Psychologische Diagnostik

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Transkript:

André Beauducel Anja Leue Psychologische Diagnostik BACHELORSTUDIUM PSYCHOLOGIE

18 Kapitel 1 bung, Klassifikation, Erklärung oder Vorhersage menschlichen Verhaltens und Erlebens beziehen. Sie schließt die gezielte Erhebung von Informationen über das Verhalten und Erleben eines oder mehrerer Menschen sowie deren relevanter Bedingungen ein. Die erhobenen Informationen werden für die Beantwortung der Fragestellung interpretiert. Das diagnostische Handeln wird von psychologischem Wissen geleitet. Zur Erhebung von Informationen werden Methoden verwendet, die wissenschaftlichen Standards genügen. Merkmalsträger, bei denen Merkmalsausprägungen diagnostiziert werden Gemeinsame Bestimmungsstücke verschiedener Definitionen der psychologischen Diagnostik Schmidt-Atzert und Amelang (2012) beziehen nun nicht mehr wie Amelang und Schmidt-Atzert (2006) die psychologische Diagnostik zunächst allgemein auf Merkmalsträger, sondern vertreten explizit die Auffassung, dass der Gegenstand der psychologischen Diagnostik Menschen seien. Zur Relativierung dieser Position wird hier nur exemplarisch auf die Studie von Capitano und Widaman (2005) verwiesen, in der Persönlichkeitseigenschaften von Rhesusaffen eingeschätzt wurden. Diese individuelle Zuschreibung von unterschiedlichen Ausprägungen von Persönlichkeitseigenschaften zu Rhesusaffen wird hier auch als ein Vorgang der psychologischen Diagnostik gesehen. Eine Verhaltensbeobachtung und eine anschließende Einschätzung der Eigenschaften von Menschen (beispielsweise im Rahmen eines Assessment-Centers) konstituiert kein grundsätzlich anderes Vorgehen. Ein anderes Beispiel für eine psychologische Diagnostik an Tieren ist die Beurteilung manisch-hyperaktiven Verhaltens von Mäusen in ihren Käfigen (Scotti et al., 2011). Die Autoren beobachteten das hyperaktiv-manische Verhalten an den Mäusen vor und nach einer Medikation. Solche Studien, in denen Verhaltenstendenzen ( Verhaltensphänotypen ) von Tieren diagnostiziert werden, können für die Klinische Psychologie von großer Bedeutung sein. Aus Sicht der Autoren dieses Buches erscheint es nicht zweckmäßig, die vielen psychodiagnostischen Vorgänge, die vor allem in der Forschung nicht ausschließlich am Menschen erfolgen, aus der psychologischen Diagnostik auszuschließen. Auch ein Beschränken der psychologischen Diagnostik auf die Praxis würde einen großen Teil interessanter psychologischer Diagnostik, die notwendigerweise auch in der Forschung stattfindet, ausblenden. Insofern wird im Rahmen dieses Buches explizit weiterhin auf Merkmalsträger verwiesen. Der Überblick über die Definitionen der psychologischen Diagnostik verdeutlicht bereits viele Gesichtspunkte, die für das Fach von zentraler Bedeutung sind. Inzwischen hat die Diskussion um Qualitätsmaßstäbe in der psychologischen Diagnostik nicht zuletzt vor

Definitionen, Aufgaben und Rahmenbedingungen 19 dem Hintergrund der DIN 33430, die Qualitätsmaßstäbe für die berufsbezogene Eignungsdiagnostik feststellt eine Konvergenz und eine erhebliche Relevanz erreicht (DIN, 2002; Hornke & Winterfeld, 2004). Dies spiegelt sich auch in den Definitionen psychologischer Diagnostik von Ziegler und Bühner (2012) sowie von Schmidt-Atzert und Amelang (2012) wider. Daher sollen auch nach Meinung der Autoren dieses Buches wissenschaftliche Minimalstandards sowie der Bezug zu den fachlichen Kompetenzen bei der Formulierung einer Definition für die psychologische Diagnostik nicht fehlen. Um zum anderen den mit Bezug zu Dieterich (1973) und Westmeyer (1995) erwähnten Aspekt zu betonen, dass eine essenzialistische Interpretation der Merkmale nicht nur für die Merkmalsträger problematische Konsequenzen haben könnte, sondern auch wissenschaftlich nicht angemessen erscheint, sollte eine Definition der Diagnostik auch verdeutlichen, dass nicht an sich gegebene Merkmale oder Charakteristika sondern psychologische Konstrukte und Theorien der Gegenstand der psychologischen Diagnostik sind. Schließlich sollte auch der in Amelang und Schmidt-Atzert (2006) berücksichtigte Gesichtspunkt nicht fehlen, dass es bei der psychologischen Diagnostik auch um Präzision geht, d. h. dass wir Merkmalsausprägungen und Charakteristika niemals genau erfassen, sondern lediglich mit einer bestimmbaren Genauigkeit schätzen. Ziegler und Bühner (2012) umgehen die genannten Probleme, die sich aus der Zuschreibung von Merkmalsausprägungen zu Merkmalsträgern ergeben, indem sie diesen Aspekt, der in der Vergangenheit auch zu problematischen Interpretationen geführt hat, aus ihrer Definition der psychologischen Diagnostik heraushalten (siehe oben). Auch Schmidt-Atzert und Amelang (2012) schlagen eine Definition psychologischer Diagnostik vor, die ohne die Zuschreibung von Konstruktausprägungen zu Merkmalsträgern auskommt. Schmidt-Atzert und Amelang (2012, S. 3) begründen die Beschränkung auf das Erleben und Verhalten und damit die Vermeidung des Konzepts der Konstrukte, der Merkmale und der Merkmalszuschreibung mit einem Beispiel: Wenn sich etwa ein Mensch sozial zurückzieht und starke Angst erlebt, kann dies auf ein traumatisches Ereignis zurückzuführen sein und nicht auf seine Persönlichkeitsmerkmale. Die Formulierung menschliches Verhalten und Erleben lässt also offen, ob situative Faktoren oder psychische Merkmale (Eigenschaften) verantwortlich sind. Situative Aspekte als Ursachen für Verhalten bzw. für diagnostizierte Merkmalsausprägungen ( States ) Schmidt-Atzert und Amelang (2012) wollen mit diesem Beispiel verdeutlichen, dass dem Erleben und Verhalten nicht unbedingt eine

20 Kapitel 1 Eigenschaft zugrunde liegen muss. Sicherlich kann man in dem Beispiel sowie in der Definition der Diagnostik offen lassen, ob psychische Merkmale oder situative Faktoren ein Verhalten und/oder Erleben verursachen. Dennoch vertreten die Autoren dieses Buches die Auffassung, dass auch die Aussage, dass ein Mensch sich sozial zurückzieht und starke Angst erlebt als Personenzuschreibung der Ausprägung eines Zustandes ( States ) starke Angst gesehen werden sollte. Es gibt diagnostische Inventare, die sich auf die Zuschreibung der Ausprägung von Angstzuständen zu Personen spezialisiert haben, z. B. das State-Trait-Angstinventar (Laux, Glanzmann, Schaffner & Spielberger, 1981). Darüber hinaus kann auch das methodische Vorgehen beim Diagnostizieren ein Grund dafür sein, dass bestimmte Merkmalsausprägungen zunächst als Zustand interpretiert werden, wenn beispielsweise aufgrund des Designs zeitliche Stabilität eines Merkmals nicht nachgewiesen werden kann. Insofern verdeutlicht das hilfreiche Beispiel von Schmidt-Atzert und Amelang (2012), dass Merkmalsausprägungen der Merkmalsträger temporär und durch situative Aspekte verursacht sein können. Eine Zuschreibung von Merkmalsausprägungen zu Merkmalsträgern findet allerdings auch dann statt. Selbst die Tendenz der Person sich sozial zurückzuziehen, könnte als möglicherweise temporäres Merkmal der Person zugeschrieben werden. Interaktion von Situation und Person Auch wenn die starke Angst auf ein traumatisches Ereignis zurückzuführen sein mag, sollte man sie als ein temporäres psychisches Merkmal also als psychischen Zustand der Person auffassen. Denn man kann sich kaum vorstellen, dass situative Faktoren ohne die Interaktion mit Zuständen und Eigenschaften der Person (dazu zählen auch Kognitionen) direkt das Erleben und/oder Verhalten der Person determinieren können. Auch in der Verhaltensgleichung von Cattell (1990) oder in der kognitiv-affektiven Systemtheorie der Persönlichkeit von Mischel und Shoda (1995) werden Situationen stets nur in Interaktion mit Merkmalen in der Person relevant. Insofern kommt die psychologische Diagnostik, auch bei situativ bedingtem und zeitlich instabilem Erleben und Verhalten, nicht ohne eine Zuschreibung von Merkmals- oder Konstruktausprägungen zu Merkmalsträgern aus. Als Ergebnis der Diskussion des Beispiels sind drei Aspekte festzuhalten: Psychologische Diagnostik beschränkt sich nicht auf zeitlich stabile Merkmale.

Definitionen, Aufgaben und Rahmenbedingungen 21 Merkmalsausprägungen können auch durch Situationen verursacht sein. Eine diagnostische Erfassung und Zuschreibung findet auch für temporäre, durch Situationen verursachte Merkmalsausprägungen statt. Über die dargestellten Argumente hinausgehend, vermuten wir, dass die psychologische Diagnostik in der Gesellschaft oft mit der Zuschreibung von Merkmalsausprägungen zu Merkmalsträgern assoziiert wird, so dass gewissermaßen auch aus Vorsicht zu diesem Aspekt im Rahmen einer Definition der psychologischen Diagnostik Stellung genommen werden sollte. Eine Definition, die die Zuschreibung von Merkmalen zu Merkmalsträgern beinhaltet, erlaubt es auch, den Bezug zu psychologischen Konstrukten (Cronbach & Meehl, 1955) einzuführen und stellt sich damit einer impliziten Wesenspsychologie von Laien entgegen. Außerdem ist die Zuschreibung von Merkmalsausprägungen zu Merkmalsträgern ein Aspekt, der durch sogenannte Testtheorien beschrieben wird (vgl. Kapitel 3.2), so dass die Berücksichtigung dieser Zuschreibung eine Verbindung zwischen der Definition psychologischer Diagnostik mit den psychologischen Testtheorien herstellt. Vor dem Hintergrund der dargestellten Diskussion erscheint folgender Vorschlag als Ergänzung zu den bereits bestehenden Definitionen zweckmäßig. Psychologische Konstrukte als Bestandteil der psychologischen Diagnostik Definition: Psychologische Diagnostik Psychologische Diagnostik beinhaltet die empirisch basierte, möglichst genaue Schätzung der Ausprägung und Veränderung psychologischer Konstrukte bei Merkmalsträgern sowie die möglichst genaue Klassifikation der Merkmalsträger in Gruppen mit ähnlichen psychischen Merkmalen, unter Beachtung transparenter, wissenschaftlicher und ethischer Standards sowie einer kompetenzbasierten, theorie- bzw. regelgeleiteten Integration und Interpretation der Informationen (Gutachten, Diagnose, Prognose) mit dem Ziel der Beantwortung diagnostischer Fragestellungen (z. B. Vorbereitung von Interventionsmaßnahmen und Entscheidungen). Das Weglassen des expliziten Bezuges zu interindividuellen Unterschieden soll berücksichtigen, dass mit der kriteriumsorientierten Diagnostik (Klauer, 1987) ein umfassender Ansatz vorliegt, der ohne interindividuelle Unterschiede auskommt. Dennoch ist auch die Erreichung eines Zielkriteriums (z. B. Bestehen der Führerscheinprüfung) im Rahmen der kriteriumsorientierten Diagnostik eine Aussage

22 Kapitel 1 über eine Merkmalsausprägung von Merkmalsträgern (vgl. Kapitel 4.2 und 4.3). Die obige Formulierung schließt allerdings eine Schätzung der Ausprägung psychologischer Konstrukte anhand interindividueller Unterschiede ein. Andererseits würde eine ausschließliche Erfassung situativer Bedingungen eines Merkmalsträgers, beispielsweise die Erfassung, ob eine Person verheiratet oder ledig, minderjährig oder volljährig ist, nach der oben dargestellten Definition keine psychologische Diagnostik sein, solange keine Zuschreibung einer Merkmalsausprägung oder Klassifikation in Gruppen mit ähnlichen psychischen Merkmalen damit verbunden wird. Erst wenn auf empirischer Basis angenommen werden könnte, dass die Gruppe der verheirateten Personen gemeinsame psychische Merkmale hätte, die sie von der Gruppe der ledigen Personen unterscheidet, könnte mit der Erfassung des Familienstandes psychologische Diagnostik betrieben werden. Der Bezug der oben dargestellten Definition zu den von Ziegler und Bühner (2012) thematisierten Kompetenzen wird hier durch das Konzept der kompetenzbasierten, theorie- bzw. regelgeleiteten Integration der Informationen hergestellt. Wie in Schmidt-Atzert und Amelang (2012) werden auch hier wissenschaftliche Standards als Bestandteil der psychologischen Diagnostik gesehen. Der Bezug der psychologischen Diagnostik zu Interventionsmaßnahmen wurde in der Definition auch aufgegriffen, wobei auch die Vorbereitung schlichter Entscheidungen (z. B. über Berufswege) in das Gebiet der Diagnostik zählt. Wie man aus dem Bedürfnis nach Rückmeldung im Rahmen diagnostischer Erhebungen schließen kann, sind viele Menschen auch an Informationen über psychologische Merkmalsausprägungen interessiert, selbst wenn keine eindeutigen bzw. unmittelbaren Interventionsmaßnahmen oder Entscheidungen aus den Informationen folgen. Die Betrachtung der möglichen Konsequenzen aus der Schätzung der Ausprägung und Veränderung psychologischer Konstrukte leitet über zu den Aufgaben der psychologischen Diagnostik. 1.2 Aufgaben psychologischer Diagnostik Psychologische Diagnostik als Grundlage für psychologische Anwendungsfächer Aus den in Kapitel 1.1 dargestellten Definitionen wird deutlich, dass die psychologische Diagnostik die Aufgabe hat, Entscheidungen und Interventionen vorzubereiten bzw. abzusichern. Die Arten der Entscheidungen und Interventionen und damit die Aufgaben der psychologischen Diagnostik werden sich in der Regel aus den psychologi-