Warum leisten Menschen Freiwilligenarbeit? Mit welcher Motivation? Welche Formen der Anerkennung sind erwünscht? Den folgenden Artikel des Psychotherapeuten Jürg Bichsel stellte das centre de sornetan aus der französischen Wegleitung zum Kirchensonntag zur Verfügung. Besten Dank! Bedürfnis nach Anerkennung Anerkennung von Bedürfnissen Jürg Bichsel, Psychotherapeut, Reconvilier Definition Der Begriff «Bedürfnis» ist nicht leicht zu erklären Lernende, die ich auffordere, den Begriff «Bedürfnis» zu erklären, geben nicht selten Antworten in der Art «Ein Bedürfnis, das ist das, was man benötigt, um» Früher hatte das Wort Bedürfnis 1 die Bedeutung «Mangel / Wunsch, einem Mangel abzuhelfen». Ein Bedürfnis äussert sich beim Menschen als Empfinden eines Mangels oder eines Verlustes, als Unzufriedenheit, welche ihn dazu bringt, Handlungen auszuführen, die als notwendig, ja unabdingbar angesehen werden. Ziel ist es, dieses Mangel-Empfinden zu beseitigen oder, mit anderen Worten, das Bedürfnis zu befriedigen. Klassifizierung Verschiedene Autorinnen und Autoren haben versucht, die menschlichen Bedürfnisse zu klassifizieren, z.b. nach: primären oder physiologischen Bedürfnissen (atmen, essen, schlafen ); sekundären Bedürfnissen, die eine qualitative und psychologische Dimension aufweisen und deren Befriedigung nicht überlebenswichtig ist (resp. der Mode folgt); fundamentalen Bedürfnissen; dem Bedürfnis zu existieren, zu philosophieren und sich existenzielle Fragen zu stellen (als einzigartiges Individuum anerkannt zu werden). 1 Im Französischen wird «besoin» etymologisch aus dem fränkischen Wort «bisunni» hergeleitet, was soviel bedeutet wie «soin» (Pflege, Sorgfalt), aber auch «besoin» (Bedürfnis) [Anm. d. Ü.].
Abraham Maslow hat 1943 einen Aufsatz zur menschlichen Motivation geschrieben und darin folgende Bedürfnisse ausgemacht: Selbstverwirklichung Wertschätzung Soziale Bedürfnisse Sicherheit Physiologische Bedürfnisse Die Motivation wurde in Form einer Pyramide dargestellt, um der hierarchischen Ausrichtung der Bedürfnisse Rechnung zu tragen. Für Maslow sind Bedürfnisse tatsächlich hierarchisch geordnet, d.h. wir versuchen zunächst, die Bedürfnisse auf einem gegebenen Niveau zu befriedigen, bevor wir daran gehen, die Bedürfnisse auf dem nächsthöheren Niveau zu befriedigen. Wenn beispielsweise unser Überleben (physiologische Bedürfnisse) in Gefahr ist, sind wir bereit, Risiken einzugehen (Sicherheit). Das ist in diesem Fall eine Frage der Priorität, der Hierarchie. Andererseits wird es schwierig sein, sich zu entspannen (Selbstverwirklichung), wenn unsere Sicherheit nicht garantiert ist Marshall Rosenberg hat eine Einteilung vorgeschlagen, welche insbesondere die Bedürfnisse nach Selbständigkeit, Zugehörigkeit und gemeinsamem spirituellem Erleben umfasst. Bedürfnis nach Anerkennung Das Bedürfnis nach Anerkennung gehört zu den Grundbedürfnissen, die es uns überhaupt ermöglichen zu existieren. Dieses Bedürfnis ist eng mit dem Maslow schen Bedürfnis nach Wertschätzung verknüpft. Die Transaktionsanalyse hat sich eingehend mit diesem als «Strokes» bezeichneten Durst nach Aufmerksamkeit und Anerkennung befasst. «Strokes» könnte man als «Liebkosungs- Einheiten oder -rationen» übersetzen. In seinen Forschungen weist René Spitz darauf hin, dass Kinder für ihre physische und psychische Entwicklung auf Körperkontakt angewiesen sind. Diesem «Durst nach Körperkontakt» weist er dieselbe Überlebenswichtigkeit zu wie dem Hunger nach Nahrung. Weil wir durch soziale Normen konditioniert werden, kann das Bedürfnis nach Körperkontakt im Verlauf unserer Entwicklung nicht mehr vollumfänglich befriedigt werden: Der Durst nach physischer Aufmerksamkeit wird nach und nach verwandelt in einen Durst nach Anerkennung. Anerkennung ist in einer bildhaften Sprache nichts anderes als eine Liebkosung. Die Zeichen für Anerkennung können positiv (Glückwünsche, komplizenhaftes Augenzwinkern) oder negativ (Kritik, Ohrfeige) sein. Sie können auch bedingt, im Zusammenhang mit dem Verhalten einer Person (ich finde, Du hast das sehr gut gemacht), oder bedingungslos (ich liebe Dich, weil Du existierst) sein. Es liegt an uns, mit den verschiedenen Äusserungsformen von Anerkennung umzugehen. Wir können Anerkennung aussprechen, erhalten, einfordern oder zurückweisen.
Wir können uns auch selbst Zeichen der Anerkennung aussprechen. Wie kann Anerkennung ausgesprochen werden? Die Zeichen der Anerkennung können sehr unterschiedliche Formen annehmen: Ein Augenzwinkern, eine Geste, ein Wort (beispielsweise benennen, was realisiert worden ist). Jean-Pierre Brun, Professor für Wirtschaftswissenschaften und Management sowie Inhaber des Lehrstuhls für Management im Gesundheitswesen und Arbeitssicherheit der Universität Laval/Québec, beschreibt vier Grunddimensionen der Anerkennung: Die Person anerkennen (humanistisch-existenzieller Ansatz) Die Anerkennung erstreckt sich auf die Person, das Individuum, und nicht auf die Funktion oder den Angestellten. Die Person grüssen; sie fragen, bevor eine Entscheidung gefällt wird; die Person als wichtiges Glied der Institution wertschätzen! Die Resultate anerkennen (Verhaltensansatz) Die Anerkennung erstreckt sich auf beobacht- und messbare Resultate. Diese Form der Anerkennung wird wie eine Belohnung wahrgenommen. Aussprechen, dass das Ziel erreicht wurde; zur Feier des Erfolgs ein Glas offerieren. Die Anstrengung resp. das Bestreben anerkennen (subjektive Perspektive) Hier werden die persönliche Anstrengung, das Engagement anerkannt und wertgeschätzt, unabhängig von den Resultaten, die nicht unbedingt in einem proportionalen Verhältnis zum erbrachten Aufwand stehen müssen. Verdankung geleisteter Dienste, Übertragung neuer Verantwortungsbereiche. Die Kompetenzen anerkennen (ethische Perspektive) Diese Dimension berücksichtigt die individuellen Verantwortlichkeiten, die Aufmerksamkeit, die dem Gegenüber entgegengebracht wird. Dieser ethische Ansatz berücksichtigt die Werte und moralischen Prinzipien, die in der Organisation gelten (Gleichheit, Gerechtigkeit, soziale Verantwortung). Die Qualität der geleisteten Arbeit hervorstreichen. Freiwilligenarbeit und Anerkennung Für Angestellte stellt der am Monatsende ausbezahlte Lohn eine Form der Anerkennung dar. Diese Anerkennung wirkt sich übrigens oft nachteilig auf andere Formen der Anerkennung aus, auf welche die Angestellten aber ebenfalls Wert legen: Resultate bekanntgeben, das Engagement wertschätzen, Verantwortung übertragen, Weiterbildung anbieten, Erfolge feiern - das sind alles Zeichen, welche das Bedürfnis ebenso befriedigen wie der Lohn. Insbesondere auf die zuletzt genannten Punkte muss also im Rahmen der Freiwilligenarbeit das Augenmerk gelegt werden. Das Übertragen wichtiger Aufgaben ist für Freiwillige eine Form der Anerkennung. Nur wenn das Engagement mit den tatsächlichen Bedürfnissen im Einklang steht, wird der Freiwillige länger in der Organisation verbleiben. Erfolgreiche Anerkennungsprogramme zeichnen sich dadurch aus, dass sie jeden Freiwilligen «belohnen», indem sie ihn als einzigartige Person wertschätzen und dessen persönliche Bedürfnisse befriedigen; sich auf die Arbeit oder die Aufgaben des Freiwilligen stützen; auf einer konsequenten Politik aufbauen, welche Vertrauen vermittelt, dass das Engagement adäquat anerkannt/wertgeschätzt/vergolten wird; die langfristigen Beiträge oder die wiederholten aussergewöhnlichen Einsätze anerkennen und wertschätzen;
Entschädigungen bieten, die von Freiwilligen-Teams gemeinsam geteilt werden können oder sich an die Gesamtorganisation richten. Gemäss Connors Tracy Daniel, Wawthrone Nan, Mc Curley Steve und Rick Linch sind die folgenden Motivationsfaktoren jene, die am häufigsten von Freiwilligen genannt werden: Wertschätzung. Personen, die Freiwilligenarbeit leisten, weil sie wertgeschätzt werden möchten, haben es im Allgemeinen gern, wenn man ihre Fähigkeiten anerkennt und die Arbeit, die sie leisten, individuell verdankt. Da ihre Freiwilligenarbeit leicht sichtbar gemacht werden kann, schlagen wir vor, diesen Personen im Rahmen eines Anlasses öffentlich eine Anerkennung auszusprechen, sie auf der Homepage oder im Informationsblatt zu erwähnen oder ihren Arbeitgebern, Professoren oder Familienmitgliedern einen Dankesbrief zu schreiben. Dazugehören. Personen, die Freiwilligenarbeit leisten, weil sie ein gemeinschaftliches Gefühl des Miteinanders mit anderen Menschen erleben möchten, welche denselben Glauben, dieselben Überzeugungen, dieselbe Herkunft oder dieselben persönlichen Ziele teilen, arbeiten allgemein nur ganz selten gern allein. Hier erscheint es angebracht, den Beitrag dieser Freiwilligen im Rahmen von Anlässen mit sozialem Charakter hervorzuheben, indem man ihnen ein persönliches Geschenk übergibt oder die Namen sämtlicher Freiwilligen, die in derselben Organisation arbeiten, öffentlich bekanntgibt. Selbstverwirklichung. Personen, die Freiwilligenarbeit leisten, weil sie sich selbst verwirklichen möchten, halten im Allgemeinen gerne einen Beweis für ihre Arbeit und ihr Engagement in Händen und setzen sich gerne in praktischen und konkreten Projekten ein. Um deren Beitrag wirkungsvoll zu anerkennen, empfiehlt es sich, ihnen schriftliche Atteste auszustellen, welche ihre Arbeit in den diversen Etappen dokumentieren, oder ihnen einen speziellen Platz zur Verfügung zu stellen, wo sie ihre Projekte nach deren Abschluss zeigen können. Macht und Einfluss. Personen, die Freiwilligenarbeit leisten, weil sie Macht und Einfluss schätzen, möchten im Allgemeinen gerne auch andere davon überzeugen, es ihnen gleichzutun und möchten den anderen die wirkungsvollsten Mittel und Wege zur Zielerreichung zeigen. Sie schätzen Posten oder Aufgaben, die es ihnen ermöglichen, Entscheidungen zu treffen und andere anzuleiten. Diese Freiwilligen schätzen einen Beleg, der ihren Titel oder Rang in der Organisation ausweist, einen eigenen Parkplatz oder die Möglichkeit, ein von der Organisation angebotenes Atelier zu leiten. Zum Schluss Die Frage ist durchaus erlaubt: «Wie resp. mit welchen Mitteln soll Anerkennung für Freiwilligenarbeit ausgesprochen oder eingefordert werden? Oft sind es die Nutzniesser der Freiwilligenarbeit, welche die Anerkennung aussprechen und leisten (Senioren, die von einem gemeinsamen Essen mit anderen profitieren; Kinder, die sich begeistert kreativ betätigen ). Es ist durchaus angebracht, dass die Institution die geleistete Arbeit anerkennt und die dazu benötigten Fähigkeiten beim Namen nennt. Es empfiehlt sich, dies gezielt und bei passender Gelegenheit zu tun, und nicht allgemein und im Vorbeigehen. Vielleicht ist es ja auch möglich, dass die Institution zu diesem Zweck einmal pro Jahr einen speziellen Anlass organisiert, einen Ausflug, eine Konferenz, einen Ausbildungstag oder ein-
fach «nur» einen Apéro, in dessen Verlauf den Freiwilligen eine individuelle Bestätigung/Anerkennung überreicht wird. Vielleicht wäre es auch gar nicht so schlecht, wenn man die Freiwilligen dazu bringen könnte, die Anerkennung einzufordern und zu sagen, in welcher Form sie diese am liebsten erfahren würden (Einkaufsgutschein, Austausch und Gespräch, Ausbildungskurs, Attest über den geleisteten Einsatz oder eine andere Form/Feierlichkeit). Jürg Bichsel, Psychotherapeut, Reconvilier