Handreichung zum Verständnis und Vorgehen bei angstbedingter Schulverweigerung

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Handreichung zum Verständnis und Vorgehen bei angstbedingter Schulverweigerung Man unterscheidet drei Formen von Schulverweigerung mit jeweils unterschiedlichem psychischen Hintergrund: Schulangst: Angst vor konkreten Belastungen in der Schule Schulphobie: Kindliche Trennungsangst als primär familiäres Beziehungsproblem bzw. weitergehende Sozialphobie Schulschwänzen: Symptom der Dissozialität; Verweigerung des Schulbesuchs ohne Wissen der Eltern; meist keine Angstsymptomatik; Schulunlust und Desinteresse gepaart mit schlechten Schulleistungen sind charakteristisch. Im Folgenden geht es um die beiden Formen angstbedingter Schulverweigerung: Schulangst Schulangst ist Angst vor der Schule; zum einen kann es sich dabei um Schwierigkeiten mit Leistungsanforderungen bis zur Leistungsüberforderung handeln, aber auch Mobbing oder Gewalt durch Mitschülerinnen und Mitschüler können Schulangst auslösen, ebenso Beziehungsschwierigkeiten mit Lehrerinnen und Lehrern. Schulphobie Diese Kinder haben nicht primär Angst vor der Schule ( meist sind sie den Leistungsanforderungen der Schule gut gewachsen), sondern Angst vor der Trennung von den Eltern, insbesondere der Mutter bzw. Trennung von einem ihnen vertrauten Milieu; meist sind es sehr gebundene Kinder, die außerhalb des Systems Familie mit einem Gefühl mangelnden Selbstwerts und geringer Autonomie reagieren. Die Angst der Kinder / Jugendlichen geht mit körperlichen Symptomen einher wie: Kopfschmerzen, Schwindel, Herzrasen, Zittern der Hände, Atembeschwerden Schweißausbrüche Übelkeit und Erbrechen Magen- /Darmbeschwerden, Durchfall, Appetitlosigkeit Weinen, depressive Verstimmung, Suizidgedanken Wann sollte die Entwicklung einer angstbedingten Schulverweigerung in Betracht gezogen werden? Fehlen im Unterricht, anfangs nur in der ersten Stunde oder an Tagen, an denen Klassenarbeiten geschrieben werden; im Verlauf der Zeit auch häufiges Fehlen an Montagen oder nach den Ferien Antriebsstörungen, extreme Passivität Rückzug, Verheimlichen, Lügen, Realitäten erfinden Vermeidung von Gesprächen und Kontakten 1

Was ist zu tun? Eltern auf die häufigen Fehlzeiten des Kindes ansprechen und Schulpflichterfüllung einfordern Auf Besuch beim Kinderarzt und medizinische Abklärung der geklagten Beschwerden hinwirken, im Einzelfall amtsärztliches Gutachten verlangen. Die Kontaktaufnahme mit einer Schulpsychologischen Beratungsstelle oder einer Psychologischen Beratungsstelle (Erziehungs- und Familienberatungsstelle) empfehlen. Schulleiter können sich wegen fachlicher Beratung über ein mögliches Vorgehen bei schulverweigernden Schülerinnen und Schüler an die (Schul-) Psychologischen Beratungsstellen wenden. Sinnvoll ist die Kooperation aller Beteiligten zu einem möglichst frühen Zeitpunkt und ggf. die Einberufung einer Helferkonferenz (Eltern, Schule, Kinderarzt, Beratungsstelle, Psychotherapeut, Sozialer Dienst...). Wichtig sind dabei Vereinbarungen über Zeitgrenzen hinsichtlich der Wiedereingliederung in die Schule. Eine möglichst schnelle Reintegration des Kindes in die Schule ist vordringlichstes Ziel, da die Schulangst und die damit verbundenen körperlichen Symptome nur durch Konfrontation überwunden werden können, d.h. das Kind muss erfahren, dass es stark genug ist, den Unterricht zu besuchen und Angst und Begleitsymptome auszuhalten. Dieser Prozess kann mehrere Wochen dauern. Es ist wichtig, einer Chronifizierung vorzubeugen, da sonst nur noch sehr schlechte Heilungsprognosen zu stellen sind. Mit der Chronifizierung geht häufig eine Generalisierung der Ängste einher. Die Schule kann hier entscheidende Beiträge zur Vorbeugung leisten. Bei Verdacht auf Schulphobie machen die Beratungsstellen in der Regel ein kurzfristiges Terminangebot an die Eltern, um eine rasche erste Intervention zu ermöglichen. Achtung: Klassen- oder Schulwechsel kann hilfreich sein, ist aber selten die Lösung! Ernst Schrade Landratsamt Esslingen, Schulpsychologische Beratungsstelle Elisabeth Longen Psychologische Beratungsstellen für Familie und Jugend des Landkreises Esslingen 2

Anhang Schulverweigerung- Epidemiologie Quelle: Christliches Jugenddorfwerk Deutschlands e. V. (CJD) Regelmäßige Schulverweigerer 1999: 70.000 2000: 300.000 500.000 Beispiel Berlin: Schulverweigerer im 2. Schulhalbjahr 2001/2002 (Quelle: Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Sport) In Prozent: Anteil der Schüler mit 21 bis 40 Fehltage über 40 Fehltage Gymnasien 1,3 0,2 Grundschulen 2,6 0,6 Realschulen 3,4 1,0 Gesamtschulen 4,6 2,2 Sonderschulen 9,5 4,6 Hauptschulen 11,0 7,5 Wie ist die Reaktion der Schule? Ermahnungen Strafarbeiten Nachsitzen Mit Schüler reden 59% Gespräch mit Eltern 53% Schüler nicht beachten 25% Bußgeldbescheid 22% Verweis erteilen 22% Nicht reagieren 21% Zeitweilig ausschließen 16% Nachhilfe anbieten 15% Entgültiger Verweis 14% Zum Schulamt schicken 10% Von Polizei vorgeführt 4% 3

Reaktion der Eltern auf Schulverweigerung Mit Kind reden 83% Gespräch mit Schule 53% In Projekt bringen 42% An Jugendamt wenden 32% Hausarrest verhängen 28% Mit Kind lernen 17% Nichts tun 10% Kind schlagen 8% Aktivitäten während des Schulschwänzens Ausschlafen 70% Freunde besuchen 69% Mit Freund/in zusammen 65% Zu Hause bleiben 62% Nichts Besonderes 55% Computerspiele 43% Dinger drehen 33% Sport treiben 27% Auf Schulhof gehen 20% Bei Familie arbeiten 20% Geld verdienen 17% 4

Ablaufschema eines Beratungsprozesses zur Einleitung unterstützender Maßnahmen bei Schulverweigerung Stufenplan Dieser Vorschlag zum Vorgehen bei Schulverweigerung trägt der Erkenntnis Rechnung, dass ein frühes Eingreifen erforderlich ist, um einer Chronifizierung als Schulphobie vorzubeugen. Mit dem nachfolgenden Schema soll den Betroffenen eine sach- und personengerechte Vorgehensweise aufgezeigt werden. Im Rahmen ihrer Fürsorgepflicht soll die Schule in Zusammenarbeit mit den Eltern mögliche Hilfsmaßnahmen entwickeln, therapeutische Maßnahmen einleiten und gegebenenfalls auf ambulante bzw. stationäre Klinikaufenthalte drängen. Stufe1: a) Beteiligte: Beratungslehrer/in, Eltern, Klassenlehrer/in und eventuell Schüler b) Inhalt des Gesprächs: Benennen konkreter Fakten (Fehltage, Fehlzeiten, Krankheiten) Auf einen möglichen Zusammenhang zwischen Schulverweigerung und Schulangst hinweisen Aufzeigen der Erwartungen durch den Klassenlehrer und der Schule Besprechen des Stufenplanes c) Besprechen, entwickeln und vereinbaren möglicher Hilfen d) Festlegen und vereinbaren der nächsten Unterstützungsschritte f) Datum und Inhalt des Gespräches dokumentieren und ggf. unterschreiben Anmerkung: Der Folgetermin sollte innerhalb von 3-4 Wochen liegen. Stufe 2: a) Beteiligte: s.o. zusätzlich Schulleitungsperson b) Inhalte des Gesprächs: Benennen neuer Fakten im Anschluss an das vorausgegangene Gespräch Zusammenhang zur Ängstlichkeit erneut aufzeigen c) Besprechen weitergehender Hilfen d) Festlegen und vereinbaren der nächsten Unterstützungsschritte: Fachliche Unterstützung und Diagnostik einfordern eventuell schriftlichen Nachweis verlangen f) Datum und Inhalt dokumentieren Anmerkung: Eine Mündliche Belehrung ist erforderlich, dass bei Ablehnung oder nicht aktiver Mitarbeit bei den Hilfsangeboten und weiterer Verletzung der Schulpflicht strafrechtliche Konsequenzen eingeleitet werden. Stufe 3: a) Beteiligte: wie bei Stufe 2 und weitere Helfer b) Inhalte: Benennen neuer Fakten in Bezug zum vorangegangen Gespräch Zusammenhang zur Schulangst erneut herstellen c) Besprechen weitergehender Hilfen: Aufnahme einer Psychotherapie einfordern andere weiterreichende Maßnahmen veranlassen d) Festlegen und vereinbaren der nächsten Unterstützungsschritte f) Datum und Inhalt dokumentieren Stufe 4: a-f) wie in den Stufen 1-3, wobei die Punkte c) und d) eindeutig eskalierenden Charakter haben 5