Von der Autismus- Spektrum-Störung zum Autismus-Spektrum Georg Theunissen Professor für Geistigbehindertenpädagogik und Pädagogik bei Autismus
Die folgenden Ausführungen und Zitate stammen weithin aus Theunissen: Menschen im Autismus-Spektrum. Kohlhammer-Verlag (Stuttgart 2014). Die Originalliteratur der Zitate sind dem Literaturverzeichnis dieser Schrift zu entnehmen.
Ausgangspunkt: Zur Prävalenz Weltweit: Zunahme an Autismus; Anteil von autistischen Personen an der Gesamtbevölkerung bei mindestens 0,9% In Deutschland: vermutlich ähnliche Häufigkeit autistischer Personen - Schätzung: um 1% 1,16% Menschen im Autismus-Spektrum (Lancet), davon etwa 2/3 mit Asperger-Syndrom
Gründe (1) wachsendes gesellschaftliches Verständnis für die Situation behinderter Menschen (2) eine größere Sensibilität in Bezug auf Autismus (z. B. bei Mädchen und Frauen und vor allem im Hinblick auf Personen mit dem sogenannten Asperger-Syndrom) (3) erweiterte und verfeinerte Kriterien zur Diagnostizierung des Autismus (z. B. im Erwachsenenalter) (4) frühere Diagnostizierung im frühkindlichen Alter (5) verfeinerte, genauere Instrumente zur Erfassung von Verhaltensweisen im Autismus-Spektrum (6) Elterninteresse (incl. Nachbarschaftseffekt) (7) Beseitigung von Fehldiagnosen (8) Stärkere Diagnostizierung (Nachholen) bei Personen aus sozial benachteiligten Milieus (v. a. USA)
Von der Tradition zur Innovation
Zu den klassischen Beschreibungen und Betrachtungen von Autismus L. Kanner (1943) und H. Asperger (1944) ICD 10 und DSM IV: Autismus als tiefgreifende Entwicklungsstörung (1) Frühkindlicher Autismus/ autistische Störung / Autismus/ Kanner-Autismus/ klassischer Autismus (2) Asperger Syndrom/ Asperger Autismus (3) Atypischer Autismus (4) Nicht näher bezeichnete tiefgreifende Entwicklungsstörung Hochfunktionaler Autismus niedrigfunktionaler Autismus
Die Beeinträchtigung von drei Funktionsbereichen - als Triad of Impairments bezeichnet - gelten als Kerncharakteristika: 1. Besonderheiten in der sozialen Interaktion 2. Besonderheiten in der (sprachlichen) Kommunikation 3. Besonderheiten im Umgang mit Objekten und Festhalten an Routine und Ritualen (Diese Besonderheiten werden üblicherweise als Defizite ausgelegt.)
Probleme in Bezug auf die verschiedenen Autismus-Bilder Häufige Unsicherheiten bezüglich der Klassifizierung bzw. Zuordnung Häufiger Diagnosewechsel Spezialinteressen/ Stärken kommen zu kurz Wahrnehmungsbesonderheiten kommen zu kurz Dimensionale Sicht statt kategoriale: Autismus-Spektrum-Störung (DSM 5)
Autismus-Spektrum-Störung (DSM 5) A. Anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion (in allen drei Bereichen) (1) Defizite in der sozial-emotionalen Wechselseitigkeit (2) Defizite in der nonverbalen Kommunikation im Rahmen sozialer Interaktionen (3) Defizite in der Entwicklung und Aufrechterhaltung von Beziehungen B. Eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten (in mindestens 2 Bereichen) (1) Stereotype(r) oder repetitiv(r) Sprache, Bewegungen, Gebrauch von Dingen (2) Exzessives Festhalten an Routine, ritualisiertes Sprachverhalten, Widerstand gegenüber Veränderung (3) Hoch eingeschränkte, fixierte Interessen (4) Hyper oder Hypo-ausgeprägtes Wahrnehmungsverhalten C. Die Symptome müssen in der frühen Kindheit gegenwärtig sein D. Die Gesamtheit der Symptome begrenzen und beeinträchtigen das Alltagsverhalten (everyday functioning) FB Erziehungswissenschaften/
Kritik an der Defizitorientierung und Pathologisierung von Autismus Eine Alternative: Das Autismus-Spektrum-Konzept nach ASAN Autistic Self-Advocacy Network Unterschieden werden sieben autismustypische Merkmale
Versuch einer funktionalen Betrachtung von Autismus (1) Unterschiedliche sensorische Erfahrungen Zum Beispiel: Die hohe Sensibilität im Hinblick auf Quietschgeräusche der Schuhe beim Gehen kann dazu führen, dass sich eine Person weigert, Schuhe anzuziehen. Ihre Verweigerungshaltung ist somit kein ungezogenes oder führungsresistentes Verhalten, sondern eine für die Person sinnvolle Problemlösung.
(2) Unübliches Lern- und Problemlösungsverhalten Zum Beispiel: Mit dem Zubinden meiner Schuhe hatte ich meine liebe Mühe. Egal, wie oft es mir gezeigt wurde, ich war nicht in der Lage, diese Bewegungen nachzuahmen, um mir die Schnürsenkel zuzubinden. Eines Tages hatte ich mir in den Kopf gesetzt, dies nun endlich zu lernen. Ich habe die Schuhe studiert und habe mir die Schnürsenkel angeschaut. Ich habe mir den Knoten angeschaut und welchen Weg die Schnüre nehmen. Ich habe daraufhin meine eigene Technik entwickelt, um die Schuhe zuzubinden" (Miggu, zit. n. Aspies e. V. 2010, 19).
(3) Fokussiertes Denken und ausgeprägte Interessen in speziellen Bereichen Zum Beispiel: Das absolut Wichtigste in meinem Leben sind Bücher. Fach- und Sachbücher zu Geschichts-, Wirtschafts- oder Politikthemen. Das sind meine wahren Leidenschaften, alles andere stelle ich dann hinten an. Wenn es mir schlecht geht, gehe ich nicht in die Apotheke, sondern in eine Buchhandlung" (Florian P., zit. n. Aspies e. V. 2010, 121).
(4) Atypische, manchmal repetitive Bewegungsmuster Zum Beispiel: H. Seng (2011, 9) berichtet, dass er in seiner Jugendzeit intensiv beim Einschlafen gerne mit seinem Oberkörper wippte und schaukelte. Beides diente dem Spannungsabbau.
(5) Bedürfnis nach Beständigkeit, Routine und Ordnung Zum Beispiel: Wenn etwas nicht genau an seinem Platz stand, musste ich es geraderücken; und diese Tätigkeit, das Wiederherstellen von Ordnung, gab mir das Gefühl von Sicherheit (Williams 1994, 121).
(6) Schwierigkeiten, Sprache zu verstehen und sich sprachlich auszudrücken, so wie es üblicherweise in Kommunikationssituationen (Gesprächen) erwartet wird Zum Beispiel: Peter ging durch die Klasse. Seine Lehrerin ermahnte ihn: Setz Dich bitte hin! Daraufhin setzte er sich dort auf den Boden, wo er gerade stand. (Problem des Wörtlichnehmens )
(7) Schwierigkeiten, typische soziale Interaktionen zu verstehen und mit anderen Personen zu interagieren Zum Beispiel: Problem, das zu erfassen, was jemand möchte: Somit wird aus einer Anfrage 'Kommst du mit, einen Kaffee trinken?' ein kognitiver Vorgang, darin eine Aufforderung zu einem Gespräch herauszulesen und nicht mit knappen Worten abzulehnen, da man eben nur Tee trinkt und selbst den Hinweis auf die eigenen Trinkgewohnheiten unterlässt, woraus das gegenüber auf ein Missverständnis schließen könnte" (L. v. Dingens, zit. n. Aspies e. V. 2010, 160).
Theorien, die die funktionale Sicht stützen und den traditionellen (hierzulande verbreiteten) Auffassungen zum Teil kontrapunktisch gegenüberstehen
Monotropismus-Hypothese (W. Lawson und Team) Ausgangspunkt: Die Aufmerksamkeit von Menschen ist quantitativ begrenzt, so dass für kognitive Prozesse, z. B. für das Erfassen von Situationen und Inhalten, optimale Strategien gefunden werden müssen. Nicht-autistische Personen sind zumeist in der Lage, im Rahmen von Aktivitäten, Gesprächen oder sozialen Situationen ihre Aufmerksamkeit auf mehrere Stimuli gleichzeitig zu richten und so zu nutzen und zu verteilen, dass sie Wesentliches selektieren und erfassen können.
Im Unterschied zu dieser sogenannten polytropistischen Form der Wahrnehmung ignorieren Personen aus dem Autismus-Spektrum oftmals ein breites Feld an Informationen und fokussieren nur wenige Stimuli interessenbezogen. Sie verteilen ihre Aufmerksamkeit für gewöhnlich nicht auf mehrere Reize gleichzeitig ein Phänomen, das als Aufmerksamkeitstunnel beschrieben wird. Diese interessenbezogene, monotropistische Strategie dient dazu, Reizüberflutung, ein breites Feld an gleichzeitig dargebotenen Informationen, zu bewältigen.
Intense World Theory (H. u. K. Markram) Ausgangspunkt: Autistische Personen haben ein überempfindliches Gehirn, weil dessen millionenfach vorhandenen neuronalen Mikroschaltungen überladen und hypersensibel seien. Auf dem Hintergrund der Hyper-Funktionalität werde die Umwelt übermäßig intensiv (auch emotional) wahrgenommen, wobei die Intensität basaler, einfacher sensorischer Prozesse (lower-order sensory process) so überwältigend sei, dass das Gehirn gezwungen werde, sich zu entlasten (z. B. Rückzug, Interessenfokussierung).
Enhanced Perceptional Functioning (L. Mottron und Team) Ausgangspunkt: sensorische Hypersensitivität bei Personen aus dem Autismus-Spektrum Erhöhte Wahrnehmungsprozesse und leistungen auf elementarer Ebene quasi niedrigschwellig (bottom up), zum Beispiel durch ein frühes Erschließen von Eigenschaften eines Objekts, durch ein frühes Erkennen, Erfassen und Speichern von visuellen Mustern, Strukturen, Tönen o. Ä. Dies ist eine besondere Stärke bei Personen, denen bisher (frühkindlicher) Autismus und kognitive Beeinträchtigung (geistige Behinderung) nachgesagt wurden.
Fazit: Autismus neu denken Die meisten autistischen Personen sind nicht wie bisher behauptet geistig behindert, sondern zeigen eine autistische Intelligenz (Dawson). Personen mit dem sog. frühkindlichen Autismus wurden bzw. werden bisher mit unzureichenden Instrumenten (HAWIK, HAWIE, Wechsler) getestet. Stärken wie im Block-Design Test (Subtest im HAWIK, HAWIE, Wechsler) sollten als 'echte' Manifestation von Intelligenz gewürdigt werden.
Zur autistischen Intelligenz Während nicht-autistische Personen im Wechsler-Test und Raven-Matrizen-Test vergleichbar abschneiden, erzielen vor allem Personen mit klassischem Autismus im Raven-Test zumeist höhere IQ Werte als im Wechsler-Test (Quelle Mottron und Team). Der Raven-Matrizen-Test misst zentrale Komponenten allgemeiner Intelligenz (z. B. strukturiertes und logisches Denken, deduktive Fähigkeiten bzw. die Fähigkeit aus neuen Situationen Regeln herzuleiten) Die entscheidende Frage ist daher nicht, wie viel, sondern welche Art von Intelligenz Autist(inn)en haben.
Spezifische, häufig beobachtbare Schwierigkeiten von Personen aus dem Autismus-Spektrum Keine Nutzung des intuitiven Vorverständnisses (Klicpera & Innerhofer 1999) Probleme bei der Erfassung von wesentlichen Dingen (intuitiv Gemeintem [Theory of Mind Problem]) bzw. beim Denken in Zusammenhängen Probleme bei der Einordnung visuell gespeicherter Informationen in einen räumlich-zeitlichen Kontext oder Sinnzusammenhang, der für nicht-autistische Personen als bedeutsam gilt, als Vorwissen intuitiv unterstellt wird.
Solche Schwierigkeiten haben Konsequenzen in Bezug auf geteilte Aufmerksamkeit, Interessen und soziale Kommunikation: Nachdem Jeff von seinen ersten Erfahrungen bei einem Rennen mit Freunden zurückkam, fragte Jeff s Vater: Hat es dir Spaß gemacht? Jeff antwortete: Es war so aufregend! Es gab 20 Abteilungen in den unüberdachten Tribünen mit 20 Reihen von je 25 Stühlen. Es gab 47 Fahnen um die Rennbahn - 17 waren rot und weiß, 15 waren blau und gelb, und 15 waren grün und weiß. Mit dieser Genauigkeit der Details hatte er kaum die Möglichkeit, die Renn-Erfahrung auf eine bedeutungsvolle Weise mit anderen zu teilen (Janzen & Zenko 2012, 45). FB Erziehungswissenschaften/
Weitere Konsequenzen beziehen sich auf das Missverstehen von Verhaltensauffälligkeiten: Eine vorstellbare Situation wäre zum Beispiel, dass ein Kind mit Autismus nach der Aufforderung den Tisch zu decken, Teller auf den Boden wirft. Dieses Verhalten wird schnell als rebellisch ausgelegt, obwohl dies nicht der Fall sein muss. Eine kognitionspsychologische Interpretation (funktionales Assessment im Sinne der Positiven Verhaltensunterstützung, G. T.) wäre, dass das Kind aggressiv reagiert, weil ihm nicht klar ist, warum es den Tisch decken soll, da der konzeptionelle Zusammenhang zwischen den Tellern auf dem Tisch und dem folgenden Essen nicht hergestellt wird (Müller 2007, 188).
Resümee Die funktionale Sicht führt zum Verständnis von autistischem Verhalten und zugleich zum Verständnis von zusätzlichen Verhaltensauffälligkeiten oder psychischen Störungen FB Erziehungswissenschaften/
Zum Verständnis von (zusätzlichen) Verhaltensauffälligkeiten (Problemverhalten, Verhaltensstörungen) Autistische Merkmale sind nicht per se gestört sondern Ausdruck menschlichen (autistischen) Seins (Neurodiversity). Es kommt aber zu Störungen (mangelnder Abstimmung) zwischen individuellen (autistischen) Besonderheiten und Umweltbedingungen. Daraus ergeben sich Verhaltensauffälligkeiten als Ausdruck eines gestörten Verhältnisses zwischen Individuum und Umwelt, das die Person zu bewältigen versucht. Dieser Problemlösungsversuch ist für die Person zweckmäßig, funktional bedeutsam. Er wird aber von Umkreispersonen als auffällig, normabweichend oder gestört wahrgenommen und bezeichnet.
Stimming (als Beispiel für problemlösendes Verhalten) ist ein selbststimulierendes Verhalten häufig (negativ besetzt) als repetitives, stereotypes Verhalten bezeichnet Funktionen: (1) Konzentration auf eine Sache (2) Beruhigung/ Selbstregulation (3) Entspannung (4) Nachdenken (5) Schutz/Abwehr vor sensorischem Overload (6) Abbau von Stress und Ängsten (7) Erkundung von Welt (Dingen) FB Erziehungswissenschaften/
Eine synthetisierende Sicht und richtungsweisende Perspektive für die Praxis bietet das Vulnerabilitäts-Stress-Bewältigungsmodell. Ausgangspunkt: Zum Bespiel (vor allem) erhöhte Vulnerabilität durch Hyper-Wahrnehmung (hyperarousal) Diese gilt es zu bewältigen. Bei einem solchen Coping lassen sich individuelle und soziale Ressourcen (Stärken) nutzen. Wichtig ist die Verfügbarkeit geeigneter Ressourcen oder Stärken.
Konsequenzen für die Praxis (grundsätzliche Aspekte) 1. Prävention in Bezug auf Stress oder Situationen, die womöglich Stress erzeugen 2. Bewältigung von Stress 3. Würdigung und Unterstützung von Stärken und Spezialinteressen 4. Aufklärung und Information 5. Die Verfügbarkeit einer konstanten Bezugs- und Vertrauensperson 6. Angebote einer Beziehungsanbahnung und -gestaltung 7. Schulung der professionellen Unterstützungspersonen im Sinne der Autismus-Spektrum-Sicht
Bezugsliteratur Theunissen, G.; Paetz, H.: Autismus Neues Denken Empowerment Best Practice Stuttgart 2011 (Kohlhammer-Verlag) Theunissen, G.: Der Umgang mit Autismus in den USA Schulische Praxis Empowerment gesellschaftliche Inklusion Das Beispiel Kalifornien Stuttgart 2013 (Kohlhammer-Verlag) Theunissen, G.: Menschen im Autismus-Spektrum Verstehen Annehmen Unterstützen Ein Lehrbuch für die pädagogische Praxis Stuttgart 2014 (Kohlhammer-Verlag) i. E.
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