch wieder für neue jüngere Mitglieder attraktiv ist. Es fehlt an qualifizierten Chorleiterinnen und Chorleitern Quantität und Qualität lassen sich auch in der Chorkultur nicht trennen. Chöre sind so gut und leider auch so schlecht wie ihre Chorleiter. Und damit betrachten wir die Chorlandschaft von einer anderen Seite. Obwohl sich die verantwortlichen Institutionen sehr bemühen, qualifizierte Chorleiterinnen und Chorleiter auszubilden, gehen mehr verdiente Dirigenten in den Ruhestand, als dass qualifizierte Chorleiter nachrücken. Vor allem auf dem Land fehlen, bis auf wenige hervorragende Vertreter dieser Spezies, die Lehrer-Kirchenmusiker als wesentliche Träger der Laienchorkultur. (Leider sehe ich an den Pädagogischen Hochschulen nicht den qualifizierten Nachwuchs, der in der Lage wäre, die großen Lücken zu schließen. Viele der angehenden Lehrerinnen und Lehre müssten zuerst einmal selbst singen lernen bevor sie dies anderen beibringen wollen.) Es fehlt an Pfarrerinnen und Pfarrern mit Interesse an der Chorarbeit Gehörten früher die Pfarrer aufgrund ihrer kirchlichen und kirchenmusikalischen Sozialisation zu den Förderern der Chormusik in den Kirchengemeinden (nicht wenige haben mit ihren Frauen und Kindern in den Chören mitgesungen), so gibt es heute leider viele Pfarrerinnen und Pfarrer, die Chormusik als Kinder und Jugendliche nicht selbst erlebt haben und darum ihre Bedeutung für Gottesdienst und Gemeinde nicht erkennen. Zusammen mit den Lehrern waren die Pfarrer früher wichtige Kulturträger im Dorf. Hier bricht leider in vielen Dörfern eine Jahrhunderte lang gewachsene Kultur zusammen. Spitzenchöre und leistungsfähige Kantoreien Für die am Anfang genannten Spitzenchöre und leistungsfähigen Kantoreien gelten andere Arbeitsbedingungen: - Sie haben musikalisch und pädagogisch qualifizierte Chorleiter, die Menschen begeistern können. - Sie sind meist überregional zusammengesetzt oder Chöre in den großen Städten.

- Für die Mitwirkung muss man eine gute Stimme und Chorerfahrung mitbringen. - Die Chormitglieder haben eine Gesangsausbildung oder bekommen regelmäßige Stimmbildung. - Die Chorarbeit ist leistungsorientiert. Man probt mit dem Ziel der Aufführung im Konzert oder in einem besonderen Gottesdienst. - Diese Chöre haben i. d. R. keinen Nachwuchsmangel. Oft können sich die Chorleiter sogar die Interessenten aussuchen. (Gute Tenöre werden meistens genommen!) Im Gegensatz zur Mehrzahl der Kirchenchöre sind solche Chöre natürlich attraktiver für begabte Sängerinnen und Sänger. Auch junge Menschen mit guter Stimme werden sich eher einem solchen leistungsfähigen Chor anschließen, als dem kleinen, überalterten Kirchenchor ihrer Kirchengemeinde. Unsere Gesellschaft ist so mobil, dass die Sängerinnen und Sänger auch größere Entfernungen zum Ort der Chorprobe in Kauf nehmen. Und damit entziehen diese herausragenden Chöre den kleinen Kirchenchören die wenigen leistungsfähigen Sängerinnen und Sänger und den qualifizierten Nachwuchs. Ganz zu schweigen von einzelnen Spitzenchören, die ihre Sängerinnen und Sänger honorieren. Wachsende Kinder- und Jugendchöre An nicht wenigen kirchenmusikalischen Zentren wachsen besonders in den letzten Jahren in erfreulichem Maße die Kinder- und Jugendchöre. Das hängt zusammen mit dem hohen Engagement und der besonderen pädagogischen Begabung der betreffenden Kantorinnen und Kantoren, sicher auch mit der schlimmen Situation, dass in vielen Kindergärten und Schulklassen nicht oder nicht regelmäßig gesungen wird. Glücklicherweise wissen inzwischen auch die Eltern, wie wichtig das regelmäßige und richtige Singen für ihre Kinder ist. Und, was vor wenigen Jahren noch nicht denkbar erschien: Kirchengemeinden erkennen die Kinderchorarbeit als wichtigen Bereich der Gemeindeentwicklung, denn die Kinder bringen zu den Veranstaltungen und Gottesdiensten ihre Freunde und Freundinnen, Eltern und Großeltern mit. So wie diese begabten und engagierten Kantorinnen und Kantoren die Kinder bereits in den Kindergärten abholen, so haben sie jetzt durch die Jugendbetreuung in der Ganztagesschule die Chance, Jugendliche anzusprechen, die auf keinem anderen Wege zu erreichen sind. Die Ganztagesschule ist also nicht nur eine Gefahr für die kirchliche Jugendarbeit, sondern auch eine Chance. Die Literatur der Chöre Mehr als Strukturen und Statistiken würde uns ja die Literatur der Chöre etwas über Gegenwart und Zukunft der geistlichen Chormusik verraten. Leider haben wir aber darüber überhaupt keine Erhebungen und können nur auf unsere persönlichen Beobachtungen bauen. Als früherer Landesobmann für die evangelischen Kirchenchöre in Württemberg gehörte es zu meinen Aufgaben, Chorhefte herauszugeben, die von vielen Chören neben dem Gölz (Chorgesangbuch, 1934 herausgegeben von Richard Gölz) auch gekauft und genutzt wurden. Bis Ende der 80er Jahre waren in diesen Heften vor allem die Meister des 17. und 18. Jahrhunderts vertreten und neue Komponisten wie Hugo Distler, Ernst Pepping, Kurt Hessenberg, Siegfried Reda, Helmut Bornefeld, Paul Ernst Ruppel sowie die jüngeren Zeitgenossen wie Hermann Stern,

Paul Horn oder Hans-Georg Bertram. Nur ganz vorsichtig meldete sich auch die Romantik, zuerst mit Felix Mendelssohn und Max Reger. Dies änderte sich grundlegend mit dem von mir 1989 herausgegebenen Chorheft Geistliche Chormusik der Romantik, 60 Motetten und Choralsätze für gemischten Chor. Verständlicherweise veröffentlichen die Verlage die Verkaufszahlen ihrer Editionen nicht. Man wird aber nicht fehlgehen in der Annahme, dass es sich bei diesem Chorheft um eines der am meisten verkauften Chorbücher in Deutschland handelt. Landauf landab wird die hier zur Verfügung gestellte romantische, geistliche Chormusik auch heute noch in den Chören gesungen. Diese Romantikwelle hatte aber auch zur Folge, dass die genannten Komponisten des 20. Jahrhunderts weniger oder gar nicht mehr gesungen wurden. So bleibt für die Kirchenchöre im Wesentlichen die Chormusik des Barock und der Romantik. Vor allem für manche jüngeren Chöre kommt neu die Popularmusik hinzu. Bereits vor dieser Entwicklung hatten die großen Kantoreien die Motetten und Oratorien der Romantik entdeckt. Am Anfang gab es noch skeptische Stimmen von einzelnen Nachfahren der Singbewegung: Als ich z. B. zum ersten Mal den Elias von Mendelssohn aufführen wollte, fragte ein Chorsänger, ob das nicht eine der geistlichen Operetten sei. Bald jedoch wetteiferten die Chöre um die Aufführung romantischer Chormusik und die Verlage entdeckten immer neue Komponisten des 19. Jahrhunderts mit ihren Werken und stellten diese den Chören in praktischen Ausgaben zur Verfügung. Eine Untersuchung von Michael Čulo über die in der Stunde der Kirchenmusik in der Stuttgarter Stiftskirche aufgeführte Literatur zeigt diese Entwicklung in anschaulicher Weise. Untersucht wurden die Programme der Jahrgänge 1959, 1983 und 2006. Dabei stellte sich heraus, dass 1959 80% der Literatur aus der Renaissance und dem Barock stammte, 3 % aus der Romantik (Brahms und Reger) und 17 % aus der Moderne (Bornefeld, David, Distler, Hessenberg, Pepping, Raphael, Reda, Witte). Rund 25 Jahre später, im Jahr 1983, sah es dann schon anders aus: der Anteil der Werke aus der Renaissance und dem Barock ging auf 45% zurück, die Romantik stieg auf rund 20%, die Moderne aber auch auf rund 30%. Und wieder fast 25 Jahre später, im Jahre 2006, fielen Renaissance und Barock weiter auf 32%, Klassik und Romantik stiegen auf 38%, die Moderne blieb auf 30%. Die Anzahl der romantischen Werke stieg also in dieser Konzertreihe in den letzten 50 Jahren von 3% im Jahr 1959 über 20% im Jahr 1983 bis zu 38% im Jahr 2006. Auffallend ist auch, dass in der Stuttgarter Stunde der Kirchenmusik in den letzten Jahren die Zahl der A-cappella-Chorkonzerte von 46% im Jahr 1959 über 28% im Jahr 1983 auf 20% im Jahr 2006 zurückgingen oder anders gesagt: Vor 50 Jahren wurden mehr als doppelt so viele Stunden mit A-cappella-Chorwerken gestaltet als heutzutage. Dies mag nicht repräsentativ sein für unsere chormusikalische Landschaft, zeichenhaft sind solche Tendenzen schon.

Aussagen der Kirchenleitungen zur geistlichen Chormusik Will man die Zukunft der geistlichen Chormusik abschätzen, so sind die Positionen der Kirchenleitungen dazu nicht uninteressant. Der württembergische Landesbischof Frank Otfried July verweist in seinem Grußwort in Musik in unserer Kirche auf die Bandbreite der Vokalmusik vom Singen im Kindergarten bis zu den Seniorenchören, von den Kantoreien bis zu den Pop- und Gospelchören. Die Kirchenmusik erfülle mit der Pflege der großen Werke aus Geschichte und Gegenwart auch eine ureigene kulturelle Aufgabe in unserer Gesellschaft. Für nicht wenige Menschen sei die Kirchenmusik die einzige Brücke zur biblischen Überlieferung. Das bedeute, dass im Jahr 2003 jeder zweite, der an einer kirchengemeindlichen Veranstaltung teilnahm, eine kirchenmusikalische Veranstaltung besucht hat. Sein Schlusssatz: So wird die Kirchenmusik in ihren traditionellen und neuen Formen auch in Zukunft unabdingbar zum kirchlichen Leben unserer württembergischen Landeskirche gehören. Ähnlich positiv äußern sich auch andere Kirchen leitende Persönlichkeiten. Der Bischof der Diözese Rottenburg-Stuttgart, Dr. Gebhard Fürst, spricht vom Singen im Chor als einer zentralen Aufgabe von Kirche und Theologie ja von einer Gnadengabe, die es gelte, immer mehr zu entfalten. Das bedeute, dass die Chormusik mehr als eine Zierde des Gottesdienstes sei. Im chorischen Singen werde das Wort Gottes verkündet, Gemeinschaft gestiftet und Glauben gestärkt. Was sagen die großen kirchlichen Chorverbände? Den Präsidenten der beiden großen kirchlichen Chorverbände, Msgr. Prof. Dr. Wolfgang Bretschneider (Allgemeiner Cäcilien-Verband für Deutschland) und KMD Lothar Friedrich (Verband evangelischer Kirchenchöre in Deutschland e.v.), habe ich vier Fragen zu unserem Thema vorgelegt: 1. Wie beurteilen Sie die derzeitige Chorlandschaft in Ihrer Kirche? 2. Welche Perspektiven sehen Sie für die geistliche Chormusik? 3. Wo liegen Ihrer Meinung nach die Gefahren? 4. Welche Maßnahmen müssen aus Ihrer Sicht dringend verstärkt oder gestartet werden, um diese Gefahren abzuwenden? Übereinstimmend beurteilen sie die Lage folgendermaßen: Auf der einen Seite wirke sich die demographische Entwicklung der Gesellschaft auch in den Chören aus: Vielen Kirchenchören drohe in absehbarer Zeit die Auflösung durch Überalterung. Die ideale Pyramide mit einer breiten Basis des Laiengesangs und einer schmalen Leistungsspitze gebe es nicht mehr. Oder anders gesagt: der schmalen Leistungsspitze fehle die breite Basis. Auf der anderen Seite seien da immer noch die beachtlichen Zahlen. Viele große Kantoreien, die je nach Ort sehr leistungsfähig und profiliert seien, hätten nur zum Teil das Problem der Überalterung. Es gebe viel Bewegung in der Chorlandschaft: neben den traditionellen Kirchenchören entstünden neue Gruppierungen, z.b. kleine leistungsfähige Ensembles oder Projektchöre als Angebote für Menschen, die chorische Leistung bringen wollen und können, aber keine langfristige Bindung eingehen möchten. In vielen kirchlichen Kreisen aber auch in der Öffentlichkeit gebe es ein wachsendes Interesse und Offenheit für geistliche Chormusik.

In der kath. Kirchenmusik sei ein wachsendes Bewusstsein von der Notwendigkeit und dem Segen des Singens in Liturgie und Pastoral festzustellen. Dabei werde die ganze Bandbreite geistlicher Musik ausgelotet. In diesem Zusammenhang gebe es ein immer neues Bemühen, auf Komponisten der Gegenwart zuzugehen und mit ihnen in einen theologischen und kirchlichen Dialog zu treten. Das derzeitige Hauptanliegen der Verbände ist, dabei mitzuwirken, dass möglichst viele junge Menschen in Kindergarten und Schule, in Freizeit- und Ferienangeboten sowie in kirchlichen Chören ihre eigenen musikalischen Möglichkeiten entdecken und ausbilden lassen. Dazu gibt es in beiden Kirchen bereits entsprechende zukunftsträchtige Initiativen. Begeisterung heißt ein Schlüsselwort und möglichst früh beginnen! das andere. Was wünsche ich mir und uns für die Zukunft? - Dass die Kirchenleitungen noch mehr als bisher erkennen, dass Kirche aus prinzipiellen inhaltlichen Gründen nicht auf geistliche Chormusik verzichten kann. Speziell die Auseinandersetzung mit zeitgenössischen künstlerischen Äußerungen stellt Fragen, die für die Artikulation des Glaubens in der Gegenwart von größter Bedeutung sind. (KMD Prof. Dr. Dr. h. c. Christfried Brödel, Dresden). - Dass darum das Singen in der Kirche wieder zu einer Hauptaufgabe für die Kirchenmusikerinnen und Kirchenmusiker wird. - Dass wir genügend begeisterte und begeisterungsfähige haupt- und nebenberuflich tätige Chorleiterinnen und Chorleiter gewinnen. - Dass auf dem Gebiet des Singens und der Chorleitung so umfassend und so gründlich ausgebildet wird wie z. B. im Orgelspiel. - Dass die Bezahlung der hauptamtlichen kirchlichen Mitarbeiter eine ausreichende Grundlage für eine angemessene Lebensführung bildet und der Länge der Ausbildung, dem Niveau der Qualifikation sowie der künstlerischen Verantwortung entspricht. - Dass der Gottesdienst das Standbein evangelischer Chormusik bleibt. Die geistliche Chormusik gehört zur Sprache des Glaubens im Gottesdienst. Dies wird nur gelingen, wenn die bestmögliche Qualität von Komposition und Ausführung auch für den Gottesdienst das oberste Gebot bleibt. - Dass alle Verantwortlichen erkennen, dass Kantoreiarbeit künstlerischpädagogische Arbeit mit musikalischen Laien ist, die auch andere attraktive Ziele braucht. Das Konzert ist nötig, damit auch der Gottesdienst auf gutem Niveau gestaltet werden kann. Kirchenkonzerte sind kulturelle Angebote einer offenen und öffentlichen Kirche, die gleichermaßen attraktiv sind für Kirchenverbundene und Distanzierte. So ist die geistliche Chormusik eines der weit geöffneten Kirchenfenster in unsere Gesellschaft hinein, weil sie die hervorragende Möglichkeit bietet, die emotionalen wie die kognitiven Aspekte von Glauben und Religion zu erschließen und zu bearbeiten. Geistliche Chormusik hat mehr denn je eine missionarischen und eine kulturelle Dimension. - Dass die Komposition und Interpretation neuer geistlicher Chormusik nicht dem anscheinend populären Publikumsgeschmack weichen muss, sondern leistungsfähige Chöre auch auf diesem Gebiet ihre künstlerische Verantwortung sehen. - Dass die Kirchen den Schatz der geistlichen Chormusik nicht missachten. In einer sich rasant verändernden Gesellschaft ist auch die Kirchenmusik ein

Bestandteil einer pluralen postmodernen Kultur geworden. Das Monopol der christlichen Kirchen auf geistliche Chormusik ist dahin. Die Kirchen müssen sich um die geistliche Chormusik immer neu bemühen in der Hoffnung, dass Vielen die Ohren geöffnet werden für diese klingende Himmelsleiter. Ob im Gottesdienst oder im Konzert: Geistliche Chormusik ist eine Möglichkeit der Begegnung mit Gott. Im Mysterium der Musik verbergen sich Lebenstöne und Himmelsklänge. Auf der Suche, auch im 21. Jahrhundert dem Glauben, der Hoffnung und der Liebe eine Sprache zu geben, kommt der geistlichen Chormusik eine besondere Bedeutung zu. Gott redet mit uns auf vielfältige Weise. Mit vielen Menschen redet er auch durch die geistliche Chormusik. Ob als Sänger oder als Hörer: sie ist für viele eine Möglichkeit der Begegnung mit dem Heiligen.