20 Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten Idealgewicht ten Adipositasforscher seiner Zeit, ein 1,75 m großer Mann an die 90 kg wiegen darf, ohne als übergewichtig oder adipös mit Krankheitswert eingestuft zu werden, dann ist dieser Mann offiziell nicht krank. Er fühlt sich wahrscheinlich auch nicht krank und macht sich keine Sorgen um seinen Gesundheitszustand. Er wird nicht bemüht sein, eine Diät zu beginnen. Er wird nicht darüber nachdenken, welche psychischen Probleme ihn in die Adipositas getrieben haben. Wenn hingegen wie in den 60er Jahren des letzten Jahrhunderts das Idealgewicht als gesundheitlich optimal angepriesen wird und alles Gewicht, das darüber liegt, als lebensverkürzend gilt, wenn sich zusätzlich das vorherrschende Schlankheitsideal der Frauen der Magersucht annähert, dann sind sozusagen von einem Tag auf den anderen große Bevölkerungskreise übergewichtig und adipös (s. Kasten 1.1). Was ist das Idealgewicht? Es berechnet sich nach dem Broca-Normalgewicht, das früher der dominierende Gewichtsindex gewesen ist. Broca-Normalgewicht = Körpergröße in cm minus 100 Kasten 1.1: Idealgewicht Das Idealgewicht ist dann: Broca-Normalgewicht minus 10 % für Männer und minus 15 % für Frauen. Früher wurde angenommen, dass das Idealgewicht mit der höchsten Lebenserwartung einhergeht. Heute ist dies umstritten. Das Broca-Normalgewicht berechnet sich zwar einfach, aber es korreliert noch schlechter mit dem relativen Fettanteil am Gesamtkörpergewicht als der Body Mass Index, der weiter unten vorgestellt wird. Bilanz von Diäten Diese neue und sehr große Gruppe jetzt Übergewichtiger und Adipöser ist nun darum bemüht, das Gewicht zu reduzieren. Schließlich wird heutzutage Glück mit Schlankheit in Zusammenhang gebracht. Viken et al. (2005) konnten dies in einer Studie gut belegen. Gewicht zu reduzieren, gelingt aber nicht allzu häufig. Diäten und andere Formen der Gewichtsreduktion sind langfristig selten erfolgreich. Die um Gewichtsabnahme Bemühten sind angesichts der ausbleibenden Erfolge enttäuscht und essen angesichts der Vergeblichkeit ihrer Bemühungen potenziell mehr als davor.
Diätversuche führen tendenziell zu allen Formen von Essstörungen, also auch zur Bulimia nervosa oder zur Anorexia nervosa (Howard/Porzelius 1999). Angesichts dieses Sachverhaltes ist es nicht unerheblich, dass jedes dritte Mädchen bis zu einem Alter von zehn Jahren über Diäterfahrungen verfügt (Bruns-Philipps/Dreesman 2004). Neumark-Sztainer et al. (2000) ermittelten, dass mehr als 50 % der Bevölkerung versuchen, ihr Gewicht zu kontrollieren: 56,7 % der erwachsenen Frauen, 50,3% der erwachsenen Männer, 44% der Mädchen und 36,8% der Jungen. Bublitz (2010) gibt für die US- Bevölkerung an, dass sogar 75 % der Frauen Diätversuche hinter sich haben. In einer anderen Studie von Schur et al. (2000) wurde ermittelt, dass 50 % junger Kinder ihr Gewicht reduzieren wollen und 16 % dies bereits versucht haben. 77 % dieser Kinder berichteten von Familienmitgliedern, die über die Umstellung der Ernährungsgewohnheiten erzählt haben. Schur und Kollegen kommen deshalb zum Schluss, dass die Familie einen großen Einfluss auf das Ernährungsverhalten und dessen Umstellung hat. Diätversuche in Eigenregie sind allerdings zu unterscheiden von professionell durchgeführten Gewichtsabnahmeprogrammen. Diese münden in der Regel nicht in Essstörungen (Buryn/Wadden 2005). Dagegen verursacht kontrolliertes Essverhalten als alltägliches kulturelles Muster vor allem von Mädchen und jungen Frauen Essstörungen (Austin 2001). Der eben modellhaft beschriebene Teufelskreis könnte eine Erklärung dafür liefern, warum die Anzahl adipöser Personen zunimmt. Dieser Teufelkreis könnte allerdings auch anders ausgehen. Er kann in Anorexia nervosa oder Bulimia nervosa münden, also einmal in totaler Kontrolle der Essimpulse, das andere Mal in der Korrektur des übermäßigen Essens durch z. B. selbst induziertes Erbrechen. Festzuhalten bleibt, dass möglicherweise gesellschaftliche Einflüsse, nämlich die Setzung des Idealgewichts, dazu beigetragen haben, dass die Verbreitung der Adipositas und der Bulimia nervosa deutlich zugenommen hat. Mit empirischen Studien kann diese Überlegung gut unterfüttert werden. Tiggeman und Slater (2004) führten 84 Frauen entweder Videoclips zu Popmusik mit dünnen Frauen vor oder Clips ohne Kultur und Essstörungen 21
22 Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten diese. Bei der Gruppe, die die Clips mit dünnen attraktiven Frauen ansah, erhöhte sich die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Die Frauen in dieser Gruppe begannen verstärkt, ihren Körper mit denen anderer Frauen zu vergleichen. Um diesen Effekt zu erreichen, reichte es aus, sechs Clips in der Länge von 15 Minuten anzuschauen. Die mediale Präsentation führt also zu einer Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper. Es ist anzunehmen, dass diese Unzufriedenheit teilweise mit Diätbemühungen beantwortet wird. Und dann ist der genannte Teufelskreis begonnen. In einer Meta-Analyse bewerteten Groez et al. (2002) 25 experimentelle Studien, die den Einfluss medial vermittelter schlanker Körper auf die Zufriedenheit mit dem eigenen Körperbild untersuchten. Ergebnis war, dass das Darbieten schlanker Körper zu einer Zunahme der Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper führte. 1.6 Soziale Lage und Gesundheit Bezüglich des Zusammenhangs zwischen sozialer Lage und Gesundheit stimmen bestimmte Vorurteile nicht: Arbeitslose hätten ein entspanntes und gutes Leben, müssten nichts tun, lägen auf der faulen Haut und feierten. Wer arbeitslos ist oder von Sozialhilfe lebt, hat eine höhere Anfälligkeit für Erkrankungen zahlreicher Art. Zudem ist die Lebenserwartung verkürzt (Prahl/Setzwein 1999; Mielck 2000). Dies lässt sich allgemeiner fassen: Wer nicht viel verdient, wer keinen hohen Bildungsabschluss hat, ist kränker und stirbt früher. Das ist seit vielen Jahren bekannt (Novak 1980; Siegrist 1995). In einer schwedischen Studie konnten Gerdtham und Johannesson (2000) zeigen, dass junge Männer mit dem niedrigsten Einkommen eine Reduktion der Lebenserwartung um 4,1 Jahre haben, die ältesten in derselben Einkommensgruppe immerhin noch eine Verringerung um 2,1 Jahre. Bei den Frauen ist es ähnlich. Besonders beunruhigend ist, dass sich bereits aus einem niedrigen sozioökonomischen Status in der Kindheit eine erhöhte Mortalitätsrate im Erwachsenenalter voraussagen lässt (Claussen et al. 2003).
Soziale Lage und Ernährung 23 Niedriger sozioökonomischer Status ist häufig verbunden mit schlechten Arbeitsbedingungen. Gerade bei der Koronaren Herzkrankheit scheint es sich so zu verhalten, dass schlechte Arbeitsbedingungen deren Anstieg begünstigen (Marmot et al. 1997). Das Vorurteil, Personen in beruflich höheren Positionen stürben eher an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, ist also nicht gültig. Jedenfalls heute nicht mehr, vor 50 Jahren war es kein Vorurteil. Diese Tendenz, dass sozialer Status, Arbeitsbedingungen und Gesundheit miteinander positiv korrelieren, gilt selbst noch unter den Wohlhabenden und Gebildeten: Der Chefarzt lebt im Durchschnitt länger als der Oberarzt (Syme 1991). Vermutlich hängt dies damit zusammen, dass der Chefarzt mehr Entscheidungsspielräume hat als der Oberarzt. Doch der Unterschied zwischen der Lebenserwartung des Chef- und Oberarztes in einer Industrienation ist relativ klein angesichts eines Blicks auf die gesamte Erde: Weltweit gibt es Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung zwischen den Nationen von 48 Jahren. Und innerhalb eines Landes wie der USA differiert die durchschnittliche Lebenserwartung je nach sozialer Schichtzugehörigkeit um 20 Jahre (Marmot 2005). In Deutschland ist diese Differenz viel geringer. Arbeit und Gesundheit 1.7 Soziale Lage und Ernährung Die Ernährungsweise ist Teil eines bestimmten Lebensstils und nicht abzukoppeln von anderen Merkmalen dieses Lebensstils oder eines bestimmten sozialen Status. Andere Merkmale wären nach Prahl und Setzwein (1999): Arbeits- und Wohnverhältnisse, Inanspruchnahme von Expertenhilfe, Risikoverhalten und Drogenkonsum. Was das Ernährungsverhalten betrifft, resümieren die eben genannten Autoren, dass sich die unteren sozialen Schichten hinsichtlich dessen, was heute als gesunde Kost definiert wird, schlechter ernähren als die oberen sozialen Schichten. Die oberen sozialen Schichten essen abwechslungsreicher, mehr proteinreiche Produkte wie Milch und Joghurt, viel Obst, und sie achten mehr auf ihr Gewicht. Lebensstil
24 Gesellschaftlich-kulturelle und soziale Determinanten In den unteren Schichten isst man eher Butter, Zucker, Weißbrot, Fleisch, Wurstwaren. In einer Überblicksstudie, die sich auf den Konsum von Obst und Gemüse in Europa bezieht, kommen Roos et al. (2000) zu folgendem Schluss: Es gibt eine zentrale Tendenz, wonach mit steigendem Bildungsniveau auch der Verbrauch von Obst und Gemüse ansteigt. Leonhäuser und Lehmkühler (2002) kommen zu einem ähnlichen Ergebnis: In armen Haushalten wird wenig Milch, Milchprodukte, Obst und Gemüse verzehrt. Lawrence et al. (2009) machen darauf aufmerksam, dass sich schwangere Frauen mit einem geringeren sozioökonomischen Status ungesünder ernähren als die mit einem höheren. materielle vs. soziale Armut Wenig Geld zur Verfügung zu haben, bedeutet nicht nur, weniger Handlungsspielräume beim Einkaufen zu haben, es ist auch verbunden mit geringen Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Nahrungszubereitung und mit geringem Wissen über gesunde Ernährung. Zudem darf nicht vergessen werden, dass in armen Haushalten Gesundheit als Wert und Ziel nicht an der ersten Stelle der Wert- und Zielhierarchie steht (Lehmkühler 2002). Prahl und Setzwein (1999) unterscheiden in diesem Zusammenhang zwischen materieller und sozialer Ernährungsarmut: Materiell bedeutet, dass man tatsächlich nicht genug zum Essen hat. Sozial soll veranschaulichen, dass zwar genug Geld da ist, um sich nach ernährungsphysiologischen Gesichtspunkten hinreichend gut zu versorgen, dass aber bestimmte kulturelle Standards nicht eingehalten werden können. Man kann es sich z. B. nicht leisten, essen zu gehen. Man kann keine Einladungen aussprechen. Robertson (2001) macht darauf aufmerksam, dass die Kluft zwischen arm und reich nicht kleiner wird, sondern die soziale Ungleichheit zunimmt. In ganz Europa können sich Menschen mit geringem Einkommen nicht (mehr) gesund ernähren. Dies gilt vor allem für Kinder, Jugendliche, schwangere und stillende Frauen sowie für ältere Menschen. Soziale Ungleichheit zeigt sich