Referat gehalten am Nationalen Kolloquium Integration an Kultur- und Sprachgrenzen am 4. Dez. 2002 in Biel, veranstal6tet von der Swiss Academy for Development und dem Forum für Zweisprqchigkeit Markus Truniger Schulische und allgemeine Integrationsförderung: Erfahrungen im Kanton Zürich Was verstehe ich unter Integration? Die Integration einer Gesellschaft 1 ist dann gelungen, wenn alle ihre Mitglieder einen gleichen Zugang zu den Gütern der Gesellschaft (unter anderem zur Bildung) haben, wenn alle als Person und in ihren Unterschieden (der Herkunft, der Schicht, des Geschlechts, der Religion,...) Anerkennung finden und wenn so der soziale Zusammenhalt und Frieden gewährleistet ist. Im folgenden erörtere ich in drei Schritten, wie wir die Integration fördern können: 1. in der Schule, 2. durch die Schulbehörden, 3. durch Staat und Gesellschaft. Ich beziehe mich dabei auf neuere Erfahrungen im Kanton Zürich. 1. Ich verwende den Begriff der Integration bewusst im Sinn von (Wieder)herstellung einer Einheit aus Differenziertem; Vervollständigung (Duden, Fremdwörterbuch). Ich ziehe es vor, von der Integration der schweizerischen Gesellschaft (wie man zum Beispiel von der Integration Europas spricht) als von der Eingliederung der AusländerInnen in die schweizerische Gesellschaft zu sprechen. Diese zweite Begriffsverwendung ist zwar gebräuchlicher, hat jedoch eher die zu integrierenden Teile als das Ganze im Auge und driftet oft in die Nähe des Assimilationsbegriffs. 1
Integration als Aufgabe der Schulen Grundsätzliches Ziel der Schule ist das Erreichen eines möglichst guten Bildungsniveaus bei allen Jugendlichen und eine Verminderung der Unterschiede nach sozialer und sprachlicher Herkunft. Das Bildungswesen erreicht diese beiden Ziele heute nur unzureichend. Den Leuten aus der Praxis ist das schon lange bekannt. Die PISA-Studie hat bestätigt, dass das Niveau bei den Lesekompetenzen am Ende der obligatorischen Schulzeit im allgemeinen in der Schweiz nur durchschnittlich ist, dass die Hälfte (!) aller Jugendlichen aus Migrantenfamilien ungenügend lesen kann und dass die Unterschiede in den Schulleistungen zwischen sozialen Schichten sowie zwischen Jugendlichen aus einheimischen und aus eingewanderten Familien in der Schweiz gross sind, grösser als in andern Ländern. Was können Schulen in ihrer Alltagspraxis dagegen tun? Gesucht sind Strategien und Praktiken, die für alle SchülerInnen etwas bringen, für leistungsschwächere wie für leistungsstärkere, für Kinder schweizerischer wie auch anderer Herkunft. Das Zürcher Projekt «Qualität in multikulturellen Schulen» (QUIMS) ist ein Versuch in dieser Richtung. Am Beispiel einer Schule in Winterthur-Töss, einem Arbeiterquartier mit einem sehr hohen Migrantenanteil, werde ich unser Projekt vorstellen: Das Team der Lehrpersonen hat sich gemeinsam entschlossen, einen Schwerpunkt in der Leseförderung zu setzen. Es will die immer beschränkten Kräfte und Mittel auf eine der wichtigsten und wie auch die PISA-Studie zeigt problematischsten Fragen hin bündeln. Zuerst bildeten sich die Lehrpersonen einen Tag lang weiter und lernten dabei die neusten Erkenntnisse zur Leseförderung kennen. Die LehrerInnen legten Ziele in der Leseförderung fest und machten sich einen Plan. Sie setzen dabei auf das, was sie in der Weiterbildung gelernt haben: den wichtigsten Einfluss auf gute Lesekompetenzen haben die Freude am Lesen und die Lesenmenge. Schrittweise realisieren sie ihre Vorhaben: Gemütliche Leseecken werden in allen Klassenzimmern eingerichtet. Die Schul- und Klassenbibliotheken werden mit einem vielfältigen Leseangebot ausgerüstet: Texte mit einer Vielfalt von Protagonisten (Mädchen, Knaben, zweite Generation, aus der Schweiz und aus andern Ländern,...), Romane und Sachbücher, auch einfache Texte, auch Bücher in den verschiedenen Muttersprachen der Kinder. Eine Stunde pro Woche haben alle Kinder in jeder Klasse Zeit für freies Lesen, verbunden mit der Auflage, ein Lesetagebuch zu führen und ab und zu den Klassenkameraden eine Lektüre vorzustellen. Zweimal pro Jahr liest ein Autor/eine Autorin vor. Die Eltern kommen in grosser Zahl zu einem Elternabend, an dem über das Lesen zu Hause informiert und diskutiert wird. Ein Referat auf Deutsch gibt konkrete Empfehlungen dazu. In Sprachgruppen in verschiedenen Klassenzimmern erläutern KulturvermittlerInnen die Empfehlungen und diskutieren sie mit den Eltern in ihrer Sprache. Es geht sehr lebhaft zu und her, die Eltern stellen Fragen und sprechen über ihre Schwierigkeiten. 2
In einer «Lesenacht» lesen Kinder und Erwachsene vor, auch das in verschiedenen Sprachen, und sie feiern mit Essen und Musik. Das ganze Massnahmenbündel wird überprüft und reflektiert. Die SchülerInnen füllten beim Start der Aktionen und anderthalb Jahre später einen Fragebogen über ihre Lesegewohnheiten aus. Es zeigte sich, dass sich die Lesemenge und die Lesefreude in der Schule verbessert haben, jedoch zu Hause noch keine grossen Änderungen festzustellen sind. Die Lehrkräfte beschliessen, die Arbeit mit den Eltern noch zu verstärken und dafür auch vermehrt mit den Lehrpersonen der Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) zusammenzuarbeiten. Dieses Beispiel soll illustrieren, was die pädagogische Fachwelt empfiehlt: Integration ist Aufgabe der ganzen Schule, muss von der ganzen Schule getragen und hoch gewichtet werden, wenn sie gelingen soll. Es geht, um im Fachjargon zu sprechen, um gemeinsame pädagogische Schulentwicklung. Es genügt nicht, einzelne Spezialmassnahmen wie Aufnahmeklassen oder zusätzlichen Deutschunterricht für Fremdsprachige zu führen und zu erwarten, diese könnten die Integrationsaufgabe für die ganze Schule lösen. Integration als Aufgabe der kommunalen und kantonalen Schulbehörden Selbstverständlich geschieht das Entscheidende in den Schulen, bei den Kindern und ihren Lehrpersonen. Diese brauchen jedoch in der Integrationsaufgabe die Unterstützung der Behörden. Und zwar in zweierlei Hinsicht: a) Unterstützung der einzelnen Schulen Die Integrationsarbeit, wie ich sie an einem Beispiel beschrieben habe, wird eher angepackt und gelingt eher, wenn dafür gute Rahmenbedingungen bestehen. Im Projekt QUIMS versucht der Kanton Zürich Anreize und Unterstützung zu geben. Konkret bekommt die oben beschriebene Schule folgende Unterstützung: Fachliche Beratung und Weiterbildung; Personal- und Materialkosten für pädagogischen Projekte und für die Arbeit mit den Eltern können bezahlt werden; Lehrpersonen werden für die Arbeit in ihrem Schwerpunkt finanziell entschädigt. Dafür dient ein Stundenpool bis 10 Wochenstunden für die gesamte Schule; pro Schule und Schuljahr stehen für alle diese Zwecke bis 50'000 Franken zur Verfügung. Solche Unterstützungsleistungen können Schulen im Kanton Zürich beantragen, wenn sie einen Anteil von Kinder aus Migrationsfamilien über 50% aufweisen. Wichtig scheint mir das Prinzip, dass Kantone und Gemeinden den Schulen nicht nur Aufgaben zuweisen, son- 3
dern auch Mittel zur Verfügung stellen. Wichtig ist auch, diese Mittel auf zielgerichtete und wirkungsversprechende Arbeiten zu konzentrieren. b) Reform in Richtung eines guten Schulangebots und einer guten Schulstruktur Die Kantone haben für ein Schulangebot und eine Schulstruktur zu sorgen, die allen Kindern auch denjenigen aus sozial benachteiligen und eingewanderten Familien gleiche und gute Chancen gewährt. Wie bereits in verschiedenen Kantonen, in der schweizerischen Erziehungsdirektorenkonferenz und im Anschluss an die PISA-Studie auch international diskutiert worden ist, sollten die Reformen an den bestehenden Strukturen folgende Bereiche angehen: familienergänzende Tagesbetreuung, insbesondere eine frühe Förderung der Kinder durch ein gutes Krippenangebot; frühe Lern- und Sprachförderung in einer Basis- oder Grundstufe (dabei geht es nicht um frühen Leistungsdruck, sondern um den frühen Kontakt mit Lesen, Schreiben und Rechnen sowie eine Verlängerung der obligatorischen Schulzeit um ein Jahr); integrative Sonderpädagogik, das heisst Rückbau der segregativen Sonderklassen, die an vielen Orten schulische «Ausländergettos» sind; integrative Sekundarstufe I, weil leistungsgemischte Lerngruppen viel besser für das Lernen der Schwächeren sind und zudem auch den Besseren nicht schaden, wie die erfolgreichsten Bildungssysteme wie Finnland, Kanada oder Australien zeigen; ein schulisches Gesamtsprachenkonzept, das Deutsch/Französisch als Zweitsprache und die Kurse in heimatlicher Sprache und Kultur (HSK) hoch gewichtet; eine hochstehende Aus- und Weiterbildung für LehrerInnen an den neuen Pädagogischen Hochschulen mit obligatorischen Modulen zur Interkulturellen Pädagogik und zu Deutsch/Französisch als Zweitsprache. Im November 2002 haben die Stimmberechtigten im Kanton Zürich zu einer Volksschulreform, die einige, wenn auch nicht alle der oben genannten Elemente enthielt, Nein gesagt. Die Reformfreunde werden sicher wieder versuchen, pädagogisch begründeten Reformvorhaben in neue Gesetzesvorschläge einzubringen. Vielleicht wird es mit einer nächsten, etwas abgespeckten Vorlage klappen. Ich bin überzeugt, dass eine integrative und fördernde Struktur der Volksschule wichtiger für die Integration ist als Spezialmassnahmen. Integration als allgemeine staatliche und öffentliche Aufgabe Die Schulen und das Bildungswesen können die Integrationsaufgaben nicht alleine bewältigen. Die Gesellschaft und der Staat auf allen seinen Ebenen haben ihren Teil zu leisten. Auch dazu einen Blick auf den aktuellen Zürcher Versuch: Der Kanton hat angestossen durch das Kantonsparlament einen Expertenbericht verfassen lassen, um Ziele und Mass- 4
nahmen einer kohärenten und gesamtheitlichen Ausländer- und Integrationspolitik zu bestimmen. Dazu gehören Vorschläge, die für das Bildungswesen von hohem Interesse sind, wie beispielsweise: Erwachsenen Eingewanderten sollen Deutsch-Kurse und Kurse in sozialer Orientierung angeboten werden. Die Kurse sollen mit Bundes- und Kantonsbeiträgen unterstützt werden. Die soziale Durchmischung beim Wohnen soll über die öffentliche Wohnbauförderung verbessert werden. Heute ist in den subventionierten Wohnungen der Ausländeranteil kleiner als in der Gesamtbevölkerung. Die politische Mitbeteiligung und Mitverantwortung der Eingewanderten in konsultativen Gremien soll gefördert werden. Ein Stimm- und Wahlrecht ist zwar wünschenswert, aber politisch zur Zeit kaum mehrheitsfähig. Diese und viele andere Vorschläge hat die Zürcher Regierung wohlwollend zur Kenntnis genommen. Der politische Wille wird sich vor allem in der Umsetzung der Vorschläge zeigen. In einem ersten Schritt wird ab 2003 eine in der Verwaltung hoch postitionierte Koordinations- und Kommunikationsstelle eines kantonalen Integrationsbeauftragten eingerichtet werden. Ein jährlicher Kredit von 650'000 Franken für die Förderung von Integrationsprojekten steht seit 2000 zur Verfügung. Bund und Kanton machen damit Fortschritte im Unterstützen der Integration. Ähnliches gilt auch für die grösseren Städte (Zürich, Winterthur und Uster). Angesichts der anstehenden Aufgaben ist jedoch noch keineswegs ein Optimum erreicht. Auf den Quantensprung warten wir noch. Ob ein Quantensprung eintritt, hat in unserer direkten Demokratie letztlich mit dem Volkswillen zu tun. Eine der vordringlichsten Aufgaben einer allgemeinen Integrationspolitik ist es daher, nüchtern über die Realitäten, den Nutzen und die Kosten der Migrationen auf der Welt und in die Schweiz zu informieren. Seit langem beherrschen die Probleme zugespitzt im Wort «Asylmissbrauch» den Diskurs. Es gilt die Agenda anders zu besetzen: Migration ist Normalität, Migration bringt hohen Nutzen ohne Immigration keinen Erhalt des Wohlstandes und der Sozialversicherungen. Die Basis für die Lösung der Probleme des Zusammenlebens bilden die Menschenrechte, das heisst der Respekt vor jedem Individuum, und nicht das Denken in oft abwertenden Kategorien wie die «Ausländer», die «Asylanten». Nur mit ausdauernden, offensiven, gelassenen, versachlichenden, nicht polarisierenden öffentlichen Debatten wird es gelingen, Mehrheiten für eine gute Integrationspolitik zu finden. Es genügen dazu weder die Medien noch die politische Linke. MeinungsführerInnen aus allen Parteien und überparteiliche Persönlichkeiten aus Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur, Kirchen und Sport spielen eine wichtige Rolle, und zwar auf allen Ebenen von der nationalen Bühne bis in die Quartiere und Nachbarschaften. 5
Literaturhinweise: Erziehungsdirektorenkonferenz und Bundesamt für Statistik (Hrsg., 2002). Für das Leben gerüstet? (nationaler PISA-Bericht) Mächler S. und Autorenteam (2000). Schulerfolg: kein Zufall. Ein Ideenbuch zur Schulentwicklung im multikulturellen Umfeld. Lehrmittelverlag des Kantons Zürich (das Buch aus dem Projekt «Qualität in multikulturellen Schulen») OECD (2001).Lernen für das Leben erste Ergebnisse von PISA 2000 (internationaler PI- SA-Bericht) Website zum Projekt «Qualität in multikulturellen Schulen»: www.quims.ch 6