Können wir noch miteinander reden? Während der letzten Jahrzehnte hat die Kommunikation über Fernsehen, Internet und das allzeit präsente Handy in einem schier unüberschaubaren Ausmaß zugenommen; über die sozialen Netzwerke wie Facebook, Twitter und ähnliche ist eine Vernetzung entstanden, die einen fast zeitgleichen Kontakt der Menschen in allen Teilen der Welt ermöglicht. Trotzdem herrscht ganz allgemein der Eindruck, dass die Menschen sich nicht mehr miteinander verständigen können. Angehörige verschiedener Nationen, die in unterschiedlichen ökonomischen, religiösen und politischen Systemen leben, sind kaum fähig, miteinander zu kommunizieren, ohne dass es zu ernsten Auseinandersetzungen kommt (vgl. Bohm, 2011). Das setzt sich nach unten hin bis in unsere Familien fort, wo die Kluft zwischen Alt und Jung immer größer- und das Zusammenleben immer schwieriger wird. Man kann den Eindruck gewinnen, dass mit der Zunahme der Kommunikationsmöglichkeiten, die Qualität des einzelnen Kommunikationsaktes gleichermaßen abnimmt. Was also tun? Wie können Menschen respektvoll miteinander umgehen und vertrauensvoll im Gespräch ihre Standpunkte austauschen und erweitern? Die Antwort heißt Dialog und ist eine von vielen möglichen Gesprächsformen. Was ist ein Dialog? Um das Wesen des Dialoges herauszuarbeiten, ist es hilfreich, den Dialog mit der Diskussion zu vergleichen. Wir brauchen beide Gesprächsformen, denn manchmal ist es sinnvoll mit anderen zu diskutieren, manchmal ist gemeinsames Denken im Dialog unverzichtbar. Diskussion stammt aus dem Lateinischen discutere und bedeutet wörtlich zerschlagen, zerlegen. Man vertritt einen Standpunkt und während man den darlegt, überlegt das Gegenüber schon Argumente, die dagegen sprechen. Unter den Gesprächsteilnehmern herrscht Konkurrenz und tendenziell ein Entweder-oder-Denken. Das Ziel der Diskussion ist die Durchsetzung des eigenen Standpunktes, ist Abschluss und Endgültigkeit. Eine hoch formalisierte Form der Diskussion ist die Debatte im Parlament; das Ergebnis ist auf Grund der politischen Kräfteverhältnisse meist vor Beginn der Debatte bereits festgelegt. Im Gegensatz zur Diskussion geht es beim Dialog um ein gemeinsames Denken, um ein reflektierendes Erkunden und schließlich um ein Finden neuer Möglichkeiten. Es herrscht ein Miteinander und nicht ein Gegeneinander. Das Wort Dialog stammt vom griechischen dia = durch, hindurch und logos, was mit Wort oder Bedeutung übersetzt werden kann. Ein Dialog ist damit ein Bedeutungsfluß durch die Worte (Isaacs, 2011).
Neben der Bezogenheit von zwei oder mehreren Gesprächspartnern bedeutet Dialog im Wortsinne, etwas gründlich zu besprechen. Als Urheber der westlichen Dialogkultur werden die antiken griechischen Philosophen Sokrates und Platon angesehen. Platon gehört zu jenen, die das Selbst als eine soziale Konstruktion gesehen haben. Das ist eine Sichtweise, die heute im Sozialen Konstruktionismus wieder besondere Geltung erlangt. In seinen frühen Texten beschrieb Platon vor allem Sokrates als Geburtshelfer des Denkens, der seine Gesprächspartner durch Fragen darin unterstützte, im Dialog die Wahrheit zum Vorschein zu bringen. Das Suchen ist dabei wichtiger als das Finden, selbständiges Denken wichtiger als die Anhäufung von Wissen. Der Sokratische Dialog schlägt sich heute noch z.b. im entdeckenden Lernen und in der Psychotherapie nieder. Die Blütezeit der antiken griechischen Wissenschaft und Kunst lag in der gleichen Phase der Klassik, in der die Bürgerversammlungen in einer dialogischen Weise abgehalten wurden. Diese Zeit wird vielfach als Wiege unserer Demokratie angesehen. Im 20. Jahrhundert sind es vor allem drei Wissenschaftler, die sich um den Dialog verdient gemacht haben. Der in Wien geborene jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878-1965) hat in seiner 1923 erschienenen Schrift Ich und Du erstmals sein Im Anfang war Beziehung formuliert und damit auf die menschliche Gegenseitigkeit hingewiesen. Geist, so schreibt Buber ist nicht im Ich, sondern zwischen Ich und Du. Folgt man Bubers Überlegungen, dann setzt ein Dialog als ein wahrhaftiges Gespräch voraus, dass der Andere als ein (mir gleichwertiges) anderes Ich und nicht als ein Es gesehen wird. Als ewiges Du versteht Buber die menschliche Beziehung zu Gott. Noch einmal: das Entscheidende im zwischenmenschlichen Dialog nach Martin Buber ist nicht das Du oder Ich, sondern das, was zwischen diesen beiden geschieht. Der US-amerikanische Quantenphysiker David Bohm (1917-1992) hat seinen dialogischen Ansatz im regen Austausch mit dem indischen Philosophen und spirituellen Lehrer Jiddu Krishnamurti entwickelt. Bohm geht davon aus, dass die meisten Annahmen, die wir vertreten, aus einem Reservoir aus kulturell erworbenen Übereinkünften stammen, die wir unreflektiert weitergeben. Dieses unreflektierte Wissen bestimmt weitgehend unsere Überzeugungen und unser Verhalten. Dadurch, dass der Dialog eine neue Aufmerksamkeit fördert, bei der auch innere Vorannahmen bewusst gemacht und reflektiert werden, können diese auch verändert werden. William Isaacs unterrichtet an der Sloan School of Management am MIT (Universität in Cambridge, USA) und hat in den letzten 20 Jahren als Berater internationaler Unternehmen, in Forschung und Lehre intensiv an der Entwicklung und Anwendung des Dialoges gearbeitet. Isaacs nimmt in seinen Schriften ausdrücklich Bezug auf die Darlegungen von David Bohm, mit dem er Anfang der 80er Jahre zusammengearbeitet hat (Isaacs, 2011:30). Die genannten Denkansätze sind die wesentlichen Unterlagen, auf die im Folgenden Bezug genommen wird. Daneben gibt es dialogische Ansätze in fast allen Kulturen; erwähnt sei noch
der dialogische Ansatz des russischen Literaturwissenschaftlers Michael Bachtin (1895-1975), der die Idee der Polyphonie, der Vielstimmigkeit in den Romanen des russischen Schriftstellers Fjodor Dostojewski entdeckt hat. Später hat er diese Idee aufgegriffen, um die Dialogik als wissenschaftstheoretischen Standpunkt zu beschreiben. Alltagspraktisch gesehen ist ein Dialog ein zwischen zwei oder mehreren Personen geführtes Gespräch, bei dem alle Teilnehmer zu Wort kommen. Alle Beiträge werden gleichermaßen wertgeschätzt, können und sollen aber auch hinterfragt werden, um Gesichtspunkte zu erweitern und neue Erkenntnisse zu gewinnen. Es geht dabei nicht darum, etwas zu wissen, sondern einen Prozess des miteinander Denkens in Gang zu setzen und dadurch über die Grenzen des individuellen Verstehens hinaus zu kommen. Dazu werden auch die gedanklichen Vor-Annahmen hinterfragt, die hinter den Äußerungen der einzelnen Teilnehmer stehen. Damit dies möglich wird, ist eine Haltung von Respekt und gegenseitiges Vertrauen unbedingte Voraussetzung. Jede Stimme im Dialog ist gleichwertig. Daraus folgt, dass es im Dialog keine Autoritäten gibt und keine Experten. Das macht den Dialog schwierig, vor allem wenn unter den Teilnehmern unterschiedliche hierarchische Verhältnisse bestehen. Am problematischsten sind dabei unbewusst mitschwingende gesellschaftliche Machtverhältnisse (Mann-Frau, Lehrer-Schüler, Eltern-Kinder) die praktisch immer gegeben sind (Foucault, 1980). In 6 Schritten zum Dialog (in Anlehnung an ISAACS, 1999) 1. Willen zum Dialog entwickeln und eine innere dialogische Haltung einnehmen Frage: Welches persönliche Anliegen bzw. Bedürfnis steckt hinter der Absicht einen Dialog zu führen? (z.b. Bedürfnis nach Ruhe). Welche Qualität hat Ihre Absicht? (Eine dialogische Haltung lässt sich nicht von heute auf morgen entwickeln, es erfordert einen langen Atem ). 2. Den Anderen respektieren, die eigene Macht suspendieren Respekt ist das Resultat eines An-sich-selbst-Arbeitens. Gefühle von Respekt kommen auf, wenn wir bereit sind, unsere spontanen, negativen Urteile anzuzweifeln und bereit sind, uns >in die Schuhe des anderen< zu stellen, also die Dinge aus seiner oder ihrer Perspektive zu sehen (Omer/v. Schlippe, 2004:174). Für jede zwischenmenschliche Begegnung ist die Frage wechselseitiger Beeinflussung und damit von Macht ein Thema. Macht ist am mächtigsten, wo sie unsichtbar, unerkannt und unbewusst wirkt (Jansen, 2003:4). Wenn der Dialog gelingen soll, dann ist es wichtig, sich der eigenen Macht bewusst zu werden und auf ihren Einsatz ganz bewusst zu verzichten. Zwischen den Dialogteilnehmern muss strukturelle Ebenbürtigkeit hergestellt werden. Eine solche Ebenbürtigkeit kann erreicht werden, wenn dem Gegenüber in der Kommunikation ein systematischer Vorrang eingeräumt wird. Die Ebenbürtigkeit kann auch durch eine Sitzordnung im Kreis, wo jeder jeden sieht, und niemand bevorzugt wird, zum Ausdruck gebracht werden. 3. Stille bewahren und Abstand gewinnen Wenn man innerlich still wird und den Lärm im eigenen Kopf zum Schweigen bringt, öffnet man sich der Gegenwart. Unsere Gedanken sind üblicherweise hauptsächlich mit der Vergangenheit
oder der Zukunft beschäftigt. Der Dialog findet demgegenüber vorzugsweise im Hier und Jetzt statt. Deshalb, höre auf das, was aus der Stille in Dir auftaucht und versuche, seine Bedeutung zu verstehen! 4. Aktiv zuhören, Hinhören Das Medium für das Hören sind die Schallwellen, die sich mit ca. 550 m/sec. fortbewegen. Unsere heutige Kultur ist aber ganz stark von Bildern beherrscht (Fernsehen, Videotelefonie, PC). Und die Substanz des Sehens ist das Licht (300.000 km/sec.). Zuhören erfordert also zuerst einmal die Verlangsamung der Funktionen von der Licht- zur Schallgeschwindigkeit Isaacs, 2011). Dann geht darum, auf das zu hören was gesagt wird, aber auch auf Ton und Melodie der Stimme und die Körperhaltung des Gegenübers zu achten. Eine solche Achtsamkeit liefert ungeheuer viele Informationen über das Gegenüber, seine Lebenseinstellung und seine Absichten. Zuhören bedeutet aber nicht nur auf den anderen zu hören, sondern auch in sich hinein zu hören und wahrzunehmen, was da auftaucht: Was fühle ich jetzt? Wie fühlt sich das an? In sich hinein zu hören führt zur Erkenntnis, dass ein großer Teil der eigenen Reaktionen auf andere aus dem Gedächtnis kommt. Es sind keine frischen, sondern gespeicherte Reaktionen. Es sind Vorannahmen (Meinungen) die wir haben, und die wiederum sind das Ergebnis der Gedanken, die wir einmal gedacht haben und sämtlicher Erfahrungen, die wir im Laufe unseres Lebens gemacht haben. Diese Vorannahmen können wir aber auch von anderen übernommen haben, indem wir etwas gehört oder gelesen haben womit wir uns identifiziert haben. Diese Anderen können unsere Eltern oder Lehrer, eine Kirche oder Partei gewesen sein, die uns diese Meinungen einst vermittelt haben und die wir vielfach unbewusst und unüberprüft übernommen und in unser Gedächtnis eingespeichert haben. Und heute sind das unsere Wahrheiten, mit denen wir uns identifizieren und die wir in Diskussionen verteidigen oder für die wir anderen die Köpfe einschlagen oder selbst das Leben lassen. Wenn wir es schaffen, die eigenen Denkprozesse wahrzunehmen, dann führt dies dazu, dass ein Transformationsprozess in Gang kommt der uns verändern wird. 5. Eigene Vorannahmen in der Schwebe halten und sich in die Schuhe des anderen stellen Das eigene Denken zu beobachten ist nicht ganz leicht. Das Denken bewirkt etwas, sagt aber, ich war s nicht (Bohm, 2011:39). Das Denken schafft Bedrohungen, bringt die eigene Familie, Nation und Religion hervor und gibt dem eine so große Bedeutung, dass dafür sogar der Selbsterhaltungstrieb außer Kraft gesetzt wird. Dem Denken auf den Grund zu gehen ist daher enorm wichtig und sollte geübt werden. Dazu ist der Dialog in der Gruppe ausgezeichnet geeignet. Wir brauchen dabei gute Fragen dringender als gute Antworten. Isaacs empfiehlt, sich zu fragen: * Warum bin ich mir so verdammt sicher? * Was lässt mich so intensiv daran festzuhalten? * Was gewinne ich dabei? * Was passiert, wenn ich loslasse? (Isaacs, 2011:131, 132) 6. Artikulieren Einer der schwierigsten Aufgaben eines Dialoges besteht darin, unabhängig von anderen Einflüssen die eigene Meinung auszusprechen. Dazu muss man imstande sein, auf sich selbst zu hören und zum Ausdruck zu bringen, was aus dem Inneren aufsteigt und zu ignorieren, wie man
sich in den Augen anderer zu verhalten hätte. Das erfordert Mut! Es erfordert Mut neue, vielleicht noch unfertige Gedanken auszudrücken und auch Mut, eine abweichende Meinung auszusprechen. Andererseits: Es gibt nichts Schlimmeres, als ohne Antwort zu bleiben. Was den Dialog verhindert Festhalten an einer Wahrheit Andere Sichtweisen ausgrenzen (z.b. mit der Äußerung: So ein Blödsinn! ) Andere beschuldigen Schweigend abwesend sein Intrigieren und Manipulieren Einschüchterung und Machtmissbrauch In Anlehnung an die finnischen Wissenschaftler Jaakko Seikkula und Tom Erik Arnkil (2007) sollen zum Schluss folgende Empfehlungen für einen gelingenden Dialog gegeben werden: Authentisch auftreten und Ängste minimieren Zeigen eines wirklichen Interesses an den Äußerungen jeder Person Raum für Emotionen Aushalten von Pausen Unerschrockenes Nachfragen Das eigene Anliegen deutlich machen und in der Ich-Form sprechen Zusammenfassend: Dialog ist mehr als nur eine Gesprächsmethode, es ist eine Lebenshaltung, mit der Möglichkeit, Neues in die Welt bringen. Wenn Sie Ihr Leben bewusster wahrnehmen möchten, wenn Sie die Gesprächsbasis zu Ihrem Partner, Ihren Kindern und Ihrem sonstigen sozialen Umfeld vertiefen und verbessern möchten, und nicht zuletzt, wenn Sie einen Beitrag für eine bessere Welt leisten möchten, dann lade ich Sie ein, sich um eine dialogische Haltung zu bemühen.
Literaturverzeichnis Bohm, David (2011): Der Dialog. Das offene Gespräch am Ende der Diskussionen. 6. Aufl. Stuttgart: Klett-Cotta. Buber, Martin (1983): Ich und du. 11. durchges. Aufl. Heidelberg: L. Schneider. Isaacs, William (2002): Dialog als Kunst, gemeinsam zu denken. Die neue Kommunikationskultur in Organisationen. Bergisch Gladbach: EHP (EHP Organisation). Omer, Haim; Schlippe, Arist von (2004): Autorität durch Beziehung. Die Praxis des gewaltlosen Widerstands in der Erziehung. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht. Scharmer, Claus Otto (2009): Theorie U - von der Zukunft her führen. [Öffnung des Denkens, Öffnung des Fühlens, Öffnung des Willens ; Presencing als soziale Technik]. 1. Aufl. Heidelberg: Carl-Auer-Systeme (Management). Online verfügbar unter http://www.socialnet.de/rezensionen/isbn.php?isbn=978-3-89670-679-9. Seikkula, Jaakko; Arnkil, Tom Erik (2007): Dialoge im Netzwerk. Neue Beratungskonzepte für die psychosoziale Praxis. Neumünster: Paranus-Verl. (Paranus goes Wissenschaft). Stavemann, Harlich H. (2002): Sokratische Gesprächsführung in Therapie und Beratung. Eine Anleitung für Psychotherapeuten, Berater und Seelsorger. 1. Aufl. Weinheim: Beltz PVU.