Interdisziplinäre Modelle zur Optimierung der Polypharmazie im Alter Möglichkeiten und Barrieren Petra A. Thürmann Lehrstuhl für Klinische Pharmakologie Universität Witten/Herdecke Philipp Klee-Institut für Klinische Pharmakologie HELIOS Klinikum Wuppertal
Optimierung der Pharmakotherapie im Alter Problematik der Polypharmakotherapie Leitlinien De-Prescribing Optimierung der Pharmakotherapie im ambulanten Bereich Optimierung der Pharmakotherapie in Einrichtungen der Langzeitpflege Modelle - Barrieren 2
Polypharmazie in einer deutschen Kohorte zu Hause lebender Senioren Deutschland-weite getabi- Kohorte (Diehm et al. Circulation 2009), 7- Jahres follow-up N = 1937 zu Hause lebende SeniorInnen (78,2 4,2 Jahre, 53,3 % Frauen) Arzneimitteleinnahme: 6,1 3,3 verschiedene Arzneimittel pro Tag 426 schwerwiegende und 16 kontraindizierte Interaktionen Szymanski et al., Br J Clin Pharmacol 2010, 70 (Suppl.1), 30 3
Multimedikation in der getabi-kohorte Polypharmazie ( 5 AM) in 64 % der Patienten 4.4 ± 2.6 tägl. AM plus 1.1 ± 1.3 OTC AM The most frequently reported drug classes: ATC Drug Classes % women with use % men with use % of all patients p-value C09 RAS Agents 62.3 67.4 64.7 0.0192 B01 Antithrombotics 44 57.7 50.4 < 0.0001 C07 Betablockers 45.4 53 49 0.0008 C10 Lipid modifiers 33.4 44.6 38.6 < 0.0001 A10 Antidiabetics 17.3 22.5 19.7 0.0045 C03 Diuretics 26.6 26.8 26.7 0.9296 C08 CCBs 25.8 27.6 26.7 0.391 A12 Mineral supplements 25.4 14 20 < 0.0001 C01 Cardiac therapy 17.9 19.9 18.9 0.2559 A02 Acid lowering drugs 20.7 17.5 19.2 0.0729
Alter der Patienten in Herzinsuffizienz-Studien Medianes Alter der Studienpatienten versus Würzburger Herzinsuffizienz-Register 5
Can Fam Physician 2011
Pharmakotherapie im Alter Herausforderung für Praxis und Forschung Ältere und hochbetagte Patienten sind bislang in klinischen Studien meist unzureichend repräsentiert obwohl man relevante klinische Unterschiede zu jüngeren Patienten kennt Daher sind die Ergebnisse von RCTs und auch Leitlinien bei Senioren oftmals nur eingeschränkt anwendbar Forschungsbedarf 7
www.bpac.org.nz 8
RCTs zum De-Prescribing Arzneistoffklasse Ergebnis des Absetzens Thiazide Antihypertensiva Psychopharmaka Digoxin, Nitrate Bei 51% - 100% der Teilnehmer konnten Diuretika über 6-52 Wochen abgesetzt werden. Z.T. mehr Knöchelödeme, etwas höherer Blutdruck, Harnsäure und Cholesterin - Risikofaktor: Herzinsuffizienz 20% - 85 % konnten Antihypertensivum absetzen über 40 260 Wochen. Langsamer BD-. 4 Patienten erlitten akute Ereignisse unter Absetzen. In einer anderen Studie hatte Absetz-Kohorte akute Ereignisse Ausschleichen (Benzo): weniger Stürze, bessere Funktionalität. Neuroleptika, SSRIs und Carbamazepin: meist Nutzen für Patienten. Digoxin: Gelegentlich VHF. Nitrate: selten Angina pectoris Iyer et al, Drugs Aging 2008
Barrieren beim De-Prescribing Ärzte und De-Prescribing Dichotomisieren Medikation in symptomatische und präventive Therapie Leitliniengerechte Therapievorschläge nach Entlassung aus dem Krankenhaus Schwierigkeiten beim Absetzen präventiver Therapie (Schuling et al, BMC Fam Pract 2012) Patientenperspektive Patientenängste beim Absetzen, Vertrauen zum Arzt, zur Familie (Reeve et al, Drugs Aging 2013) 10
Instrumente zur Optimierung der Pharmakotherapie Die Garfinkel -Methode: Good palliative geriatric practice Algorithmus (Garfinkel et al, Arch Intern Med 2010) Fit for The Aged (FORTA)-Kriterien (Kuhn-Thiel et al, Drugs Aging 2014) PRISCUS-Liste (Holt et al, DÄ 2010) STOPP/START Kriterien (Gallagher et al, Int J Clin Pharmacol Ther 2008) Medication Appropriateness Index (MAI) (Hanlon et al, J Clin Epidemiol 1992) Hessische Leitlinie Geriatrie (http://www.pmvforschungsgruppe.de/pdf/03_publikationen/multimedikation _ll.pdf) 11
Patterson et al, 2012 12
http://www.sahlgrenska.se/upload/su/hta-centrum/hta-rapporter/htarapport%20l%c3%a4kemedelsgenomg%c3%a5ngar%20f%c3%b6r%20patienter%20i%20s %c3%a4rskilt%20boende%20,%20del%201,%20till%20publicering.pdf
Evidenz für Multimedikations- Optimierungsansätze Es gibt einige RCTs, welche die Praktikabilität der Anwendung von Instrumenten zur Therapie im Alter/bei Multimorbidität zeigen Im Hinblick auf Surrogatendpunkte (Anzahl unangemessener Medikamente, Gesamtzahl der Medikamente) sind sie wirksam Es ist für keines der Multimedikations- Bereinigungs-Tools in einer qualitativ hochwertigen Studie belegt, dass Absetzen/Ändern mehr nützt als schadet (obwohl wir das annehmen)
Kritik an den bisherigen Interventionen Sehr heterogene Ansätze, oftmals schwer verständlich (unterschiedliche Gesundheitssysteme!) Outcome-Parameter: Anzahl der Medikamente, MAI, PIMs anstatt Lebensqualität, Hospitalisierungen (Mortalität) 15
Multidisziplinäre und interprofessionelle Ansätze, z.b. Einbringen der jeweiligen spezifischen Kompetenzen; gegenseitige Wahrnehmung und Anerkennung 16
Barrieren der interprofessionellen Optimierung der Multimedikation Bedürfnisse der Hausärzte oftmals noch Einzelkämpfer alter Schule Experten ihres Alltags (keine Propädeutik, Wissenschaft), sondern praktische Hinweise Nur durch Diskussion in peer-gruppe kann Umsetzung erwirkt werden Interventionen von anderen Berufsgruppen wird als Einmischung gesehen Bedürfnisse der Apotheker Bedürfnisse der Pflegekräfte/MFAs 17
Danke für Ihre Aufmerksamkeit 18
Universität Bonn, 10. Juli 2013 19
Arzneimittelgebrauch im Alter > 65-Jährige nehmen 4-5 verschiedene Arzneimittel/d ein Mehr als die Hälfte der Hochbetagten (> 80 J) nimmt mindestens 5 verschiedene Arzneimittel/d ein 20 Thürmann et al, Versorgungs-Report 2012
Patientenkollektiv in 4 Studien im Alter Studie SENIORS (Herzinsuffizienz) (n = 2.128) HYVET (Hypertonie) (n = 3.845) getabi (pavk-prävalenz) (n = 1.936) Garfinkel et al (Multimorbidität) (n = 70) Alter (J) Frauen (%) Diabete s (%) Cogn. Weitere Merkmale 76 37 26 Infarkt 44 %, Schlaganfall 0%, Hypertonie 62 % 84 60 6,8 Herzinsuffizienz 2,9 %, Infarkt 3 %, Schlaganfall 7 % 78 53 25 1% Infarkt 26 %, Herzinsuffizienz 19%, Osteoarthritis 36 % 83 61 33 57 Herzinsuffizienz 9%, KHK 30 %, Inkontinenz 50 %, Schlaganfall 26%
Voraussetzungen für Studien mit geriatrischen Patienten Charakterisierung des geriatrischen Kollektivs anhand eines geriatrischen Assessments (Mobilität, Kognition etc.) Studienbedingungen/Praktikabilität Outcome? Mortalität Funktionalität Lebensqualität 22
Evidenz für De-Prescribing? Nihil nocere Alter, Multimorbidität und Polypharmazie sind bislang in den meisten Lietlinien nicht adäquat berücksichtigt Damit ist die externe Validität für diese Patientenpopulation nicht gegeben Es wird nie Studien für alle Morbiditätskombinationen geben Reduktion der Multimedikation nach Expertenkonsens und Patientenpräferenzen Sicherheit? Qualitativ hochwertige Studien zur Sicherheit und Wirksamkeit bei der Implementierung von Handlungsempfehlungen und Leitlinien bei Multimorbidität
RCTs zum De-Prescribing Systematischer Review; Medication withdrawal trials in people aged 65 years and older PubMed Suchstrategie mit terms z.b. medication withdrawal ergab zu viele Treffer Fokussierung auf withdrawal/cessation/stop/ discontinuation AND drug class (antihypertensives, digoxin, statins ) > 4.500 Artikel Abstract Review Identifikation weiterer Arbeiten in den Literaturangaben RCT mit Absetzen oder zumindest prospektive Kohorte Studienpopulation > 65 Jahre Generelle Reduktion der mittleren Medikamentenzahl nicht eingeschlossen Iyer et al, Drugs Aging 2008