Was ist eigentlich ein Morphem? Außer der Standarddefinition, die das Morphem als kleinste bedeutungstragende Einheit versteht, gibt es keine schulenübergreifende Einigkeit darüber, was genau eigentlich ein Morphem sein soll. Die verschiedenen Ansätze ähneln sich in ihrer Auslegung des Begriffes, verfahren jedoch leider nicht deckungsgleich. Eine Kluft scheidet dabei den distributionalistischen amerikanischen Strukturalismus vom eher funktionalistischen europäischen Strukturalismus, dessen verschiedene Spielarten untereinander allerdings auch nicht völlig hinsichtlich dessen übereinstimmen, was sie mit dem Terminus Morphem meinen. Das durch die definitorische Vielfalt notwendig werdende sorgfältige Abgleichen der jeweiligen Begrifflichkeiten unterschiedlicher Quellen gilt auch für diejenigen Termini, die mit dem Morphem unmittelbar assoziiert sind -, also etwa: Allomorph und Morph. Wohl auch gerade wegen dieser für die innere Fraktionierung der Linguistik typischen Konkurrenz von mehreren Lesarten hat sich im Alltagsgebrauch der Fachwissenschaftler eine eher laxe Redeweise durchgesetzt, in der man den Terminus Morphem und seine Verwandten zunächst sozusagen modell-/theoriefern für eine oberflächliche Analyse verwendet. In nachfolgenden Analyseschritten kann diese unspezifische Version des Morphembegriffs dann je nach gewähltem Modell präzisiert werden. Diese Vorgehensweise ist so angelegt, daß sie die Morphematik in etwa parallel zu den Distinktionen der Phonematik strukturiert. Demzufolge entsprechen sich beispielsweise von der Systematik her Phonem und Morphem, Phon und Morph, Allophon und Allomorph. Der Begriff des Plerems oder Minimalzeichens, der ansonsten sehr nützlich ist, taucht in dieser Aufteilung des Gebietes gar nicht auf. Es läßt sich folgende Gliederung vornehmen, um morphologisch mit Sprachzeichen arbeiten zu können. Wir gehen von einem binären Zeichenmodell aus, das eine Inhaltsseite und eine Ausdrucksseite umfaßt. Für die Inhaltsseite reservieren wir den Terminus Morphem, für die Ausdrucksseite kommen dann noch Morph und Allomorph in Frage. Das gesamte Zeichen als Inhalt-Ausdruck-Relation nennen wir Kategoriensymbolisierung. Es ist dies eine verschlankte Terminologie, die sich an die Natürliche Morphologie der letzten Jahrzehnte anlehnt. Inhalt Ausdruck Zeichen Morphem Morph Kategoriensymbolisierung Allomorph Im folgenden wenden wir diesen minimalen Begriffsapparat auf verschiedene Beispiele an, um ihn mit Inhalten zu füllen. Bei passender Gelegenheit werden fallweise auch weitere Begriffe vorgestellt.
Paradigmatik/Syntagmatik Zur Rekapitulation: Bei der Morphematik, also dem Zweig der Morphologie, der sich um das Inventar der Morpheme kümmert, stehen paradigmatische Beziehungen im Vordergrund. Bei der Morphotaktik, also dem Zweig der Morphologie, der sich um die Kombination von morphologischen Einheiten kümmert, steht hingegen die Syntagmatik im Vordergrund. In den folgenden Beispielen aus dem Finnischen lassen sich die beiden gerade erwähnten Achsen bei der Analyse in Anschlag bringen. Substantivische Teilparadigmen Haus Vater Auto Nacht Nom talo isä auto yö Gen talon isän auton yön Iness talossa isässä autossa yössä Ess talona isänä autona yönä Wir können zunächst eine Segmentierung der vorgelegten Wortformen singularische Kasus des finnischen Substantivs vornehmen und dadurch die Morphemgrenzen innerhalb der Wortformen selbst bestimmen. Dies erfolgt dadurch, daß wir die in den Teilparadigmen und zwischen den Teilparadigmen auftretenden Elemente miteinander vergleichen. Dabei ergibt sich, daß die Morphe {/talo/} und {/auto/} sowie {/isä/} und {/yö/} in den Paradigmen gegeneinander austauschbar sind, d.h. daß sie im selben Kontext vorkommen können. Sie stehen also in einer paradigmatischen Beziehung zueinander. Da sie gleichzeitig verschiedene Bedeutungen haben, handelt es sich um Morpheme und zwar um lexikalische. Gleichfalls stehen die Morphe {/-n/}, {/-ssa/}, {/-ssä/}, {/-na/} und {/-nä/} in paradigmatischer Beziehung zueinander, wobei {/-ssa/} nicht einfach gegen {/-ssä/} und {/-na/} nicht einfach gegen {/-nä/} ausgetauscht werden kann. Vielmehr stehen diese in einem besonderen syntagmatischen Verhältnis zu den lexikalischen Morphemen: Enthalten deren Morphe hintere Vokale, sind {/-ssa/} und {/-na/} zu setzen, ansonsten {/-ssä/} und {/-nä/}. {/-ssa/} und {/-ssä/} sowie {/-na/} und {/-nä/} vertreten jeweils dasselbe Morphem. Sie sind phonologisch konditionierte Allomorphe. Morphemgrenzen Haus Vater Auto Nacht Nom talo isä auto yö Gen talo-n isä-n auto-n yö-n Iness talo-ssa isä-ssä auto-ssa yö-ssä Ess talo-na isä-nä auto-na yö-nä
Die mitgelieferten Angaben zur lexikalischen Bedeutung und grammatischen Funktion (= Kasus) erlauben es uns, den durch Segmentierung ermittelten Morphen Inhalte zuzuordnen. Diese Inhalte sind gemäß unserem einfachen Modell eben diese Bedeutungen und Funktionen. Morphe und Morpheme Morphe Morpheme Morphe Morpheme {/talo/} {Haus} {/-n/} {Genitiv} {/isä/} {Vater} {/-ssa/}, {/-ssä/} {Inessiv} {/auto/} {Auto} {/-na/}, {/-nä/} {Essiv} {/yö/} {Nacht} Wir können nun die Inhalts- und Ausdrucksseite miteinander zu einem vollständigen Zeichen vereinigen und die Summe aus beiden als Kategoriensymbolisierung darstellen, die in der Formelschreibweise in Versalien ( Großbuchstaben ) erscheint. Kategoriensymbolisierung {/talo/} {Haus} HAUS {/-n/} {Genitiv} GENITIV {/isä/} {Vater} VATER ({/-ssa/}, {/-ssä/}) {Inessiv} INESSIV {/auto/} {Auto} AUTO ({/-na/}, {/-nä/}) {Essiv} ESSIV {/yö/} {Nacht} NACHT Das Konzept des Plerems oder Minimalzeichens d.h. eine durch weitere interne Ausdruck- Inhalt-Zuordnung nicht weiter zerlegbare morphologische Einheit ist bei den obigen Beispielen ohne Belang. Man kann die Analyse ohne Plerembegriff durchführen. Interessanter wird das Plerem, wenn wir weitere Formen des Paradigmas heranziehen: Kumulative Exponenten Nom.Pl talot talo-t Gen.Pl taloin talo-i-n Iness.Pl taloissa talo-i-ssa Ess.Pl taloina talo-i-na Die pluralischen Entsprechungen des singularischen Teilparadigmas erlauben uns zunächst wieder, das lexikalische Morphem zu identifizieren: {Haus} wird wie gehabt durch {/talo/} vertreten. Dito können wir bei den Kasus {Genitiv} = {/-n/}, {Inessiv} = {/-ssa/} und {Essiv} = {/-na/} verfahren. Neu ins Spiel kommt {/-i-/}, das zwischen die bisher ermittelten Komponenten der Wortformen tritt. Da sich diese längeren Wortformen von den kürzeren inhaltlich dadurch unterscheiden, daß sie das Merkmal [Plural] tragen, dürfen wir {/-i-/} als Morph des Morphems {Plural} interpretieren.
Es verbleibt jedoch eine Wortform, die sich dieser Analyse entzieht, nämlich talot. Hier läßt sich {/talo/} ohne weiteres segmentieren, identifizieren und klassifizieren. Was ist jedoch mit dem Suffix {/-t/}? In der morphotaktischen Struktur der Wortformen steht es syntagmatisch in der vom lexikalischen Morphem bereitgestellten Leerstelle, in der sonst zweigliedrige Affixketten stehen, nämlich {/-i-/} für {Plural} und die verschiedenen Kasussuffixe. Gegenüber seinem singularischen Gegenstück talo hat talot ein Segment, das hier einem Affix entspricht, mehr aufzuweisen. Der Unterschied zwischen talo und talot ist inhaltlich der verschiedener Numeri. Also muß man {/-t/} die Funktion der Pluralmarkierung zuweisen, d.h. daß es ein Morph des Morphems {Plural} ist. Da wir bereits mit {/-i-/} ein anderes Morph identifiziert haben, das das Morphem {Plural} vertritt, muß Allomorphie vorliegen. Diese Allomorphie wäre semantisch und/oder morphotaktisch konditioniert. Damit erschöpft sich die Analyse jedoch nicht. Denn wie gesagt steht {/-t/} in der syntagmatischen Position, wo im restlichen Paradigmen die Affixe für {Plural} und die verschiedenen Kasus eine Kette bilden. D.h. daß {/-t/} auch mit den anderen Kasuszeichen in einer paradigmatischen Beziehung steht, die Nichtaustauschbarkeit beinhaltet. {/-t/} steht auch für das Morphem {Nominativ} als Morph zur Verfügung. Mithin vereinigt {/-t/} gleich zwei Funktionen in sich: {Plural} und {Nominativ}. Das Morph {/-t/} läßt sich nicht mehr weiter zerlegen, ist also ein Minimalzeichen oder Plerem, sowie auch {/-i-/} und {/-ssa/} usw. Plereme sind. {/talo/}-{/t/} Morphe {Haus}-{Plural}-{Nominativ} {/talo/}-{/i/}-{/n/} Morpheme Morphe {Haus}-{Plural}-{Genitiv} Morpheme Wenn mehrere Morpheme gleichzeitig von einem Morph vertreten werden, nennt man dies kumulative Exponenz, das Morph ist dann ein kumulativer Exponent. In anderer Terminologie wäre {/-t/} dann ein Portmanteau-Morph. Diese Kumulation von Morphemen in einem Morph darf nicht mit der Polysemie/Polyfunktionalität von Morphen verwechselt werden, bei ein Morph je nach Kontext ganz verschiedene Inhalte transportiert, die sich gegenseitig ausschließen.