Gisela Petersen Mitarbeiterin im Sozialpädagogischen Institut für Kleinkind- und außerschulische Erziehung des Landes Nordrhein-Westfalen in Köln. Erfahrungen mit altersgemischten Gruppen in NRW "Werden denn die älteren Kinder nicht unter- und die kleinen nicht überfordert?" - "Wie kann ein Tagesablauf aussehen, der den unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen der Kinder gerecht wird?" - "Ist es für einen Säugling nicht zu unruhig in einer solchen Gruppe?" - Solche und ähnliche Bedenken und Fragen werden häufig geäußert, wenn Erzieherinnen oder Eltern zum erstenmal einer Form der Tagesbetreuung begegnen, die in Nordrhein-Westfalen (NRW) schon seit über 20 Jahren praktiziert wird: die altersgemischte Gruppe für Kinder vom Säuglingsalter bis zum Schuleintritt. Fünfzehn Kinder, davon höchstens sieben unter drei Jahren, leben in einer solchen Gruppe zusammen. Betreut werden sie von drei Erziehungskräften: einer Erzieherin/Sozialpädagogin als Gruppenleitung, einer Kinderkrankenschwester (ersatzweise einer weiteren Erzieherin) und einer Hilfskraft. Die altersgemischten Gruppen befinden sich in NRW zumeist zusammen mit Kindergarten- und Hortgruppen in kombinierten Tageseinrichtungen. (...) Vorteile In einer altersgemischten Gruppe wachsen die Kinder auf natürliche Weise in immer neue Rollen hinein. Die Gruppenstruktur bleibt variabler, d.h. es kommt seltener als in altershomogenen Gruppen zu rigiden Rangordnungen oder verfestigten Außenseiterpositionen. Aber das sind längst nicht alle Vorteile einer derart zusammengesetzten Kindergruppe. Ausführlicheres zur Begründung findet sich in dem vorherigen Artikel von P. Erath. Voraussetzungen Wie die Erfahrungen aber auch zeigen, ist die Altersmischung allein kein Patentrezept, um in Tageseinrichtungen einen für Säuglinge, Kleinst- und Kleinkinder gleichermaßen günstigen Lebens- und Erfahrungsraum zu schaffen. Vielmehr hängt es wesentlich von bestimmten Voraussetzungen ab, ob die Chancen für die Entwicklung der Kinder auch in positiver Weise verwirklicht werden können. Entscheidend sind: Zunächst die Rahmenbedingungen; hierbei ist vor allem eine ausgewogene Altersstruktur in der Gruppe wichtig, des weiteren eine ausreichende personelle Besetzung sowie ein Raumprogramm, das neben Garderobe und Sanitärbereich einen geräumigen Gruppenraum und mindestens noch zwei weitere, mit letzterem verbundene Räume umfasst. Ferner ist entscheidend eine pädagogische Arbeitsweise, die sich an der spezifischen Gruppensituation orientiert. Es geht darum, die entwicklungstypischen wie auch die individuellen Bedürfnisse und Fähigkeiten der verschiedenaltrigen
Kinder wahrzunehmen und zu berücksichtigen und zugleich die besonderen Chancen, die das Zusammenleben von jüngeren und älteren Kindern bietet, für wechselseitige Lern- und Erfahrungsprozesse zu nutzen. Praxisbeispiele Wie sieht nun konkret das Miteinanderleben von großen und kleinen Kindern in einer altersgemischten Gruppe für Kinder von 4, 4 bis 6 Jahren aus und wie kann der Tagesablauf so gestaltet werden, dass er allen Kindern gerecht wird? Ein Beispiel: Die Kindertagesstätte A liegt in einem Hochhauswohngebiet und umfasst eine altersgemischte, zwei Tagesstätten- und zwei Hortgruppen. Geöffnet ist die Einrichtung von 7.00 bis 17.00 Uhr. Wenn in der altersgemischten Gruppe kurz nach 7.00 Uhr die ersten Kinder eintreffen, werden sie und ihre Eltern von einer der drei Mitarbeiterinnen begrüßt. Der Dienstbeginn der Erziehungskräfte ist so gestaffelt, dass die Kinder auch im Früh- und Spätdienst in den eigenen Gruppenräumen und von den vertrauten Bezugspersonen betreut werden. Ruhige Aktivitäten wie ein Bilderbuch in der Kuschelecke ansehen, die Fische im Aquarium füttern oder mit Vorbereitungen für das Frühstück beginnen, bestimmen zumeist den Tagesbeginn. Gerade in dieser Zeit spielen die Älteren auch besonders gern mit dem sieben Monate alten Säugling in der mit Polstern ausgelegten 'Babyecke'. Bis 8.45 Uhr treffen dann nach und nach alle Kinder ein. Viele gehen sofort zum Frühstückstisch, der in einer gemütlichen Ecke bis 9.30 Uhr gedeckt bleibt. Das Frühstück wird jeden Tag von den Erzieherinnen und den Kindern gemeinsam in der Gruppe zubereitet. Die Eltern tragen mit Nahrungsmitteln, die sie nach Absprache mit den Mitarbeiterinnen mitbringen, dazu bei. Die Erzieherinnen frühstücken mit den Kindern. Die im Verlauf der gleitenden Frühstückszeit entstehenden Tischgemeinschaften weisen zumeist eine breite Altersspanne auf. Wenn aber gelegentlich einmal die Großen unter sich sein wollen, wird dies seitens der Erzieherinnen akzeptiert und ermöglicht. Die älteren Kinder helfen den jüngeren erfahrungsgemäß gern beim Brot schmieren, Getränke eingießen etc. Den größten Teil des Vormittags gehen die Kinder dann allein, zu zweit oder in Kleingruppen selbstgewählten Aktivitäten nach. Dabei ergeben sich vielfältige Kontakte zwischen den verschiedenaltrigen Kindern: die jüngeren werden in Rollenspiele einbezogen, sie beobachten die Aktivitäten der älteren, größere Kinder spielen mit jüngeren. Die älteren Kinder ziehen sich zwischendurch aber auch einmal in die Nebenräume zurück, z. B. zum Bauen oder für Gesellschaftsspiele, oder sie treffen sich mit gleichaltrigen aus Tagesstättengruppen in einem für gruppenübergreifende Begegnungen eingerichteten Flurbereich. Die Erzieherinnen führen im Verlauf des Vormittags verschiedene Angebote mit einzelnen Kindern oder Kleingruppen durch, wobei zumeist der Einbezug von Kindern unterschiedlicher Altersstufen ermöglicht wird. So übernehmen z.b. die Jüngeren beim Backen oder Kochen das Rühren oder Auspinseln, die Älteren wiegen und schneiden Obst und Gemüse. Zwischendurch richten die Erzieherinnen ihre Angebote aber auch gezielt an Kinder bestimmter Entwicklungsstufen, um z. B. die jüngeren einmal unbeeinflusst vom Vorbild der älteren mit Fingerfarbe malen oder
mit Kleister matschen zu lassen bzw. um mit den älteren ungestört ein Bilderbuch anzusehen, mit Werkzeug etwas zu bauen, die Polizei, die Grundschule zu besuchen, dies z. T. auch gemeinsam mit gleichaltrigen aus den Kindertagesstättengruppen. Je nach Situation und Bedürfnissen der Kinder werden auch Bewegungs-, Tanz- und Kreisspiele in den Tagesablauf einbezogen, wobei häufig die gesamte Gruppe beteiligt ist. Die Säuglinge sind bei vielen Aktivitäten auf dem Schoß der Erzieherin dabei oder sie spielen mit einem Erwachsenen/anderen Kindern in der Babyecke. Sobald sie krabbeln können, bewegen sie sich frei im Raum. Nach individuellem Bedarf werden sie im Verlauf des Vormittags von der Erzieherin, die ihre Hauptbezugsperson ist, gewickelt und schlafen gelegt. Die letzten ein bis zwei Stunden vor dem Mittagessen verbringen die Kinder in der Regel im Freigelände der Einrichtung oder bei Spaziergängen. Auch hier kommt es durch das alle Altersstufen ansprechende Materialangebot (z.b. Sand, Wasser, Kreide zum großflächigen Malen, einfache Gartengeräte) bzw. durch Anregungen der Erzieherinnen - Kreisspiele, Abdrücke mit Händen und Füßen auf große Papierbahnen machen, matschen, Gestalten mit Pappmaché oder Ton zu vielfältigen spontanen Kontakten unter den verschiedenaltrigen Kindern. Das Mittagessen ist im Gegensatz zum freien Frühstück eine gemeinsame Mahlzeit aller Kinder und Erzieherinnen. Nur der Säugling wird solange vorher gefüttert, bis sich sein Mahlzeitenrhythmus dem der Gruppe angeglichen hat. Er sitzt aber im Hochstuhl oder auf dem Schoß der Erzieherin beim gemeinsamen Essen dabei. Die Erfahrungen zeigen, dass die jüngeren Kinder schon früh am Vorbild der älteren lernen, mit Besteck umzugehen. Die Mittagszeit ist für alle Kinder eine Ruhezeit im Tagesablauf. Etwa die Hälfte der Kinder schläft in den beiden Nebenräumen, wobei nicht das Alter, sondern das individuelle Schlafbedürfnis maßgeblich ist. Dabei wird auch die Kuschelecke zum Schlafen mitgenutzt. Die übrigen Kinder gehen im Gruppenraum auf dem Flur ruhigen Aktivitäten nach. Einige helfen auch in der Küche beim Abwaschen. Die beiden jüngsten Kinder der Gruppe sind in der Regel über Mittag wach, da ihre Schlafenszeit noch am späten Vormittag liegt. Die älteren Kinder spielen während der Mittagszeit gern und viel mit ihnen. Die Schlafenszeit erstreckt sich, je nach individuellem Schlafbedürfnis der Kinder, bis etwa 14.30 Uhr. Nach einer kleinen Zwischenmahlzeit, die in der Regel gleitend, gelegentlich aber auch gemeinsam eingenommen wird, gehen die Kinder - je nach Witterung - drinnen oder draußen selbstgewählten Aktivitäten nach oder sie nehmen an einem Angebot der Erzieherin teil. Da mehrere Kinder nach der Schlafenszeit abgeholt werden, ermöglicht der Nachmittag eine intensivere Zuwendung zu einzelnen Kindern. Für sehr bedeutsam erachten die Erzieherinnen die Tür-und-Angel-Gespräche mit den Eltern beim Abholen der Kinder. Einige Eltern wickeln ihre Kinder auch noch selbst in der Einrichtung, um einen allmählichen Übergang zu schaffen. Etwa vierzehntägig können die Eltern beim Abholen noch mit ihren Kindern/den Erziehern an einem dafür hergerichteten Tisch Kaffee trinken bzw. es schließt sich ein Spielnachmittag für Eltern und Kinder an.
Anforderungen Wie dieses Praxisbeispiel zeigt, ist seitens der Erzieherinnen eine sehr differenzierte und flexible Arbeitsweise notwendig, um allen Kindern, ihren Bedürfnissen und ihrem Entwicklungsstand entsprechend, gerecht zu werden. Der Tagesablauf darf nicht starr sein und sollte den Kindern vielfältige Möglichkeiten zur Begegnung und zum gemeinsamen Tun bieten. Für eine positive Hinwendung zu den jüngeren Kindern hat es sich aber als wichtig erwiesen, dass die älteren zwischendurch auch einmal unter sich sein können. Bedeutsam ist deshalb gerade in einer altersgemischten Gruppe die Raumgestaltung. Durch eine überschaubare Gliederung in Ecken und Spielbereiche und den Einbezug von Fluren, Schlaf- und Waschräumen sollten unterschiedliche Aktivitäten wie auch Ruhe und Rückzug ermöglicht werden. (Diesen Aufsatz von Gisela Petersen haben wir, leicht gekürzt, aus Theorie und Praxis der Sozialpädagogik (TPS); Luther-Verlag Bielefeld, Heft 3 91 mit freundlicher Genehmigung des Verlages übernommen.)