I N A U G U R A L D I S S E R T A T I O N



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Transkript:

Aus der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychosomatik Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau Symptomprofile und entwicklung in einer katamnestischen Stichprobe von Patienten mit High-Functioning und Low-Functioning Frühkindlichen Autismus: Implikationen für das Konzept der Autismus-Spektrum-Störungen I N A U G U R A L D I S S E R T A T I O N zur Erlangung des Medizinischen Doktorgrades der Medizinischen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau vorgelegt 2008 von Julia Reusch geboren in Neuss

Dekan: Prof. Dr. C. Peters 1. Gutachter: Prof. Dr. E. Schulz 2. Gutachter: Prof. Dr. V. Mall Jahr der Promotion: 2009

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis 1. Theoretischer Hintergrund 13 1.1 Einführung 13 1.2 Zur historischen Entwicklung des Autismus 14 1.3 Definition und Klassifikation 16 1.4 Symptomatik 20 1.5 Epidemiologie 22 1.6 Intelligenzniveau und Autismus 24 1.7 Zur klinischen Unterscheidung zwischen High-Functioning-Autismus und Low-Functioning-Autismus 26 1.8 Ätiologie und Pathogenese 29 1.9 Frühe Indikatoren für autistische Störungen 33 1.10 Diagnose, Differenzialdiagnose und verwandte Störungen 35 2. Fragestellung der vorliegenden Studie 38 3. Stichproben- und Datenerhebung 39 3.1 Planung und Durchführung der Untersuchung 41 3.2 Eingesetzte Untersuchungsinstrumente 44 3.3 Statistische Auswertung 55 3.4 Ethikkommission 55 4. Ergebnisse 56 4.1 Beschreibung der Stichprobe 56 4.2. Diagnostische Kriterien nach ICD-10 und DSM-IV 62 4.2.1 Ergebnisse des FAI: Auftretenshäufigkeiten und Zeitpunkte der diagnostischen Kriterien 62 4.2.2 Auffälligkeiten vor Vollendung des dritten Lebensjahres 73 4.2.3 Ergebnisse im ADOS und ADI-R 74 4.2.4 Katamnestische Überprüfung verwandter Störungen 78 4.3 Erkrankungsverlauf: Von den ersten Auffälligkeiten bis zur Diagnosestellung 80 4.3.1 Zeitpunkt der ersten Auffälligkeiten 80 4.3.2 Frühe Indikatoren 81

Inhaltsverzeichnis 4.3.3 Erster Verdacht auf eine Störung aus dem autistischen Formenkreis 87 4.3.4 Zeitpunkt der ersten Verdachtsdiagnose 88 4.3.5 Zeitpunkt der ersten Diagnosestellung 88 4.3.6 Psychiatrische Diagnosen vor Diagnosestellung 90 4.4 Therapeutische Interventionen 93 4.4.1 Ambulante Therapien 93 4.4.2 Stationären Therapien 95 4.4.3 Medikamentöse Therapie 96 4.4.4 Besuchte Bildungseinrichtungen 97 4.5 Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung 99 4.6 Demographische Beschreibung der Stichprobe 104 4.6.1 Schichtzugehörigkeit der Eltern 104 4.6.2 Familiäre Situation 106 4.6.3 Wohnsituation 106 5. Diskussion 108 5.1 Diskussion der Ergebnisse 108 5.1.1 Klinische Ausprägung der diagnostischen Kriterien nach ICD-10 und DSM IV bei High-Functioning und Low-Functioning frühkindlichen Autismus 108 5.1.2 Erste Verhaltensauffälligkeiten und frühe Indikatoren für autistische Störungen 115 5.1.3 Erkrankungsverlauf 118 5.1.4 Demographische Faktoren 125 5.2 Limitationen der vorliegenden Studie 127 5.3 Klinische Bedeutung der Ergebnisse 128 6. Zusammenfassung und Ausblick 133 7. Anhang 134 7.1 ASD Datenbank 134 7.2 Diagnostische Kriterien MCDD 143 7.3 Danksagung 144 7.4 Lebenslauf 145 8. Literaturverzeichnis 146

Abkürzungsverzeichnis Abkürzungen ABA ADI-R ADOS AS ASD BaDo Applied Behavior Analysis Diagnostisches Interview für Autismus - Revidiert Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen Asperger-Syndrom Autism spectrum disorder (Autismus-Spektrum -Störungen) Basisdokumentation CFT-20 Grundintelligenztest Skala 2 CFT-20-R DD DSM-IV Grundintelligenztest Skala 2 - Revision Differenzialdiagnose Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (4 Ed.) DSM-IV-TR Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (4 Ed.) - Text Revision EF FAI FSK GS HAWIE HAWIE-R HAWIK-R HAWIK-III HFA ICD-10 IQ K-ABC KJP LFA Defizit der Exekutivfunktionen Freiburger Autismus Inventar Fragebogen zur Sozialen Kommunikation Grundschule Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Erwachsene - Revidiert Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder - Revidiert Hamburg-Wechsler-Intelligenztest für Kinder - 3.Edition High-Functioning Autismus International Classification of Diseases-10th Edition Intelligenz-Quotient Kaufman Assessment Battery for Children, Deutsche Version Kinder- und Jugendpsychiatrie Low-Functioning Autismus

Abkürzungsverzeichnis M Max MBAS MCDD Min n SAS SD SPZ SZK SSW TEACCH Mittelwert Maximum Marburger Beurteilungsskala zum Asperger-Syndrom Multiple-Complex Developmental Disorder Minimum Anzahl Statistical Analysis System Standardabweichung Sozialpädiatrisches Zentrum Theorie der schwachen zentralen Kohärenz Schwangerschaftswoche Treatment and Education of Autistic and related Communication handicapped Children ToM V.a. WIE Z.n. Theory of Mind Verdacht auf Wechsler Intelligenz Test Zustand nach

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Flussdiagramm zum Ein- und Ausschluss der Patienten Abbildung 2: Flussdiagramm zum Ablauf des Studientermins Abbildung 3: IQ-Bereiche der Gesamtstichprobe im Vergleich zur Normalverteilung Abbildung 4: IQ-Verteilung der HFA-Stichprobe im Vergleich zur Normalverteilung Abbildung 5: Zeitachse zum Krankheitsverlauf Abbildung 6: Psychosoziale Anpassung, HFA-Stichprobe und LFA-Stichprobe Abbildung 7: Zusammenhang zwischen psychosozialer Anpassung und kognitivem Leistungsniveau Tabelle 1. Alter zum Zeitpunkt der Katamnese Tabelle 1a. Alter zum Zeitpunkt der Katamnese für die HFA-Stichprobe Tabelle 1b. Alter zum Zeitpunkt der Katamnese für die LFA-Stichprobe Tabelle 2. Intelligenzniveau Tabelle 3. IQ-Bereiche für HFA (IQ > 70) und LFA (IQ < 70) Tabelle 4. Beeinträchtigung der sozialen Interaktion: Auftretenshäufigkeiten der diagnostischen Kriterien Tabelle 5. Beeinträchtigung der sozialen Interaktion: Zeitliches Auftreten der Kriterien für die HFA-Stichprobe

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabelle 5a. Beeinträchtigung der sozialen Interaktion: Zeitliches Auftreten der Kriterien für die LFA-Stichprobe Tabelle 6. Beeinträchtigungen in der Kommunikation: Auftretenshäufigkeiten der diagnostischen Kriterien Tabelle 7. Beeinträchtigungen in der Kommunikation: Zeitliches Auftreten der Kriterien für die HFA-Stichprobe Tabelle 7a. Beeinträchtigungen in der Kommunikation: Zeitliches Auftreten der Kriterie für die LFA-Stichprobe Tabelle 8. Beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten : Auftretenshäufigkeiten der diagnostischen Kriterien Tabelle 9. Beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten : Zeitliches Auftreten der Kriterien für die HFA-Stichprobe Tabelle 9a. Beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten: Zeitliches Auftreten der Kriterien für die LFA-Stichprobe Tabelle 10. Sonderinteressen aufgeschlüsselt nach HFA und LFA Tabelle 11. Nichtfunktionale Gewohnheiten oder Rituale Tabelle 12. Manierismen Tabelle 13. Auffälligkeiten vor Vollendung des dritten Lebensjahres Tabelle 14. ADOS (Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen): Erzielte Ergebnisse und vergebene Diagnosen für die HFA-Stichprobe Tabelle 14a. ADOS (Diagnostische Beobachtungsskala für Autistische Störungen): Erzielte

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Ergebnisse und vergebene Diagnosen für die LFA-Stichprobe Tabelle 15. ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus - Revidiert): Erzielte Summenwerte Tabelle 15a. ADI-R (Diagnostisches Interview für Autismus - Revidiert): Cut-off erreicht Tabelle 16. MCDD-Krierien, HFA und LFA Tabelle 17. Mittleres Alter bei Auftreten der 1. Auffälligkeiten, der 1. Konsultation, der 1. Verdachtsdiagnose und der 1. Diagnosestellung Tabelle 18. Erste Auffälligkeiten: Auswahlmöglichkeiten, HFA-Stichprobe und LFA- Stichprobe Tabelle 19. Erste Auffälligkeiten: Freitext-Felder Tabelle 20. Weitere Auffälligkeiten: Auswahlmöglichkeiten, HFA-Stichprobe und LFA- Stichprobe Tabelle 21. Erste konsultierte Versorgungseinrichtung Tabelle 22. Person, die den ersten Verdacht auf eine Störung aus dem autistischen Formenkreis äußerte Tabelle 23. Diagnostiker, die vor Diagnosestellung konsultiert wurden, HFA-Stichprobe und LFA-Stichprobe Tabelle 24. Psychiatrische Diagnosen vor Diagnosestellung des Frühkindlichen Autismus für die HFA-Stichprobe Tabelle 24a. Psychiatrische Diagnosen vor Diagnosestellung des Frühkindlichen Autismus für die LFA-Stichprobe

Tabellen- und Abbildungsverzeichnis Tabelle 25. Durchgeführte ambulante Therapien, HFA-Stichprobe und LFA-Stichprobe Tabelle 26. Durchgeführte ambulante Therapien vor Diagnosestellung Tabelle 27. Durchgeführte stationäre Therapien, HFA-Stichprobe und LFA-Stichprobe Tabelle 28. Durchgeführte stationäre Therapien vor Diagnosestellung Tabelle 29. Medikation, HFA-und LFA-Stichprobe Tabelle 30. Besuchte Bildungseinrichtungen zw. 3;0. - 5;11. Lebensjahr Tabelle 30a. Besuchte Bildungseinrichtungen zw. 6;0. - 10;1. Lebensjahr Tabelle 30b. Besuchte Bildungseinrichtungen ab dem 11. Lebensjahr Tabelle 31. Häufigkeitenverteilung der Globalbeurteilung der psychosozialen Anpassung, Gesamtstichprobe, HFA und LFA Tabelle 32. Schichtzugehörigkeit der Eltern Tabelle 33. Schulabschluss Eltern für die HFA-Stichprobe und die LFA-Stichprobe Tabelle 34. Familiäre Situation für die HFA-Stichprobe und die LFA-Stichprobe Tabelle 35. Wohnsituation für die HFA-Stichprobe und die LFA-Stichprobe

13 Theoretischer Hintergrund 1. Theoretischer Hintergrund 1.1 Einführung Der frühkindliche Autismus ist Teil eines Spektrums von neuropsychiatrischen Erkrankungen, die in den Klassifikationssystemen der Welt-Gesundheitsorganisation (WHO) sowie der American Psychiatric Association (APA) als tiefgreifende Entwicklungsstörungen bezeichnet werden (ICD-10, WHO 1992, DSM VI, APA 1994). Zum Spektrum der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen zählen zudem der atypische Autismus, das Rett-Syndrom, die desintegrative Störung des Kindesalters, die überaktive Störung mit Intelligenzminderung und Bewegungsstereotypien, das Asperger-Syndrom und die sonstigen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen. Zwei verbindene Merkmale finden sich bei allen genannten Krankheitsbildern: Eine qualitative Beeinträchtigung in der wechselseitigen Interaktion und Kommunikation sowie ein eingeschränktes Spektrum an stereotypen und repetitiven Interessen und Aktivitäten. Die qualitativen Merkmale der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen bestehen bereits in der frühesten Kindheit und manifestieren sich in den ersten fünf Lebensjahren. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen erfahren im Laufe der Entwicklung der betroffenen Personen keine wesentliche Verbesserung der Kernsymptomatik und sind nur bedingt durch therapeutische Interventionen zu beeinflussen. Der Ausprägungsgrad kann interindividuell eine große Variationsbreite zeigen, dieser Umstand zeigt sich auch in Krankheitsverlauf und Prognose. Der Frühkindliche Autismus ist in den beiden großen Klassifikationssystemen DSM IV und ICD-10 durch folgende Symptome gekennzeichnet: Qualitative Beeinträchtigungen der sozialen Interaktion und der Kommunikation sowie eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster. Die Manifestation dieser Symptome muss vor dem 3. Lebensjahr stattgefunden haben. Grundsätzlich ist beim Frühkindlichen Autismus jedes Intelligenzniveau möglich, jedoch geht man davon aus, dass der Anteil der betroffenen Personen mit einer geistigen Behinderung bei ca. 50-75% liegt (Sigman & Capps, 2000; Lord & Spence, 2006). Klinisch wird daher innerhalb der Diagnose zwischen Low-Functioning Autismus (LFA) und High-Functioning-Autismus (HFA) unterschieden. Bei der Gruppe des LFA handelt es sich um Personen mit einer Intelligenzminderung und einer geringen oder fehlenden Ausbildung der Sprachentwicklung. Die Gruppe des HFA bezeichnet Personen ohne Intelligenzminderung und guten sprachlichen Fähigkeiten. Gerade die Unterscheidung zwischen der Gruppe des HFA (besonders bei betroffenen Personen mit einem hohen Funktionsniveau) und der des

14 Theoretischer Hintergrund Asperger-Syndroms führt aufgrund des Ausprägungsgrad der Symptome bzw. deren Variation häufig zu diagnostischen Unsicherheiten bzw. wirft die Frage auf ob es überhaupt klar definierbare Unterschiede zwischen beiden Gruppen gibt (Howlin, 2003; Kasari & Rotheram- Fuller, 2005). Daher wurde in den letzen Jahren besonders im englischsprachigen Raum das Konzept der Autism spectrum disorder (ASD) geprägt, das den frühkindliche Autismus, den atypischen Autismus und das Asperger-Syndrom subsumiert. Hier wird der Versuch unternommen, den Übergang zwischen den verschiedenen Formen als Kontinuum mit quantitativen Unterschieden zu beschreiben (Lord & Spence, 2006; Cohen & Volkmar, 1997). Das Konzept der Autismus-Spektrum-Störungen integriert somit die große Varationsbreite von Erscheinungsformen der autistischen Symptomatik sowohl innerhalb als auch zwischen den einzelnen diagnostischen Kategorien (Caronna, Milunsky & Tager-Flusberg, 2008). 1.2 Zur historischen Entwicklung des Autismus Der Begriff Autismus findet sich zum ersten Mal 1911 in den Aufzeichnungen des schweizerischen Psychiaters Eugen Bleuler (1857-1939). Bleuler beschrieb mit diesem Begriff eines der Grundsymptome der dementia praecox, für welche er später den Begriff der Schizophrenie prägte (Bleuler 1911: Dementia praecox oder die Gruppe der Schizophrenen). Bleuler beschrieb das Symptom des Autismus als die Zurückgezogenheit in die innere Gedankenwelt des an ihr Erkrankten (Bleuler, 1911), also den aktiven Rückzug in eine gedankliche Binnenwelt und die Vermeidung zwischenmenschlicher Kontakte. Der austro-amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1896-1981), erster Professor für Kinder- und Jugendpsychiatrie an der John Hopkins Universität in Baltimore nahm den Begriff Bleulers in einem 1943 veröffentlichen Bericht wieder auf: Unter dem Titel Autistische Störung des affektiven Kontakt (Kanner, 1943) beschrieb er charakteristische Verhaltensauffälligkeiten an elf Kindern, die in dieser Form noch nicht beobachtet wurden: Die herausragende fundamentale pathognomonische Störung ist die von Geburt an bestehende Unfähigkeit, sich in normaler Weise mit Personen oder Situationen in Beziehung zu setzen (Kanner, 1943). Der Umstand, dass bei allen betroffenen Kindern die Verhaltensauffälligkeiten schon im Kleinkindalter begonnen haben, führte Kanner zu dem Schluss, dass sich die von ihm beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten deutlich von Varianten einer Schizophrenie oder einer kindlichen Psychose unterscheiden: Es handelt sich dabei nicht wie bei schizophrenen Kindern oder Erwachsenen um einen Rückzug von zunächst vorhandenen Beziehungen oder der Teilnahme an zuvor vorhandener Kommunikation. Vielmehr handelt es sich vom

15 Theoretischer Hintergrund Anbeginn an um ein autistisches Alleinsein, welches alles, was von außen auf das Kind einwirkt nicht beachtet, ignoriert und ausschließt (Kanner, 1943). Die Verwendung des von Bleuler geprägten Begriffs Autismus führte zunächst zu einiger Verwirrung (Bosch, 1970) (Wing, 1976), da Bleuler unter Autismus den aktiven Rückzug von zwischenmenschlichen Beziehungen und den Aufbau einer gedanklichen Fantasiewelt verstand, während Kanner unter dem Begriff die primäre Unfähigkeit der Kinder zum Aufbau zwischenmenschlicher Beziehungen subsumierte. Im Jahre 1944 veröffentlichte Kanner den Artikel Early infantile autism (Kanner, 1943) in welchem er ausführliche Beschreibungen der Verhaltensauffälligkeiten seiner mittlerweile auf 20 Fallbeispiele angewachsenen Beobachtungen vornahm. Seine Darstellung des frühkindlichen Autismus ist in den Grundzügen bis zum heutigen Tag gültig. In den Jahren zwischen 1950 und 1960 kam es zu weiteren Veröffentlichungen, in denen ebenfalls über Kinder mit denen von Kanner beschriebenen Verhaltensauffälligkeiten berichtet wurde (Despert, 1951; Bosch, 1970; Bakwin, 1954). Hypothesen für eine psychosozial bedingte Entstehung des Autismus prägten die wissenschaftliche Meinung dieser Zeit, besonders da in diesen Jahren in der amerikanischen Fachwelt der psychoanalytische Ansatz (u.a. der Einfluss frühkindlicher Prägung) bei der Ursachenforschung von möglichen Ätiologien psychischer Krankheiten federführend war (Folstein, 1999). Unter anderem wurde die sogenannte refrigerator mothers Hypothese, d.h. der Einfluss einer emotional distanzierten Mutter als Grund für die autistische Störung eines Kindes als ursächlich angesehen. Diese These erwies sich aber als nicht haltbar (Rimland, 1964; Rutter, 1968), vielmehr haben in den letzten Jahrzehnten viele Untersuchungen das ursprünglich biologische Konzept von Kanner bestätigt. 1978 wurde ein auf vier Kriterien beruhender Vorschlag für eine Definition von Autismus veröffentlicht (Rutter, 1978), diese beeinflusste in den folgenden Jahren die Aufnahme der Diagnose des frühkindlichen Autismus in das Klassifikationssystem DSM-III (APA, 1980). Hier wurde der Frühkindliche Autismus erstmals in der Gruppe der tiefgreifenden Entwicklungsstörungen mittels diagnostischer Kriterien operationalisiert (Klin, 2006), auch in das Klassifikationsssystem der WHO (ICD-10) wurden die tiefgreifenden Entwicklungstörungen im Jahre 1989 aufgenommen (World Health Organization, 1989).

16 Theoretischer Hintergrund 1.3 Definition und Klassifikation Der Frühkindliche Autismus ist eine tiefgreifende Entwicklungsstörung, die durch abnorme oder beeinträchtigte Entwicklung definiert ist und sich vor dem 3. Lebensjahr manifestiert (Dilling, 2004). In den beiden großen, international gebräuchlichen Klassifikationssystemen International Classification of Diseases (ICD-10) (World Health Organization, 1992) und Diagnostic and Statistical Manual (DSM-IV) (APA, 1994) finden sich die Kriterien, die der Diagnose eines Frühkindlichen Autismus zugrunde gelegt werden. Diagnostische Kriterien des frühkindlichen Autismus nach ICD-10 (F84.0) (Dilling, 2004) (World Health Organization, 1992) Der kursiv gedruckte Text des folgenden Abschnitts ist dem aus dem Englischen übersetzten Orginaltext wortwörtlich übernommen: A. Vor dem dritten Lebensjahr manifestiert sich eine auffällige und beeinträchtigte Entwicklung in mindestens einem der folgenden Bereiche: a) Rezeptive oder expressive Sprache wie sie in der sozialen Kommunikation verwandt wird; b) Entwicklung selektiver sozialer Zuwendung oder reziproker sozialer Interaktion; c) funktionales oder symbolisches Spielen. B. Insgesamt müssen mindestens sechs Symptome von 1., 2., und 3. vorliegen, davon mindestens zwei von 1. und mindestens je eins von 2. und 3.: 1. Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion in mindestens drei der folgenden Bereiche: a) Unfähigkeit, Blickkontakt, Mimik, Körperhaltung und Gestik zur Regulation sozialer Interaktion zu verwenden; b) Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzunehmen, mit gemeinsamen Interessen, Aktivitäten und Gefühlen (in einer für das geistige Alter angemessenen Art und Weise, trotz hinreichender Möglichkeiten); c) Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, die sich in einer Beeinträchtigung oder devianten Reaktion auf die Emotionen anderer äußert; oder Mangel an Verhaltensmodulation entsprechend dem sozialen Kontext; oder nur labile Integration sozialen, emotionalen und kommunikativen Verhaltens.

17 Theoretischer Hintergrund d) Mangel, spontan Freude, Interessen oder Tätigkeiten mit anderen zu teilen (z.b. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder zu erklären). 2. Qualitative Auffälligkeiten der Kommunikation in mindestens einem der folgenden Bereiche: a) Verspätung oder vollständige Störung der Entwicklung der gesprochenen Sprache, die nicht begleitet ist durch einen Kompensationsversuch durch Gestik oder Mimik als Alternative zur Kommunikation (vorausgehend oft fehlendes kommunikatives Geplapper); b) relative Unfähigkeit, einen sprachlichen Kontakt zu beginnen oder aufrechtzuerhalten ( auf dem jeweiligen Sprachniveau), bei dem es einen gegenseitigen Kommunikationsaustausch mit anderen Personen gibt; c) stereotype und repetitive Verwendung der Sprache oder idiosynkratischer Gebrauch von Worten oder Phrasen; d) Mangel an verschiedenen spontanen Als-ob-Spielen oder (bei jungen Betroffenen) sozialen Imitationsspielen. 3. Begrenzte, repetitive und stereotype Verhaltensmuster, Interessen und Aktivitäten in mindestens einem der folgenden Bereiche: a) umfassende Beschäftigung mit gewöhnlich mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, die in Inhalt und Schwerpunkt abnorm sind; es kann sich aber auch um ein oder mehrere Interessen ungewöhnlicher Intensität und Begrenztheit handeln; b) offensichtlich zwanghafte Anhänglichkeit an spezifische, nicht funktionale Handlungen und Rituale; c) stereotype und repetitive motorische Manierismen mit Hand- und Fingerschlagen oder Verbiegen, oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers; d) vorherrschende Beschäftigung mit Teilobjekten oder nicht funktionalen Elementen des Spielmaterials z.b. ihr Geruch, die Oberflächenbeschaffenheit oder das von ihnen hervorgebrachte Geräusch oder ihre Vibration). C. Das klinische Bild kann nicht einer anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörung zugeordnet werden, einer spezifischen Entwicklungsstörung der rezeptiven Sprache (F80.2) mit sekundär sozio-emotionalen Problemen, einer reaktiven Bindungsstörung (F94.1), einer Bindungsstörung mit Enthemmung (F94.2), einer Intelligenzminderung (F70 -

18 Theoretischer Hintergrund F72) mit einer emotionalen oder Verhaltensstörung, einer Schizophrenie mit ungewöhnlich frühem Beginn oder einem Rett-Syndrom (F84.2). Diagnostische Kriterien der Autistischen Störung nach DSM-IV-TR ( 299.00) (APA, 1994) (Saß, 2003) Der kursiv gedruckte Text des folgenden Abschnitts ist dem aus dem Englischen übersetzten Orginaltext wortwörtlich übernommen: A. Es müssen mindestens sechs Kriterien aus (1), (2) und (3) zutreffen, wobei mindestens zwei Kriterien aus (1) und je ein Kriterium aus (2) und (3) stammen müssen: (1) Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion in mindestens zwei der folgenden Bereiche: a) ausgeprägte Beeinträchtigung im Gebrauch vielfältiger nonverbaler Verhaltensweisen wie beispielsweise Blickkontakt, Gesichtsausdruck, Körperhaltung und Gestik zur Steuerung sozialer Interaktionen, b) Unfähigkeit, entwicklungsgemäße Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen, c) Mangel, spontan Freude, Interessen oder Erfolge mit anderen zu teilen (z.b. Mangel, anderen Menschen Dinge, die für die Betroffenen von Bedeutung sind, zu zeigen, zu bringen oder darauf hinzuweisen), d) Mangel an sozio-emotionaler Gegenseitigkeit; (2) Qqualitative Beeinträchtigung der Kommunikation in mindestens einem der folgenden Bereiche: a) verzögertes Einsetzen oder völliges Ausbleiben der Entwicklung von gesprochener Sprache (ohne den Versuch zu machen, die Beeinträchtigung durch alternative Kommunikationsformen wie Gestik oder Mimik zu kompensieren ), b) bei Personen mit ausreichendem Sprachvermögen deutliche Beeinträchtigung der Fähigkeit, ein Gespräch zu beginnen oder fortzuführen, c) stereotyper oder repetitiver Gebrauch der Sprache oder idiosynkratische Sprache, d) Fehlen von verschiedenen entwicklungsgemäßen Rollenspielen oder sozialen Imitationsspielen;

19 Theoretischer Hintergrund (3) Beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten in mindestens einem der folgenden Bereiche: a) umfassenden Beschäftigung mit einem oder mehreren stereotypen und begrenzten Interessen, wobei Inhalt und Intensität abnorm sind, b) auffällig starres Festhalten an bestimmten nichtfunktionalen Gewohnheiten oder Ritualen, c) stereotype und repetitive motorische Manierismen (z.b. Biegen oder schnelle Bewegungen von Händen oder Fingern oder komplexe Bewegungen des ganzen Körpers), d) ständige Beschäftigung mit Teilen von Objekten. B. Beginn vor Vollendung des dritten Lebensjahres und Verzögerungen oder abnorme Funktionsfähigkeit in mindestens einem der folgenden Bereiche: 1) soziale Interaktion 2) Sprache als soziales Kommunikationsmittel oder 3) Symbolisches oder Phantasiespiel. C. Die Störung kann nicht besser durch die Rett-Störung oder die Desintegrative Störung im Kindesalter erklärt werden. In beiden Klassifikationssystemen werden 4 charakteristische Kriterien hervorgehoben: 1. qualitative Beeinträchtigung wechselseitiger sozialer Interaktion, 2. qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation, 3. eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster, 4. Manifestation vor dem 3. Lebensjahr. In der ICD-10 Klassifikation werden zusätzlich in den diagnostischen Leitlinien noch unspezifische Probleme wie Befürchtungen, Phobien, Schlaf- und Essstörungen, Wutausbrüche, Aggressionen und Selbstverletzungen aufgeführt.

20 Theoretischer Hintergrund 1.4 Symptomatik Die Kernsymptome des Frühkindlichen Autismus können im Wesentlichen in drei große Bereiche zusammengefasst werden (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 2003): Qualitative Auffälligkeiten der gegenseitigen sozialen Interaktion Hier findet sich die Unfähigkeit der Kinder, soziale Interaktion durch nonverbales Verhalten (Gestik und Mimik) zu regulieren. Fehlender oder merkwürdiger Blickkontakt, fehlendes soziales Lächeln beim Erblicken der Mutter oder einer anderen engen Bezugsperson, Fehlen von Antizipationsgesten, zum Beispiel das Entgegenstrecken der Arme beim Wunsch, hochgehoben zu werden. Es besteht zudem die Unfähigkeit, Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen, dies äußert sich in einem ausgeprägten Mangel an Interesse gegenüber anderen Kindern sowie fehlender Reaktion auf Annäherungsversuche anderer Kinder. Kommt es zu einer Kontaktaufnahme, so gestaltet sich diese oft sehr schwierig, mit zum Teil aggressivem Verhalten anderen Kindern gegenüber, rein funktionalen Beziehungen oder auf sehr wenige Interessen und Aktivitäten reduzierte gemeinsame Beschäftigungen. Die Kinder zeigen ein deutlich reduziertes Verständnis von sozio-emotionaler Gegenseitigkeit, dies äußert sich darin, dass sie auf die Emotionen anderer Menschen unangemessen reagieren und dass sie sich sozial unangemessen verhalten. Sie teilen nicht die Freude an einer Aktivität mit anderen Menschen, sie suchen keinen Trost, zum Beispiel bei einer Verletzung oder bei Misserfolgen (Remschmidt, 2000). Qualitative Beeinträchtigung der Kommunikation Etwa die Hälfte aller Kinder mit einem frühkindlichen Autismus entwickelt keine Sprache oder zeigt eine deutliche Sprachentwicklungsverzögerung mit einer oft nicht verständlichen Sprache, es kommt zu keinem sprachlichen Austausch im Sinne einer informellen Konversation, die Sprache wird mechanisch genutzt. Vor dem Sprachbeginn fehlt das Lallen und Brabbeln im Tonfall von Sprache. Die mangelnden Sprachfähigkeiten werden nicht durch Mimik oder Gestik kompensiert. Viele Kinder zeigen stereotype, repetitive oder idiosynkratische sprachliche Äußerungen. Häufig kommt es zur Pronominal-Umkehr beim Sprechen: Die Kinder sprechen von sich in der zweiten oder dritten Person. Es kommt zu Neologismen, d.h. die Kinder entwickeln eigene Wortschöpfungen die für sie eine spezielle Bedeutung haben können. Bei vielen Kindern ist auch die Stimme auffällig: Sie wirkt monoton, es fehlt eine Veränderung in der Sprachmelodie, der Sprachrhythmus wirkt mechanisch; oft stimmt die Betonung von Wörtern oder Satzteilen nicht (Remschmidt, 2000).

21 Theoretischer Hintergrund Das Spielverhalten der Kinder mit frühkindlichem Autismus ist ihrem Entwicklungsniveau und ihren kognitiven Fähigkeiten entsprechend ebenfalls deutlich auffällig: Spielzeug wird oft zweckentfremdet benutzt, z.b. werden alle möglichen Gegenstände immer wieder zum Rotieren gebracht. Häufig ist auch ein Interesse an Teilen von Spielsachen zu beobachten, z.b. indem das Kind stereotyp die Räder des Spielzeugautos dreht, oder die Autotüren immer wieder auf und zu macht. Ein symbolisches Spiel auf einer "So-tun-als-ob-Ebene" kommt nicht vor, genauso wenig wie soziale Rollenspiele mit anderen Kindern. Eingeschränkte Interessen und stereotype Verhaltensmuster Kinder mit frühkindlichem Autismus zeigen meist ausgeprägte stereotype und repetitive motorische Manierismen, z.b. in Form von Augenbohren, Drehen oder Schütteln der Hände vor den Augen, rasches Hin- und Herpendeln mit dem Kopf, Schlagen mit den Händen auf die Ohren. Auch stereotypes Auf- und Abhüpfen sowie das Drehen um die eigene Achse werden häufig beobachtet. Weiterhin zeigt sich bei den Kindern ein ängstlich-zwanghaftes Bedürfnis nach Gleicherhaltung der Umwelt. Diese Veränderungsängste beziehen sich auf die für das Kind subjektiv wichtigen Umgebungsbedingungen. So haben die Kinder z.b. Angst vor fremden Räumen, neuen Schulwegen oder veränderten Fahrtrouten. Sie verweigern unbekannte Speisen, neue Kleidungsstücke, Umstellung von Möbeln im Zimmer oder in der Wohnung können massive Irritationen, z.b. in Form von Panik- oder Schreiattacken auslösen. Änderungen im Tagesablauf wie die Umstellung von Schulzeit auf Ferienzeit oder Änderung der gewohnten Essenszeit lösen ebenfalls Unwillen aus. Zudem beobachtet man bei den betroffenen Kindern eine ausgedehnte Beschäftigung mit stereotypen, eingeschränkten Handlungen, wie z.b. ständiges An- und Ausschalten von Lichtschaltern, Öffnen und Schließen von Türen oder dem Berühren von Wänden oder Möbelstücken, auf deren Durchführung bestanden wird. Je nach Funktionsniveau und Entwicklungsstand fallen auch ausgestanzte Sonderinteressen bzw. intensive Beschäftigung mit bestimmten Inhalten, wie z.b. Kraftfahrzeugen oder Verkehrsschildern, Fahrplänen oder Daten auf. Auch die Bindung an ungewöhnliche Objekte, wie z.b. Steine, Knöpfe oder Bänder, werden beobachtet. Gegenstände oder Menschen werden häufig beleckt oder berochen, die Kinder scheinen von bestimmten Gerüchen oder Geräuschen besonders fasziniert zu sein, teilweise wird auch über eine massive Geräuschempfindlichkeit berichtet. Zärtlichkeiten oder Berührungen enger Bezugspersonen werden oft abgelehnt, andererseits fällt häufig auch ein distanzloses Verhalten gegenüber fremden Menschen auf. So wird beispielsweise der Kopf in den Schoß einer unbekannten Person gelegt.

22 Theoretischer Hintergrund Sonstige Verhaltensauffälligkeiten / Assoziierte Symptome Bei Kindern mit frühkindlichem Autismus fallen zusätzlich zu den oben geschilderten Symptomen eine Reihe weiterer Verhaltensauffälligkeiten auf, die in den diagnostischen Leitlinien als unspezifische Probleme beschrieben werden. Hierunter fallen, z.b. Schlafstörungen oder Essstörungen. Besonders kleine Kinder zeigen einen stark gestörten Schlaf-Wach-Rhythmus mit langen Wachphasen in der Nacht ( Spielen im dunklen Zimmer, alle Lichter werden mitten in der Nacht angemacht). Viele Kinder mit einer autistischen Störung zeigen ein hochselektives Essverhalten, vermeiden unbekannte Nahrungsmittel, lehnen Nahrungsmittel beispielsweise aufgrund ihrer Farbe, ihres Geruchs oder der Konsistenz ab. Wutausbrüche und Aggressionen, oft verbunden mit selbstverletzendem Verhalten, gehören zu den häufig beobachteten Verhaltensauffälligkeiten. Auf der affektiven Ebene werden zudem Angstzustände und Phobien verbunden mit einer ausgeprägten Stimmungslabilität beschrieben. Ebenso berichtet wird von gestörten Sinnesempfindungen, wie z.b. ein verändertes Temperaturempfinden oder ein herabgesetztes Schmerzempfinden mit fehlender Schmerzreaktion. Auch eine muskuläre Hypotonie sowie motorische Ungeschicklichkeiten sowohl im grobmotorischen wie auch im feinmotorischen Bereich werden beobachtet (Klin, 2006). Die beschriebenen Symptome können interindividuell variieren und unterliegen im Verlauf der Entwicklung auch einigen Veränderungen, es kommt häufig zu einer sogenannten Symptomenverlagerung (Remschmidt, 2000), z.b. werden Angstanfälle seltener, die psychomotorische Unruhe sowie die Schlafstörungen nehmen ab, auch die Tendenz Gegenstände oder Personen zu berühren wird in zunehmendem Alter weniger häufig beobachtet. Grundsätzlich bleiben die Kernsymptome mit den oben beschriebenen Defiziten in der sozialen Interaktion, der Kommunikation und den eingeschränkten Interessen aber im Erwachsenenalter bestehen. 1.5 Epidemiologie Neuere Untersuchungen geben eine Prävalenz von 30-60/10.00 betroffenen Personen für alle tiefgreifenden Entwicklungsstörungen an. Vergleicht man diese Zahlen mit den ersten Untersuchungen im Jahre 1966, wo man von Prävalenzzahlen von 4/10.000 betroffenen Personen ausging, so scheinen die Prävalenzzahlen deutlich gestiegen zu sein (Fombonne, 2003). Dies wird in der Literatur unter anderem mit der allgemein gestiegenen Aufmerksamkeit für autistische Störungen sowie der Weiterentwicklung diagnostischer

23 Theoretischer Hintergrund Kriterien und Instrumente erklärt, jedoch kann ein solch deutlicher Anstieg der Prävalenz mit diesen Ansätzen nicht abschließend erklärt werden (Blaxill, 2004). In Bezug auf den frühkindlichen Autismus wird von einer Rate von 10/10.000 ausgegangen, hier liegen auch die größte Anzahl epidemiologischer Studien vor (Fombonne, 2003). Geschlechtsspezifische Unterschiede Der Umstand, dass deutlich mehr Jungen als Mädchen von einer autistischen Störung betroffen sind, ist lange bekannt und in vielen Studien bestätigt Das Geschlechterverhältnis beim frühkindlichen Autismus wird mit etwa 3-4:1 angegeben (Fombonne, 2003). Andere Autoren geben sogar ein Verhältnis von 4-10:1 im Verhältnis männlich zu weiblich an, hier wird zudem ein direkter Anstieg der Anzahl betroffener männlicher Personen mit dem Anstieg des Intelligenzniveaus beobachtet (Folstein & Rosen-Sheidley, 2001). Über Jahrzehnte hinweg ist der Zusammenhang zwischen Geschlecht und Intelligenzniveau bei autistischen Störungen untersucht worden. Einige Studien können nachweisen, dass mehr weibliche Personen mit einer autistischen Störung im unteren Intelligenzniveau anzusiedeln sind, auch der Prozentsatz einer geistigen Behinderung scheint unter weiblichen Autisten höher zu sein, zudem wird die Beeinträchtigung weiblicher Personen durch die autistische Störung als massiver beschrieben (Wing, 1981; Volkmar, Szatmari & Sparrow, 1993). Im Gegensatz dazu gibt es nur wenige Studien, die weitere geschlechtsspezifische Unterschiede innerhalb der autistischen Störung untersucht haben, so z.b. die Frage nach möglichen Unterschieden in der Manifestation der klinischen Symptome sowie möglichen Unterschieden in der frühkindlichen Entwicklung, wie sie sich in neuen Untersuchungen anzudeuten scheinen (Carter et al., 2007). Ein möglicher Erklärungsansatz für Unterschiede in der geschlechtsspezifischen Ausprägung innerhalb der autistischen Störung wird z.b. auf genetischer Ebene diskutiert (Stone et al., 2004), andere Ansätze beschäftigen sich mit dem Einfluss der Geschlechtshormone, im Besonderen wird hier der Einfluss von Testosteron auf die Gehirnentwicklung als möglichen Einflussfaktor für geschlechtsspezifische Unterschiede innerhalb der autistischen Störung diskutiert (Baron-Cohen, Knickmeyer & Belmonte, 2005). Etwaige morphologische Unterschiede zwischen weiblichen und männlichen autistischen Gehirnen mittels bildgebender Verfahren konnten bisher nicht nachgewiesen werden, hier konnten lediglich nahezu identische Veränderungen spezifischer Hirnregionen beider Geschlechter im Vergleich zur gesunden Kontrollgruppe gezeigt werden (Craig et al., 2007).

24 Theoretischer Hintergrund 1.6 Intelligenzniveau bei Autismus Intelligenzniveau Die Intelligenz autistischer Kinder verteilt sich über das gesamte Spektrum der Intelligenzbereiche. Bisher ging man jedoch davon aus, dass 50-70,0% der Kinder mit einer autistischen Störung in standardisierten Intelligenztests einen IQ von weniger als 70 Punkten erzielen, sie befinden sich damit im Bereich einer geistigen Behinderung. 20-25,0% der Kinder zeigen eine durchschnittliche, in Einzelfällen sogar eine sehr gute Intelligenz (Rutter, 1983; Rutter, 1996; Bryson, 1988). Weiterhin wird angenommen, dass Mädchen mit einer autistischen Störung im Durchschnitt eine erheblich schwerere intellektuelle Beeinträchtigung aufweisen als Jungen (McLennan, 1993). Betrachtet man neuere epidemiologische Studien aus den USA, so wird postuliert, dass die Inzidenz einer geistigen Behinderung deutlich niedriger anzugeben ist: hier wird von ungefähr 50% betroffener Kinder gesprochen (Lord & Spence, 2006). Dabei ist jedoch zu beachten, dass in diesen Studien der frühkindliche Autismus, das Asperger-Syndrom und der atypischen Autismus unter dem Begriff der Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) zusammengefasst werden (Lord & Spence, 2006). Dementsprechend werden häufiger Formen einer autistischen Störung mit einem höherem Funktionsniveau diagnostiziert, welche auch von ihrem Intelligenzniveau höher anzusiedeln sind und daher Einfluss auf die Inzidenz von geistiger Behinderung nehmen. Spezifische Intelligenzprofile autistischer Kinder Es liegen zwar viele Daten zu Intelligenzprofilen von Kindern mit einer autistischen Störung vor, jedoch unterscheiden sich die einzelnen Studienpopulationen hinsichtlich Alter, durchschnittlichem Intelligenzniveau sowie Geschlecht und Gruppengröße deutlich. Daher kommt es zu inkohärenten Ergebnissen, die untereinander nur bedingt vergleichbar sind (Mayes & Calhoun, 2004). Wohl am häufigsten wurde das spezifische Intelligenzprofil anhand der Wechsler Intelligence Scale for Children (WISC) bzw. der Wechsler Adult Intelligence Scale (WAIS) untersucht (in Deutschland: HAWIK, HAWIE), hier zeigt sich ein störungsspezifisches, deutlich inhomogenes Leistungsprofil mit starken interindividuellen Schwankungen in den einzelnen Untertests (Frith, 1989; Venter, Lord, & Schopler, 1992; Rühl & Poustka, 1995; Mayes & Calhoun, 2004). Besondere Defizite wurden in den Bereichen Allgemeines Verständnis und Bilderordnen beschrieben, besonders gute Ergebnisse wurden in den Bereichen Mosaiktest und Figurenlegen erreicht (Arsanow, 1987; Shah & Frith, 1993).

25 Theoretischer Hintergrund Intelligenzprofile bei HFA und Asperger-Syndrom In anderen Untersuchungen finden sich zumeist Ergebnisse aus dem direkten Vergleich zwischen High-Functioning-Autisten (HFA) und Asperger-Autisten (AS). Einige Studien (Ehlers et al., 1997; Ghaziuddin & Mountain-Kimchi, 2004) kamen zu dem Ergebnis, dass die Gruppe der High-Functioning-Autisten ein deutlich schlechteres Abschneiden im Bereich des Verbal-IQ im Gegensatz zum Handlungs-IQ zeigen. In der Studie von Koyama et al. (Koyama, Tachimori, Osada, Takeda, & Kurita, 2007) lässt sich eine solche Tendenz zwar ebenfalls nachweisen, eindrücklicher fällt jedoch ein signifikanter Unterschied in den Untertests Vocabulary (Wortschatztest) und Comprehension (Allgemeines Verständnis) auf. Hier zeigt die Gruppe der HFA ein deutlich schlechteres Abschneiden. Andere Studien können einen signifikanten Unterschied zwischen Verbal-IQ und Handlungs- IQ nicht belegen, Manjiviona et al. (Manjiviona & Prior, 1999) fanden lediglich eine Überlegenheit der AS-Gruppe im Gesamt-IQ, Ozonoff et al. (Ozonoff, South & Miller, 2000) berichten als einzige Abweichung zwischen beiden Gruppen über einen signifikanten Unterschied im Untertest Allgemeines Verständnis, auch Mayes et al. (Mayes & Calhoun, 2004) sehen als Grund für vermeintliche Unterschiede die Zusammensetzung der Gruppen hinsichtlich Alter und IQ. Die Annahme, dass aufgrund der häufig fehlenden bzw. nur rudimentären Sprachentwicklung und dem fehlenden Instruktionsverständnis bzw. der fehlenden Motivation das Ergebnis einer Intelligenztestung von autistischen Kindern unter fünf Jahren nicht repräsentativ ist, konnte nicht bestätigt werden (Howlin, Goode, Hutton & Rutter, 2004). Auch die fragliche Konsistenz des ermittelten IQ-Niveaus im Laufe der Entwicklung wurde untersucht: Bei Auswahl eines adäquaten Testverfahrens zeigte sich eine deutliche Stabilität des ermittelten Intelligenzniveaus bis in das Erwachsenenalter (Howlin, Goode, Hutton & Rutter, 2004). Der Einfluss des in der Kindheit ermittelten Intelligenzquotienten auf das Funktionsniveau im Erwachsenenalter ist ebenfalls Gegenstand klinischer Forschung. Szatmari et al. (Szatmari, Bartolucci & Bremner, 1989) postulierten in diesem Zusammenhang den Intelligenzquotienten als wichtigsten prognostischen Faktor, dieses konnte durch Howlin et al. bestätigt werden (Howlin, Goode, Hutton & Rutter, 2004). Zusätzlich konnte in dieser Studie gezeigt werden, dass erst ab einem Intelligenzquotienten >70 Punkte ein deutlich besseres Funktionsniveau im Erwachsenenalter erreicht werden kann. Howlin et al. weisen in der Studie zudem auf den verwässernden Effekt von autistischen Verhaltensweisen auf ein relativ hohes Intelligenzniveau hin, d.h. ab einem Gesamt-IQ von mehr als 70 beeinflusst die

26 Theoretischer Hintergrund Ausprägung der fundamentalen Defizite dann stärker das Funktionsniveau als der Intelligenzquotient per se. Savant-Syndrom Mit dem Begriff Savant werden Personen mit einer kognitiven (meist allgemeinen Intelligenzminderung), psychischen oder sensorischen Beeinträchtigung bezeichnet, die auf einem umschriebenen Gebiet über erstaunliche kognitive oder musische Fähigkeiten verfügen. Personen mit Savant-Fähigkeiten zeigen vor allem Kompetenzen in den Bereichen Gedächtnis, Musik, Zeichnen, Rechnen und Lesen. Die besonderen Leistungen treten meist unerwartet (d.h. ohne vorangegegangene Übung oder besonderes Training) zwischen dem 4. und 8. Lebensjahr auf. Da wirklich herausragende Leistungen auf einem bestimmten Gebiet (sog. Inselbegabungen) äußerst selten sind, wird zusätzlich eine Unterscheidung des Savant- Syndroms in erstaunliche bzw. talentierte Savants vorgenommen (Treffert, 1988). Die talentierten Savants weisen höchstens durchschnittliche Leistungen in einem bestimmten Gebiet auf, diese Leistungen sind aber in Anbetracht ihrer sonstigen Beeinträchtigungen bemerkenswert. Es wird vermutet, dass Savant-Fähigkeiten bei Kindern mit einer autistischen Störung gehäuft auftreten, es wird eine Prävalenz von ca. 10% unter autistischen Personen angegeben (Rimland, 1978). Einheitliche Erklärungsmodelle liegen für das Savant -Syndrom nicht vor, die enge Assoziation zu autistischen Störungen bietet jedoch den Ansatz, mögliche neuropsychologische Defizite, die bei der autistischen Störung maßgeblich beteiligt zu sein scheinen, auch für die Entstehung des Savant-Syndrom zu diskutieren bzw. diese als Grundlage für die Entstehung von Savant-Fähigkeiten heranzuziehen (Heaton & Wallace, 2004). 1.7 Zur klinischen Unterscheidung zwischen High- Functioning-Autismus und Low-Functioning-Autismus Schon Kanner berichtete in seinen Beobachtungen Autistic disturbances of affective contact darüber, dass einige Kinder eine normale, vielleicht sogar eine überdurchschnittliche Intelligenz besäßen. Er begründete dies auch mit der unauffälligen physischen Erscheinung der Kinder sowie den teilweise ungewöhnlichen Interessen in speziellen Bereichen wie Zahlen oder Zeichnen (Kanner, 1943). Auch in den darauf folgenden Jahrzehnten wurde beobachtet, dass Kinder mit einer autistischen Störung besonders im Bereich des Intelligenzniveaus und der Ausprägung der autistischen Symptomatik sowie der Sprachfunktionen eine heterogene Gruppe bilden: so berichteten Hewett et al. (Hewett,

27 Theoretischer Hintergrund Newson & Newson, 1970) über more able autistic people. Der Begriff High-Functioning- Autismus (HFA) wurde 1981 in einem Artikel von DeMyer et al. zuerst verwendet (Gilberg, 1998). HFA vs. LFA Die Bezeichnung High-Functioning-Autisten wird für Personen verwendet, welche die diagnostischen Kriterien für einen frühkindlichen Autismus erfüllen sowie einen Gesamt-IQ von 70 oder mehr erreichen und im Laufe ihrer Entwicklung gute sprachliche Fähigkeiten erlangen. In beiden großen Klassifikationssystemen wird der Begriff HFA nicht erwähnt, es existieren somit keine offiziellen diagnostischen Kriterien (Gilberg, 1998). Der Gruppe der High-Functioning-Autisten stellt man die Gruppe der Low-Functioning- Autisten (LFA) gegenüber, hierunter werden die Personen mit einer Intelligenzminderung und einer geringen oder fehlenden Ausbildung der Sprachentwicklung verstanden. Der Anteil der Kinder mit einer autistischen Störung, die zur Gruppe der High-Functioning-Autisten gezählt werden können, wird mit 11-34,0% angegeben (Gilberg, 1998). Wie sinnvoll eine solche Unterscheidung innerhalb der autistischen Störung ist, zeigt sich insbesondere bei der Frage nach der weiteren Entwicklung und der Prognose im Erwachsenenalter. Wie schon im vorherigen Kapitel erwähnt, hat ein Intelligenzquotient von mehr als 70 im Kindesalter einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung und das spätere Funktionsniveau (Howlin et al., 2004). Damit wird auch früheren Arbeiten entsprochen, die eine Trennung beider Gruppen bei der Untersuchung von Ätiologie und Prognose postulierten (Lotter, 1974; Wenar, Ruttenberg, Kalish-Weiss & Wolf, 1986). HFA und Asperger-Syndrom Der Begriff des High-Functioning-Frühkindlichen-Autismus ist eng verknüpft mit dem des Asperger-Syndroms (AS). Es gibt zahlreiche Studien zu der Frage, ob es tatsächlich einen qualitativen Unterschied zwischen beiden Konditionen gibt oder ob lediglich quantitative Unterschiede im Sinne eines diagnostischen Kontinuums zu verzeichnen sind. Die am häufigsten beschriebenen Unterschiede zwischen HFA und AS werden im Bereich des Intelligenzniveaus sowie der Sprachentwicklung angesiedelt (Szatmari, Tuff, Finlayson & Bartolucci, 1990; Szatmari et al., 1989; Ozonoff, Rogers & Pennington, 1991; Ozonoff et al., 2000; Klein, Volkmar, Sparrow, Cicchetti & Rourke, 1995), mit Überlegenheit der AS- Gruppe in beiden Bereichen. Weitere Unterschiede werden bei Ko-Morbiditäten mit anderen psychiatrischen Erkrankungen (Klin, Pauls, Schultz & Volkmar, 2005) sowie möglichen ätiologischen Unterschieden wie z.b. abweichenden Vererbungsmustern bzw. abweichenden betroffenen Genregionen postuliert (Volkmar, Klin & Pauls, 1998).

28 Theoretischer Hintergrund Die Ergebnisse von Studien, die einen Direktvergleich beider Gruppen vornehmen, sind nur bedingt auswertbar, da sie sich, wie bereits erwähnt, häufig signifikant hinsichtlich Alter, Gruppengrösse sowie durchschnittlichem Intelligenzniveau unterscheiden (Howlin, 2003). Viele Studien beschäftigen sich zudem nur mit möglichen Unterschieden beider Gruppen im Kindes- und frühen Jugendalter. Einige Studien postulieren, dass die Unterschiede zwischen HFA und AS mit zunehmenden Entwicklungsalter immer geringer werden (Gilchrist et al., 2001) bzw. dass einige Kinder, die primär als HFA diagnostiziert wurden, in späteren Jahren die Diagnose eines AS erhalten könnten (Szatmari, 2000). Die Untersuchung auf mögliche Unterschiede im Erwachsenenalter (>18 Jahre) von Howlin (Howlin, 2003) lieferten folgende Ergebnisse: Im Erwachsenenalter lassen sich zwischen beiden Gruppen keine signifikanten Unterschiede feststellen, weder im Bereich des erreichten Intelligenzniveaus, noch in der Ausprägung der autistischen Symptomatik und den damit verbundenen Beeinträchtigungen für das Funktionsniveau. Weiterhin konnte gezeigt werden, dass die Personengruppe, für die im Kindesalter anamnestisch über keine Sprachentwicklungsverzögerung berichtet wurde, im Erwachsenenalter unter einer deutlichen Beeinträchtigung ihrer expressiven und rezeptiven sprachlichen Fähigkeiten leiden können. Besonders fiel hier ein signifikanter Unterschied zwischen chronologischem Alter und Sprachverständnisalter auf, der sich nicht von der Personengruppe mit einer anamnestisch gesicherten Sprachentwicklungsverzögerung unterschied. Deutliche Unterschiede zwischen beiden Gruppen wurden lediglich im Bereich der frühen Symptome festgestellt: Die geschilderten Probleme, über die sich die Eltern in den ersten Jahren besorgt zeigten, differieren deutlich, zudem wurden bei der Gruppe ohne Sprachentwicklungsverzögerung die Auffälligkeiten etwas später beobachtet. Howlin kommt somit zu dem Ergebnis, dass im Erwachsenenalter keine Unterschiede zwischen beiden Gruppen imponieren und beide Gruppen trotz eines Intelligenzquotienten innerhalb normaler Grenzen schwere Funktionsbeeinträchtigungen im Erwachsenenalter aufgrund der Persistenz ihrer fundamentalen Defizite erfahren müssen. Eine Metaanalyse von Macintosh et al. (Macintosh & Dissanayake, 2004) kommt zu dem Ergebnis, dass Unterschiede zwischen High- Functioning-Autisten und Patienten mit einem Asperger-Syndrom beschrieben werden können, die Studienlage jedoch nicht ausreicht, um das Asperger-Syndrom als eine eigene Entität zu betrachten, die sich valide vom High-functioning Autismus unterscheiden lässt.

29 Theoretischer Hintergrund 1.8 Ätiologie und Pathogenese Vielfältige Forschungsbemühungen der letzten Jahrzehnte lassen heute keinen Zweifel mehr an einer biologischen Pathogenese der autistischen Störung, wie sie schon Kanner in seinen frühen Beobachtungen vermutete (Kanner, 1943). Bis heute ist jedoch keine genaue Ursache für die Entstehung einer autistischen Störung identifiziert, auch existieren keine somatischen Marker, wie z.b. mögliche spezifische Veränderungen der EEG-Aktivität oder neurochemische Veränderungen, die evtl. durch Bluttests nachzuweisen wären. Besonders gut erforscht sind die Bereiche Genetik, assoziierte Erkrankungen, Hirnschädigungen bzw. Hirnfunktionsstörungen sowie neuropsychologische Beeinträchtigungen und assoziierte Erkrankungen. Insgesamt fehlt jedoch ein schlüssiges Konzept, welches die identifizierten Einflussfaktoren integrieren kann, so dass weiterhin von einem multifaktoriellen Geschehen auszugehen ist, dessen Anteile vermutlich in Wechselwirkung zueinander stehen. Genetik Vor allem beim frühkindlichen Autismus kann aufgrund von Ergebnissen aus Familienuntersuchungen, Zwillingsstudien sowie zytogenetischen und molekulargenetischen Untersuchungen von einer starken Beeinflussung durch genetische Faktoren ausgegangen werden. In Familienuntersuchungen konnte ein erhöhtes Wiederholungsrisiko von 3-8% bei Geschwistern nachgewiesen werden (Folstein & Rutter, 1988), das Wiederholungsrisiko liegt damit um ein fünfzig- bis hundertfaches höher als in der Allgemeinbevölkerung. Zwillingsstudien (Folstein & Rutter, 1977; Bailey et al., 1995; Steffenburg et al., 1989) zeigten eine sehr hohe Konkordanzrate (bis zu 90%) bei monozygoten Zwillingen sowie eine sehr geringe Konkordanzrate bei dizygoten Zwillingen. Zudem fiel auf, dass unter den monozygoten Zwillingen, die diskonkordant für eine autistische Störung waren, auch das nicht-autistische Geschwisterkind deutliche kognitive und soziale Defizite hatte. Hier fielen z.b. Sprachentwicklungsverzögerungen und sozialer Rückzug auf. Verlaufsuntersuchungen im Erwachsenenalter bestätigten diesen Eindruck. Dies führte zu einer Reihe von Untersuchungen nicht betroffener Verwandter 1.Grades von autistischen Kindern (Fombonne, Bolton, Prior, Jordan, & Rutter, 1997), mit dem Ergebnis, dass auch hier einzelne Merkmale aus dem Vollbild einer autistischen Störung wie z.b. sozialer Rückzug, Schwierigkeiten in der wechselseitigen Kommunikation oder Sprachentwicklungsverzögerungen gehäuft auftreten, aber eine deutlich mildere Ausprägung haben. In diesem Fall spricht man von einem breiteren Phänotyp des Autismus ( broader autism phenotype ) (Pickles, 2000).