Grundrechte und Grundwerte in der Europäischen Union in Gefahr Sehr geehrter Herr Präsident des Europäischen Parlamentes! Sehr geehrte Abgeordnete des Europäischen Parlamentes! Die Europäische Union macht immer mehr Angst. Sie entfernt sich von den Werten, auf die sie sich in Artikel 2 des Vertrages über die Europäische Union (EUV) gründet, insbesondere von den Grundwerten der Demokratie und Werten zur Wahrung der Menschenrechte. Sie verletzt aber auch den Grundsatz der souveränen Gleichheit der Staaten, wie er nicht nur in Artikel 2 Punkt 1 der Satzung der Vereinten Nationen festgelegt ist, sondern auch in Artikel 4 EUV. Diese Tendenz zeigt sich deutlich am Beispiel Ungarn und den zu Ungarn ergangenen Entschließungen des Europäischen Parlamentes. 1. 2. Bereits die auf dem Tavares-Bericht beruhende Entschließung vom 3.7.2013 stellt einen Eingriff in die Souveränität Ungarns dar, hatte keine auf Fakten beruhende Verletzung von Grundrechten zum Inhalt und war offensichtlich rein politisch motiviert. Die Entschließung vom 3.6.2015 zur Lage in Ungarn nimmt die sensiblen Themen Todesstrafe und Migration zum Anlass, um die Meinungsfreiheit zu diesen Problemen einzuschränken. 3. Wiewohl die Europäische Union im Vertrag von Lissabon die Einführung der Todesstrafe im Kriegsfall und bei unmittelbarer Kriegsgefahr sowie die Tötung ohne Gerichtsurteil bei Aufruhr oder Aufstand ermöglicht,
wird in der Entschließung bereits die Anbahnung einer Debatte über die Todesstrafe gerügt. 4. 5. 6. In gleicher Weise wird eine Diskussion über das Thema Einwanderung und Terrorismus untersagt, die ungarische Regierung für die Einleitung einer Befragung der Öffentlichkeit gerügt und aufgefordert, diese unverzüglich einzustellen. Hinzu kommt, dass die Entschließung die tatsachenwidrige Unterstellung enthält, dass sich die Befragung auf asylsuchende Migranten bezieht. Nicht nur aus der Überschrift, sondern auch aus dem Inhalt ist klar ersichtlich, dass sich die Befragung ausschließlich auf Einwanderung und Terrorismus bezieht und nicht auf Flüchtlinge nach der Genfer Konvention oder Personen aus Kriegsgebieten, die internationalen Schutz beanspruchen. In diesem Zusammenhang wird auf den Prümer Vertrag vom 27.5.2005 Über die Vertiefung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, insbesondere zur Bekämpfung des Terrorismus, der grenzüberschreitenden Kriminalität und der illegalen Migration verwiesen, welchem 13 Staaten der Europäischen Union darunter Ungarn beigetreten sind. Schon alleine der Umstand, dass sich der Fragenkatalog ausschließlich auf den in diesem Vertrag enthaltenen Themenkreis bezieht, zeigt die Unsachlichkeit der Entschließung und tendenziöse Ungleichbehandlung Ungarns. Bemerkt wird auch, dass der Fragenkatalog keinerlei rechtswidrige Maßnahmen enthält, wie sie etwa von der EU Kommission in ihrem Zehnpunkteplan Versenkung von Schiffen vorgeschlagen wurden. 7. Die Ungleichbehandlung zeigt sich darin, dass bei anderen Mitgliedstaaten deren ablehnende Haltung und Weigerung der Aufnahme auch von Flüchtlingen und internationalen Schutz Suchenden keine negative Reaktion
auslöst wie die Bürgerbefragung zum Schutze vor Terrorismus und illegaler Einwanderung in Ungarn. Es ist dies insbesondere: Schließung der Grenze durch Frankreich, Stopp aller Asylanträge durch Österreich, Beschluss der Gemeinden in Norditalien keine Flüchtlinge mehr aufzunehmen, Weigerung Großbritanniens Such- und Rettungsaktionen im Mittelmeer durchzuführen, Weigerung Maltas Flüchtlinge aufzunehmen, Weigerung Tschechiens und Polens Schutzsuchende aus Syrien aufzunehmen (Polen ist nur bereit, 100 Syrer aufzunehmen). Die Ukraine hat die Genfer Flüchtlingskonvention zur Gänze aufgekündigt. 8. Ungarn hingegen nimmt die größte Anzahl an Migranten in Mittel- und Osteuropa auf, gemessen an der Einwohnerzahl liegt Ungarn europaweit nach Schweden sogar an zweiter Stelle. Ungarn würde daher anstelle einer Rüge die Unterstützung der Europäischen Union verdienen. 9. Entlarvend ist jedoch die Einstellung zur Ukraine. Wenngleich die Ukraine kein Mitgliedsstaat der EU ist, so hat sich das Europäische Parlament dennoch mit der Ukraine befasst, insbesondere mit der Entschließung vom 14.1.2015. Es ist daher unfassbar, dass sowohl die versuchte und erst in zweiter Abstimmung gescheiterte Verhängung des Kriegsrechtes ebenso unbeachtet bleibt wie der nunmehr vom Parlament erklärte Rücktritt von den Verpflichtungen gemäß Artikel 5,6,8 und 13 der EMRK und 9,12,14 und 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte, ebenso wie die Aufkündigung der Genfer Flüchtlingskonvention. Bereits die Entschließung vom 14.1.2015 hat eine Verurteilung der schweren Grundrechtsverletzungen der ukrainischen Regierung schwerste Artillerie und Bombenangriffe gegen die eigene Bevölkerung, Entzug der Rentenzahlungen und Sozialleistungen, Verweigerung von Hilfeleistungen trotz humanitärer Katastrophe, Verletzung der Medienfreiheit und Missachtung der Rechte der nationalen
Minderheiten und autochthonen Völker vermissen lassen. 10. 11. Besondere Sorge bereitet jedoch, dass der vom European Council on Tolerance and Reconsiliation (ECTR) vorgelegte Entwurf Model National Statute for the Promotion of Tolerance vor einiger Zeit wieder hervorgeholt wurde. Unter dem Deckmantel der Toleranz beinhaltet dieser Entwurf eine Einschränkung der Meinungsfreiheit, die weit über die in Artikel 10 Abs. 2 EMRK gezogenen Grenzen hinausgeht und auch Ideologien und Meinungen kriminalisiert, die als schwere Straftaten (!) zu verfolgen sind. Die vorgesehene Überwachungsbehörde, die zur Gewährleistung von Toleranz vorgesehenen Vorschriften für den Schulunterricht, insbesondere aber die speziellen Umerziehungsprogramme für Jugendliche haben offenbar das totalitäre kommunistische System zum Vorbild, von dem sich Europa erst vor 25 Jahren befreit hat. Auch die Organe der Europäischen Union haben Pflichten, insbesondere zur Einhaltung ihrer eigenen Grundrechte. Eine Gemeinschaft, die glaubt, sich dadurch schützen zu müssen, dass bestimmte Meinungsäußerungen ausgeschlossen werden, ist auf dem Weg zum Totalitarismus. Keine Toleranz gegen jene, die eine falsche Meinung vertreten, ist das Wesen jeder Diktatur. Pluralismus und Demokratie leben von freier Meinungsäußerung. Unannehmbar und besorgniserregend ist die Einschränkung der Meinungsfreiheit als politische Waffe. In Erwartung, dass sich auch das Europäische Parlament an die Grundrechte hält und nicht Entschließungen verabschiedet, die an den Grundwerten rütteln, sowie in Erwartung der Einhaltung der in Artikel 4 EUV genannten Grundsätze, nämlich Beachtung der Souveränität der Staaten und ihrer nationalen Identität wie sie in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen zum Ausdruck kommt, Achtung der Gleichheit der Mitgliedstaaten vor den Verträgen, sowie der
loyalen Zusammenarbeit und Unterstützung auch von Seiten der Union verbleibe ich mit vorzüglicher Hochachtung Dr. Eva Maria Barki