Betroffenensicht zu Recht und Interventionen bei Partnergewalt auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter?

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Transkript:

Gleichstellung der Geschlechter Nationales Forschungsprogramm NFP 60 Egalité entre hommes et femmes Programme national de recherche PNR 60 Gender Equality National Research Programme NRP 60 www.snf.ch Betroffenensicht zu Recht und Interventionen bei Partnergewalt auf dem Weg zur Gleichstellung der Geschlechter? Zusammenfassung der Projektergebnisse Langversion Projektteam: Dr. Daniela Gloor und Dr. Hanna Meier Kontakt: Dr. Daniela Gloor Social Insight Forschung Evaluation Beratung Unterdorfstrasse 18 5107 Schinznach-Dorf T: +41 56 443 15 14 gloord@socialinsight.ch April 2014

«Ohne den Mut, bei der Opferhilfe anzurufen, wäre ich heute nicht da, wo ich bin» Institutionelle Hilfe und Intervention bei häuslicher Gewalt gegen Frauen Die Schweiz hat das Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul Convention) am 11. September 2013 unterzeichnet. Damit stehen Politik und Verwaltung wertvolle Richtlinien für die weitere Ausgestaltung von Interventionen im Bereich häusliche Gewalt gegen Frauen zur Verfügung. Die Umsetzung der Grundsätze und die baldige Ratifizierung des Übereinkommens sind aus Sicht der Forschung zu Gewalt in Ehe und Partnerschaft zu begrüssen. Dies unterstützen die Ergebnisse der vorliegenden Forschung im Rahmen des Nationalen Forschungsprogramms 60. Gewalt in Ehe und Partnerschaft ist ein gesellschaftlich nicht mehr akzeptiertes Verhalten. Entsprechend hat sich die institutionelle Interventions- und Hilfslandschaft verändert. Heute übernehmen mehr Institutionen Verantwortung für das Problem, es gibt neue Gesetze, und Interventionen und Angebote haben zugenommen ebenso wie die Kooperation zwischen den Institutionen. Kennzeichnend für die Veränderungen der letzten Jahre ist, dass sie auf drei grundlegende Zielsetzungen ausgerichtet sind: Gewalt ist zu stoppen, Opfer sind zu schützen und zu unterstützen, und Täter sind in Verantwortung zu ziehen und sie sollen Hilfe erhalten. An diesen Zielsetzungen richtet sich das institutionelle Handeln heute aus, sie repräsentieren die gemeinsame Absicht von Frauen-Unterstützungsorganisationen und staatlichen Stellen. Der Konsens, wie und mit welchen übergeordneten Leitlinien dem Problem Gewalt in Ehe und Partnerschaft zu begegnen ist, ist als Quintessenz der gesellschaftlichen Veränderungen zu bezeichnen. An dieser Stelle setzt das Interesse der vorliegenden Studie an. Wie spiegelt sich die heutige Ausrichtung der Interventionen in den konkreten Erfahrungen betroffener Frauen? Wir setzen, der consumer research vergleichbar, bei den Gewaltbetroffenen an und fragen danach, wie sie aus der individuellen Betroffenenperspektive heraus die Interventionen und Kontakte mit den Fachleuten des institutionellen Netzes erleben. Wie nehmen gewaltbetroffene Frauen die neuen Massnahmen, die veränderten Vorgehensweisen und die intensivierte institutionelle Zusammenarbeit wahr? Wie beurteilen sie die Dienstleistungen? Das Forschungsteam hat in den Jahren 2011 und 2012 mit vierzig Frauen, die vom Partner Gewalt erlebt und danach Unterstützung gesucht haben, ausführliche mündliche Gespräche (narrative Interviews) durch geführt. Die Interviews wurden in vier Deutschschweizer Kantonen durchgeführt und kamen mit Unterstützung und organisatorischer Hilfe der Polizei, von Frauen-/Opferhilfestellen und Frauenhäusern zustande. Die knapp ein- bis zu dreistündigen Gespräche wurden wortgetreu transkribiert und bilden das zentrale Datenmaterial. Die Ergebnisse werden im Kontext der institutionellen Arbeit und Aufgaben reflektiert. Ergänzend zur subjektiven Sicht der Betroffenen hat das Forschungsteam Interviews mit Experten und Expertinnen aus Institutionen durchgeführt. Erfasst und ausgewertet wurden Dokumente, Gesetze und Materialien zur aktuellen institutionellen Situation im Interventionssystem gegen häusliche Gewalt.

Opferbedürfnisse decken sich mit staatlichen und privaten Zielsetzungen Die drei grundlegenden institutionellen Zielsetzungen stimmen, wie die Analysen aufzeigen, mit zentralen Anliegen gewaltbetroffener Frauen überein. Mit Blick auf die institutionelle Praxis ist das ein wertvolles, ermutigendes Ergebnis. Es bedeutet, dass das institutionelle Handeln tatsächlich auf die Bedürfnisse der Betroffenen ausgerichtet ist, wenn sich Institutionen und Fachpersonen in ihrem Handeln auf die Erfüllung der drei Ziele konzentrieren. Wenn sie also dazu beitragen, die Gewalt zu beenden, wenn sie auf die Sicherheit der Opfer achten und ihnen angepasste Hilfe zukommen lassen, die sie unterstützt und stärkt, und wenn sie gegenüber den Gewaltausübenden Grenzen setzen und sie in ihrer Verantwortung ansprechen. Polizei nimmt Opfer ernst, Hilfe und Bestärkung von Opferberatung und Frauenhaus Die Optimierungen im Zielbereich der Opferunterstützung der letzten Jahre zeigen Wirkung. Viele Frauen berichten über gute Begegnungen mit verschiedenen Stellen, die für sie hilfreich und unterstützend verlaufen. Die Polizei hat sich des Problems häusliche Gewalt intensiv angenommen. Die Einsatzdoktrin des Vermittelns zwischen dem Paar hat ausgedient. Getrennte Befragungen sind wie interviewte Frauen bestätigen heute an der Tagesordnung, Gewaltbetroffene fühlen sich von den Polizisten und Polizistinnen ernst genommen und erhalten zweckmässige Informationen. Grosse Bedeutung kommt in der Sicht der Befragten der problemspezifischen Unterstützung durch spezialisierte Frauenberatungs-/Opferhilfestellen und Frauenhäuser zu. Für sehr viele Frauen erbringen diese Institutionen massgebliche Hilfe- und Unterstützungsleistungen. Als entscheidend erlebt werden der angepasste Zugang zu Informationen, Orientierungswissen für die Entscheidfindung, zum Hilfssystem und zu möglichen oder anstehenden rechtlichen Schritten. Geschätzt werden auch die konkrete Unterstützung und Handlungshilfen im Kontakt zu weiteren Stellen, namentlich im justiziellen Bereich oder etwa die Vermittlung eines qualifizierten Anwalts oder einer erfahrenen Anwältin. Als zentral erweist es sich vor allem auch, dass die Frauen genügend Raum erhalten, um ihre Erfahrungen und ihre Situation zu reflektieren und ihre Handlungsmöglichkeiten auszuloten. Es sind dies alles Aspekte, die in der Erfahrung der Betroffenen als Bestärkung erlebt werden. Sie tragen zur Verarbeitung und Neuorientierung bei. Wenig Effektivität beim Stoppen häuslicher Gewalt Es kommt vor, dass die Gewalthandlungen des Partners nach einer Wegweisung durch die Polizei aufhören. Häufiger ist gemäss Studie jedoch die Erfahrung, dass die ergriffenen Massnahmen keine Wirkung zeigen. Die Effektivität der Handlungsweisen, die die Gewalt stoppen sollten, ist ungenügend. Griffige Sanktionen bleiben aus. Die Erkenntnis ist, dass der Erfolg in hohem Masse von der Kooperationsbereitschaft des gewaltausübenden Mannes abhängt. In der Theorie steckengeblieben: Offizialisierung von Gewaltdelikten in Ehe und Partnerschaft Gewaltbetroffene Frauen verweisen kaum darauf, dass Interventionen heute vermehrt eine Inverantwortungnahme der Täter einschliessen. Abgesehen von täterbezogenen 2

Massnahmen wie Wegweisungen findet kaum eine institutionelle Auseinandersetzung mit dem Gefährder oder eine Inverantwortungnahme statt. Bemerkenswert ist das Ergebnis, dass die Tatsache, dass Gewalt in Ehe und Partnerschaft heute ein Offizialdelikt ist und von Amtes wegen verfolgt wird, weder gegenüber dem Opfer noch der Tatperson verdeutlicht wird. Auch geben Erfahrungen der Betroffenen mit der Strafverfolgung und mit Strafverfahren kaum Hinweise darauf, dass die Offizialisierung dieser Delikte faktisch Konsequenzen im Vorgehen und in der Behandlung der Rechtsfälle zeitigt. Hingegen machen wir die Beobachtung, dass gewaltbetroffene Frauen gern und häufig auf diesen Weg verwiesen werden, sei es von Professionellen des Gesundheitsbereichs, aus Kindesschutzbehörden, der Alkoholberatung und weiteren mehr. Ein weitgehend ungenutztes Feld ist sodann die spezialisierte Gewaltberatung für gewaltausübende Männer. Zwar haben Männer überraschend häufig Kontakt zum Beratungssektor, gemäss Studie sind es drei von vier Männern. Dabei kommt jedoch die fachlich spezialisierte Hilfe kaum zum Zuge, und ebenso werden rechtliche Möglichkeiten für verbindliche Zuweisungen marginal ausgeschöpft. Von Nutzungszahlen der FiaZ-Kurse zum Rückerhalt des Fahrausweises können Lernprogramme gegen häusliche Gewalt und die individuelle Gewaltberatung nur träumen. Eine Inverantwortungnahme der Gewaltausübenden sei es auf strafrechtlichem oder auf beraterischem Weg ist aktuell eher als Ausnahme denn als Regel zu bezeichnen. Aus Gewalterfahrung und institutionellen Kontakten erwächst ein Arbeitsberg Die Betroffenenperspektive macht auf einen Sachverhalt aufmerksam, der in dieser Form bisher wenig bekannt ist. Erleidet eine Frau Gewalt in der Beziehung und kommt deswegen mit dem institutionellen Interventions- und Hilfssystem in Kontakt, so ist dies eine Chance für Unterstützung und Veränderung. Es bedeutet aber gleichzeitig, dass auf die meisten Frauen zusätzlich zur erlittenen Gewalt ein riesiger Arbeitsberg wartet im Umgang mit diesen Institutionen. Nur schon die Auszählung, mit wievielen Stellen und Ämtern eine Frau Kontakt hat, ist eindrücklich. Jede vierte Befragte erwähnt 2 5 Stellen, die Hälfte der Frauen redet von 6 9 Stellen, und in jedem vierten Fall sind es sogar 10 16 Stellen. Multipliziert man gedanklich mit einer Anzahl von Kontakten pro Stelle, so ergibt dies viel Austausch, aber auch viel Aufwand. Dies gilt im Übrigen nicht nur für die betroffene Frau, sondern auch für das professionelle Gegenüber, das heisst die mit häuslicher Gewalt konfrontierten Stellen und Ämter. Welches ist die Perspektive betroffener Frauen? Sie möchten wieder «ruhig leben können» und «ein ganz normales Leben» führen. Die Rückkehr dorthin, zu einem ruhigen, normalen Leben, erweist sich als aufwendiger als in der Aussensicht vermutet werden darf. Die gängige Sicht des Dreischritts, ausgehend von ausgeübter Gewalt über die öffentliche Intervention zur Rückkehr in die Normalität ist zu erweitern. Erfahrungen der Interviewten zeichnen ein komplexeres Bild. So dauert der institutionelle Eingriff häufig (viel) länger als gemeinhin angenommen wird und er gestaltet sich wiederholt (viel) komplexer. Ein linearer Weg von der Intervention zur Normalisierung entspricht nicht dem, was Betroffene erleben. Im Modell ist die Interventionsphase in zwei Etappen aufzugliedern: Interventionen in akuten, öffentlich erkannten Gewaltsituationen sowie, nachfolgend, die Bewältigung der 3

Institutionenkontakte und der Folgeprobleme aufgrund der erlittenen Gewalt; wiederholt laufen die beiden Phasen in Mehrfachschlaufen ab. Folgendes zählt zu den wesentlichen Folgeproblemen, die bewältigt werden müssen: Gewalt stoppt nicht, justizielle Folgen und Schritte wie Trennung, Scheidung, Schutzmassnahmen und Strafverfahren, gesundheitliche Folgen, psychische Verarbeitung der Gewalterfahrung, Situation der Kinder, soziale und finanzielle Folgen, Situation von Haus- und Erwerbsarbeit, Wohnsituation, Aufenthaltsstatus. Jede vierte Frau berichtet zum Interviewzeitpunkt, dass sie noch immer unter dem Gewaltverhalten des Mannes leidet. Dazu gehören Kontrollhandlungen, SMS-Terror, Drohungen, Beschimpfungen, Schikanierungen, Verleumdungen, Stalkingverhalten etc. Mehrfach ist auch die Kinderübergabe eine Situation, in der die Frau weitere Gewalt und Drohungen erfährt. Andere Interviewte haben zum Zeitpunkt des Gesprächs zwar Ruhe, leiden jedoch noch immer unter Angst und befürchten, «dass es wieder los geht», zum Beispiel bei Gerichts- oder Scheidungsverhandlungen, bei einer neuen Beziehung oder einem zufälligen Treffen. Auch diese Frauen fühlen sich nicht sicher und nicht geschützt. Insgesamt fühlt sich knapp die Hälfte der Frauen zum Zeitpunkt des Interviews immer noch gefährdet, sei es dass die Gewalthandlungen andauern oder dass Anlass besteht, erneute Gewalt zu befürchten. Zwar nahmen an der Studie nur Frauen teil, deren Kontakte zu den vermittelnden Institutionen einige Monate zuvor abgeschlossen worden war. Gemäss Ergebnissen ist dies nun aber nicht wie angenommen ein verlässlicher Hinweis, dass die Gewalt des Mannes gegen die Frau tatsächlich gestoppt ist. Die Resultate ergeben, dass im Gefüge der heutigen Regelungen, Massnahmen und Umsetzung von Interventionen die Bedrohung der Frau und die Gewalt gegen die Frau oftmals nicht wirkungsvoll beendigt werden. Generell ist feststellbar, dass die Bewältigungsphase länger andauert als allgemein vermutet wird. In der öffentlich-institutionellen Wahrnehmung erhält dies zu wenig Aufmerksamkeit. Der Fokus von Praxis und Politik konzentriert sich auf einzelne Massnahmen in der Akutphase und setzt fälschlicherweise voraus, dass diese Normalität herstellen. Ausser Acht bleibt die Erfahrung von Betroffenen, die eine langwierige Zeit zu bewältigen haben mit deutlicher Mehrbelastung durch institutionelle Kontakte, unterschiedlichen an sie gestellten Ansprüche und verschiedensten Folgeproblemen. Weitere Opfer in anderen Beziehungen desselben Mannes In jedem dritten Interview verdichten sich Hinweise respektive ist bekannt, dass weitere Frauen vom selben Mann ebenfalls häusliche Gewalt erlebt haben oder erleben. Dies bezieht sich sowohl auf frühere Beziehungen des Mannes als auch auf Beziehungen, die er nach der Partnerschaft mit der interviewten Frau eingegangen ist. Die Befragte mitgezählt, sind es in zwei Fällen vier Frauen, die vom selben Mann häusliche Gewalt erfahren haben. Wie die Auswertung zeigt, sind meist mehrere Kinder der verschiedenen Beziehungen mitbetroffen. Für die Lebenslage einer gewaltbetroffenen Frau kann sich also das Vorhandensein einer neuen Partnerin des Mannes als effiziente Lösung entpuppen. Wiederholt wird berichtet, dass sich die Situation mit der neuen Partnerin des Mannes verbessert hat. Auch wird 4

mehrfach der Wunsch geäussert, der Expartner möge eine neue Partnerin finden in der richtigen Annahme, dann werde die Gewalt (endlich) stoppen. In der Aussensicht ist diese Lösung ungleich negativer zu bewerten. Der Rat zur Trennung mag, individuell gesehen, richtig sein, gesellschaftlich betrachtet läuft er auf ein Nullsummenspiel heraus. Es ist eine bestürzende Erkenntnis, dass die Gewalt auch dann oft nicht gestoppt ist, wenn eine bestimmte Frau keine Gewalt mehr erleidet weil eine neue Partnerin wiederum vom selben Mann Gewalt erfährt. Das Ergebnis verdeutlicht mit Nachdruck die Bedeutung und Notwendigkeit effektiver Interventionen, das bedeutet, Gewalt nachhaltig zu stoppen, Tatpersonen zu belangen und Hilfe anzuordnen. Opferhilfe, Frauenhäuser, Polizei und Justiz, Gesundheitswesen, KESB, Migrationsamt, Anwälte und Anwältinnen, Hilfe für Gewaltausübende: In welche Richtung soll die Arbeit weitergehen? Die Studie fördert erfreuliche Verbesserungen und solide Hilfe für Opfer häuslicher Gewalt zutage. Ermutigend ist auch, dass die befragten, gewaltbetroffenen Frauen die grundlegenden Zielsetzungen des Interventionssystems als hilfreich anerkennen. Viele Ergebnisse verweisen indes auf konkrete Lücken und dringliche Aufgaben, die es zu lösen gilt. Die Weiterentwicklung bedarf einer breiten Unterstützung. Angesprochen sind Akteure aus Politik, Behörden und Verwaltung ebenso wie Entscheidungsbefugte aus den Institutionen und last but not least die Praxisfachleute. Zudem gehören die kantonalen Koordinations-, Interventions- und Fachstellen im Bereich Gewalt in Ehe und Partnerschaft sowie der Fachbereich häusliche Gewalt des Bundes zum zentralen Akteurnetz für die Weiterentwicklung und Umsetzung der Interventionen. Es zeichnen sich vier Handlungsfelder mit hoher Relevanz ab. Es ist erstens der Zugang für Gewaltbetroffene zu spezialisierten, professionellen Unterstützungsangeboten zu erleichtern sowie die Versorgung der Zielgruppe durch solche Einrichtungen zu verbessern. Eine schweizweite Helpline zu häuslicher Gewalt mit einem Schwerpunkt auf Partnergewalt vereinfacht den Zugang zu frühzeitiger, niederschwelliger spezialisierter Hilfeleistung im Problembereich. In dieselbe Richtung zielt die Schaffung gesetzlicher Grundlagen für den proaktiven Einsatz der nach dem Opferhilfegesetz tätigen Frauenberatungs- und Opferhilfestellen. Notwendig ist im Weiteren der Ausbau der spezialisierten Einrichtungen für Opfer von Partnergewalt. Dies umfasst sowohl den ambulanten Beratungsbereich, speziell in ländlichen Gebieten, in Kleinzentren grösserer Kantone sowie in Kantonen ohne spezialisierte Beratung für gewaltbetroffene Frauen, wie auch das stationäre Angebot der Frauenhäuser. International empfohlene Bettenzahlen für Frauenhäuser werden in der Schweiz massiv unterschritten und bedenklicherweise kämpfen diese Institutionen noch immer mit Finanzproblemen und interkantonalen Differenzen. Die Studie zeigt, wie zentral und nützlich spezialisierte Hilfe für Gewaltbetroffene ist. Daher sollten die Maximen «für Opfer: spezialisierte Beratung» und «keine Anzeige ohne spezialisierte Beratung» Fuss fassen, und Fachleute aller Provenienz sollten Gewaltbetroffene jedesmal sorgfältig auf die spezialisierte Beratung sowie auf die Institution Frauenhaus hinweisen und zur Inanspruchnahme motivieren. 5

Eine solchermassen verbesserte Versorgung ist im Sinne der sekundären Gewaltprävention (Verhinderung weiterer Gewalt) essentiell und unseres Erachtens gleich hoch oder sogar höher zu gewichten als der Ausbau des Sicherheitsmanagements für sogenannt besonders bedrohte Opfer. Das spezialisierte Grundangebot im ambulanten und stationären Bereich ermöglicht frühzeitige Hilfe für alle Betroffenen von Gewalt in Ehe und Partnerschaft. Zweitens gilt es, die systematischen Schwächen des Interventionssystems in der Auseinandersetzung mit gewaltausübenden Männern zu überwinden. Es ist vordringlich, dass die polizeilichen und justiziellen Organe gewaltausübende Personen konsequent einbeziehen, ansprechen, aufgrund der gesetzlichen Möglichkeiten für unrechtes Tun belangen und angedrohte Sanktionen bei Missachtung durchsetzen. Nicht zuletzt würde dies gewaltbetroffene Partnerinnen entlasten. Sodann ist das spezialisierte Hilfs- und Beratungsangebote für gewaltausübende Männer auszubauen, vor allem aber ist es unerlässlich und angezeigt, dass dieser Akteur sehr viel häufiger eingesetzt wird. Die sträfliche Vernachlässigung dieser in Ansätzen seit Jahren vorhandenen Strukturen sollte sich ins Gegenteil verkehren. Einblicke in gruppenbasierte Angebote, zum Beispiel ins Lernprogramm gegen häusliche Gewalt der Kantone Basel-Landschaft und Basel-Stadt (das Lernprogramm wird bereits seit dem Jahr 2000 in wöchentlichen Gruppentrainings praktiziert, ein gemischtgeschlechtliches Team leitet die Männer zu gewaltfreiem Handeln an), verweisen eindrücklich auf ein grosses Potenzial: für die teilnehmenden Männer (sie schätzen die Auseinandersetzung in der Gruppe mit dem Thema, mit der eigenen Biographie und der Männerrolle, und sie profitieren von den Möglichkeiten gewaltfreier Konfliktlösungen) wie für die Partnerinnen und die Kinder. Für justizielle Behörden und weitere Institutionen mit Weisungskompetenz wie die KESB oder das Migrationsamt muss eine Klärung erfolgen, in welchen Fällen verpflichtende Zuweisungen zu spezialisierten Lernprogrammen erfolgen können respektive erfolgen sollen. Mit einer effektiven Inverantwortungnahme gewaltausübender Männer, das heisst, mit einer wirksamen Umsetzung der Offizialisierung von Gewaltdelikten in Ehe und Partnerschaft sind im Zielbereich 'Gewalt stoppen' und 'Inverantwortungnahme' nochmals grosse, positive Veränderungen erreichbar. Die Schaffung eines schweizweiten, spezialisierten Hilfeangebots für gewaltausübende Männer stellt dabei eine notwendige Begleitmassnahme dar. Weitere Schritte in diesem Zielbereich verbessern sowohl die Lebensqualität beider Geschlechter wie auch der mitbetroffenen Kinder. Ein dritter Handlungsbereich betrifft die Grundkenntnisse und das Problembewusstsein der Berufsleute und Institutionen. Das Thema häusliche Gewalt, speziell Gewalt gegen Frauen in der Partnerschaft, ist angemessen in entsprechende Aus- und Weiterbildung der verschiedenen Berufsfelder zu integrieren. Viertens stellt die Studie für die einzelnen untersuchten Institutionen eine Anzahl konkreter Empfehlungen zur Verfügung. Sie sind aus der Analyse der Erfahrungen der gewaltbetroffenen Frauen hervorgegangen und sprechen vor allem die Verantwortlichen der Leitungsebenen der Institutionen an. Damit verknüpft sich die Absicht, konstruktiv zu den weiteren Entwicklungen dieser notwendigen und hilfreichen Stellen beizutragen. Dass 6

Fachleute, Stellen und Ämter im Bereich Gewalt in Ehe und Partnerschaft heute viel wertvolle Hilfe leisten, unterstreicht die im Titel zitierte Aussage einer interviewten Frau: «Ohne den Mut, bei der Opferhilfe anzurufen, wäre ich heute nicht da, wo ich bin». Information zur Studie Kontakt Social Insight Forschung, Evaluation und Beratung Daniela Gloor und Hanna Meier, Soziologinnen, Dr. phil. Unterdorfstrasse 18 CH-5107 Schinznach-Dorf Tel. +41 56 443 15 14 sociology@socialinsight.ch Finanzierung der Untersuchung Die Untersuchung wurde im Rahmen des NFP 60 «Gleichstellung der Geschlechter» erstellt. Sie wurde durch den Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Forschungsbericht und Bezugsquelle Gloor Daniela, Meier Hanna (2014): «Der Polizist ist mein Engel gewesen.» Sicht gewaltbetroffener Frauen auf institutionelle Interventionen bei Gewalt in Ehe und Partnerschaft. Projekt NFP-60, Schlussbericht. Der Forschungsbericht kann heruntergeladen werden unter: www.socialinsight.ch 7