Sozialpsychologische Aspekte von Migration und Integration

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Transkript:

Sozialpsychologische Aspekte von Migration und Integration Diskriminierungen und Rassismus Diskriminierung und deren besondere Form, der Rassismus, sind universelle Phänomene. In allen Völkern und Kulturen finden sich Vorbehalte gegenüber Menschen aus bestimmten, jeweils anderen ethnischen Gruppen. Auch Professionelle, die sich kritisch prüfen, werden feststellen, dass sie selber nicht frei davon sind. Solche Vorbehalte sind Teil von Kultur und wurden über lange Zeit von einer zur anderen Generation weitergegeben. Über Jahrhunderte gewachsene Vorurteile, Holocaust, Kriege mit all ihren Gräuel Diktaturen, Kolonialismus und Sklaverei haben Befangenheiten geschaffen, die von allen Seiten einen Einsatz fordern, wenn man sich trotz Vorbehalten annähern und schrittweise Vertrauen aufbauen will. Es gilt daher für Professionelle zu bedenken, dass viele Klienten nachvollziehbare Vorbehalte gegenüber den Repräsentanten der Mehrheitskultur und des Staates und seiner Institutionen haben. Viele können über erschütternde und für das Aufnahmeland beschämende Beispiele für Diskriminierungen berichten, die auf Abstammung gerichtet sind und nicht auf Verhalten. Deshalb haben professionelle Helfer die Aufgabe, proaktiv Signale zu setzen, dass es in Ordnung ist, auch diese Themen anzusprechen. Eigene Befangenheiten direkt in einer respektvollen Weise zu thematisieren ist sicher besser, als durch subtile Irritationen die sicher ebenso große Befangenheit bei den Klienten zu vertiefen. Professionelle Helfer sollten nicht übersehen, dass Diskriminierung nicht nur ein individueller Akt ist. Solche ist leicht zu erkennen; unmittelbare persönliche Diskriminierung erfährt auch eher eine Rückmeldung und ist daher gegebenenfalls leichter zu beeinflussen. Viel schwieriger ist es, strukturelle und durch institutionelle Abläufe bedingte Diskriminierungen zu erkennen und schrittweise abzubauen. Wir alle neigen dazu, Menschen mehr oder weniger stark stereotypen Gruppen zuzuordnen. Menschen in Stresssituationen diese haben psychosozialen Mete Tuncay Seminar Migration und Glücksspielsucht München,18.05.2011 1

Versorgungsbedarf sind empfindlich, besonders wenn sie mehrfach und immer wieder wegen einer solchen stereotypen Zuordnung benachteiligt wurden. Daher gilt es, die eigenen Dienste von Zeit zu Zeit kritisch daraufhin zu überprüfen, welche strukturellen Benachteiligungen die Routinen für einzelne Gruppen bedeuten, sei es wegen ihrer Sprachkompetenz, ihrer kulturellen Eigenheiten, ihrer Art, als Familie zusammenzuleben, ihrer Religion, ihrer Geschlechtsrollenverständnisse und vielem mehr. Zum Unterschied zwischen Kultur und Migration Migration verändert in bedeutsamer Weise kulturelle Muster. Sie ist ein weltweites und die gesamte Menschheitsgeschichte prägendes Phänomen. Zu allen Zeiten haben Menschen ihre Heimat verlassen und sind in neuer Umgebung ansässig geworden. Zeiten starker Migration wechseln mit solchen eher ausgeprägter Sesshaftigkeit. Migration greift in das Leben der Betroffenen und ihre Identität in vielfacher Weise ein. Sie kann traumatisch sein oder als Befreiung erlebt werden. Mit Migration verbundene Erwartungen können sich erfüllen oder enttäuscht werden. Das Erleben ethnischer Zugehörigkeit kann sich intensivieren oder auflockern. Die Mehrzahl der Betroffenen erleben höchst variable Zwischenformen, die von kulturellen Werten, den Reaktionen der unterschiedlichen Vertreter der Aufnahmegesellschaft, Sprachkompetenzen und vielen anderen Kontextfaktoren abhängen, die alle aufeinander einwirken. Daher bewähren sich Konzepte, welche nicht nur die psychischen und psychologischen Dimensionen von Migration für Individuen und Familien veranschaulichen. Migration ist einerseits ein sehr persönlicher Prozess. Politische, wirtschaftliche und ökologische Entwicklungen prägen diesen Prozess in ganz verschiedener Weise. Es macht eben einen Unterschied, ob die Übersiedlung in ein anderes Land langfristig vorbereitet und geplant und als Karriereschritt erlebt werden kann, wie dies bei Studenten oder Expatriates internationaler Firmen der Fall ist. Anders ist es, wenn wirtschaftliche Not, kriegerische Ereignisse, ethnische oder religiöse Diskriminierung, politischer Terror oder ökologische Katastrophen mir keine andere Wahl lassen, als die Heimat zu verlassen. Auch macht es einen Unterschied, ob alleine oder als Mitglied einer Familie oder Gruppe gegangen wird; ob man im Aufnahmeland willkommen und gut versorgt ist oder ausgegrenzt wird und man sich durchkämpfen muss. Trotz der großen Bandbreite unterschiedlicher Anekdoten und Skripte aus den unterschiedlichen Kulturen und Familien zeigen Migrationsprozesse sowohl über kulturelle Grenzen hinweg wie auch innerhalb ähnlicher Kulturräume eine erstaunliche Mete Tuncay Seminar Migration und Glücksspielsucht München,18.05.2011 2

Regelhaftigkeit. Es scheint, dass, sobald wir unsere Aufmerksamkeit eher auf Muster richten als auf Inhalte, sich ein Modell des Migrationsprozesses aufzeigen lässt, welches einen recht hohen Grad kulturübergreifender Validität hat. Dazu möchte ich hier das Modell von Carlos Sluzki vorstellen, das ebenso wie das Kulturkonzept von Falicov besonderen Wert auf Dynamiken und Kontexte legt. Stadien der Migrationsprozesse 1. die Vorbereitungsphase 2. der Migrationsakt selbst 3. die Phase der Überkompensierung 4. die Phase der Dekompensation 5. die Phase der generationenübergreifenden Anpassungsprozesse Jede dieser Stadien zeichnet sich durch charakteristische Abläufe und typische familiäre Bewältigungsmuster aus. Sie lösen aber ebenso typische Konfliktsituationen mit entsprechenden Symptomkomplexen aus. Jede dieser Migrationsphasen wird im Folgenden detaillierter beschrieben. Anschließend werden einige allgemeine Empfehlungen für den vorbeugenden und therapeutischen Umgang gegeben, die sich bei Familien mit migrationsspezifischen Problemen bewährt haben. Mete Tuncay Seminar Migration und Glücksspielsucht München,18.05.2011 3

1. Die Vorbereitungsphase Der Vorlauf zur Migration beginnt dann, wenn von einzelnen Familienmitgliedern erste Schritte getan werden, sich mit Auswanderung überhaupt zu beschäftigen. Der zeitliche Ablauf dieser Phase variiert je nach äußeren Umständen, hängt aber genauso von Lebensstil und Zeitrhytmus der einzelnen Familie ab. Entscheidungen können aus dem Moment heraus getroffen werden (bei existenzieller Bedrohung oder Entlassung aus der Haft) oder über Jahre immer wieder neu bedacht werden. Im Verlauf dieser Auf und Abs zeigt sich, dass bereits erste Arrangements über die mit der Migration notwendig werdende Neuverteilung von Rollen in Familien gefunden werden müssen. Neue Rollen, die in dieser Phase ausprobiert werden, können später fest etabliert werden, sobald die Migration tatsächlich stattfindet. Trotz der Tatsache, dass derartige Prozesse im Allgemeinen Folge von kollektiven Entscheidungen sind, werden häufig einzelne Personen als verantwortlich oder motivierend für die Migration beschrieben. Mögliche Komplexität erzeugende Fragen: Wer bestand in Ihrem Fall auf die Migration, und hat sich daraufhin Ihre Lage tatsächlich verbessert? Wer hat am meisten verloren/gewonnen? Mete Tuncay Seminar Migration und Glücksspielsucht München,18.05.2011 4

Sorgfältig ist darauf zu achten, was es auch in Fällen, in denen die Migration positiv motiviert ist und die Erwartungen durch diese übertroffen werden konnten, zu betrauern gibt, welchen Raum diese Trauer für Einzelne haben darf. Umgekehrt gilt es, in Familien, die einer existenziellen Bedrohung entkommen sind, darauf zu achten, wer an die Vergangenheit gefesselt bleibt. Diese Migrationsprozesse zeigen eine kollektive Notwendigkeit auf: sich sowohl auf die neue Realität einzulassen als auch Schuld und Verantwortung zu tragen. 2. Der Migrationsakt selbst Migration ist ein transitorischer Prozess, für den keine überlieferten Rituale vorgesehen sind. In den meisten Kulturen sind Migranten sich selber überlassen, um für diesen schmerzhaften Akt persönliche Rituale zu finden. Auch wenn der Migrationsakt vielleicht nur kurz ist, kann der transitorische Prozess emotional und sozial in vielen Fällen über längere Zeiträume andauern. Dies gilt, wenn Menschen vor Kriegen flüchten oder wenn sie in verschiedenen Ländern Zwischenstopps einlegen müssen oder in Unterkünften oder Internierungslagern leben ohne gesicherten Rechtsstatus. Ein derart protrahierter Prozess kann zur Ausbildung von starken Bindungen zwischen Menschen derselben Schicksalsgemeinschaft führen, die als Teile eines Netzwerks so bedeutsam werden können wie die Hinterlassenen in der Heimat. Demnach stellt die Bindung und Fokussierung an die eigene ethnische Gruppe aus biopsychologischer Sicht eine als gesunde und logische menschliche Reaktion dar. Ablauf und Stil des Migrationsaktes können beträchtlich variieren. Es gibt Familien, die alle Brücken abbrechen und die Migration als etwas Endgültiges und Unwiderrufliches erleben. Es gibt andere, die sich jahrelang versichern, dass sie nur für eine kurze Zeit migrieren und dann zurückkehren, wie unwahrscheinlich dies auch sein mag. Andere planen Probephasen ein, um dann zwischen verschiedenen Ländern zu wählen. Einige Familien migrieren im Verbund und ins Unbekannte, während andere das Feld im Voraus sorgfältig erkunden. Einige Familien kommen legal und haben damit Zugang zu den offiziellen Institutionen des Gastlandes, während andere illegal kommen, was Misstrauen auf beiden Seiten zur Folge hat. Mete Tuncay Seminar Migration und Glücksspielsucht München,18.05.2011 5

3. Die Phase der Überkompensierung Im Gegensatz zu landläufigen Meinungen sind die emotionalen Belastungen der Migration nicht während der ersten Wochen und Monate nach Ankunft am größten. In dieser Zeit kann eher ein Höchstmaß an Anpassung beobachtet werden, welche mit einer Aufteilung von Rollen verbunden ist. Instrumentelle und affektive Rollen dienen dazu, die Grundvoraussetzungen für Überleben und Anpassung in einer Umwelt und einer Kultur zu schaffen, die mehr oder weniger fremd sind. In der Anfangszeit unmittelbar nach der Migration ist die Erfüllung der Basisbedürfnisse, welche das Überleben sichert, oberste Priorität. Es wundert daher nicht, dass Verdrängung oder Verleugnung von Unstimmigkeiten zwischen Erwartungen und Realität hier am Ausgeprägtesten ist. Es ist häufig zu beobachten, dass Neuimmigranten eine besonders scharfe Beobachtungsgabe ausweisen, während ihr generelle Bewusstheit in Bezug auf Komplexitäten eher reduziert erscheint. Tatsächlich schaffen es die meisten Familien, über Monate einen relativ gut funktionierenden Anpassungs- und Akkulturationsprozess zu etablieren. Konflikte treten eher in den Hintergrund, allenfalls erscheinen familientypische Regeln und Stile ein wenig akzentuierter. Eine Bewältigungsstrategie, die dann gelegentlich gewählt wird, ist dann die kollektive Pflege des Mythos der Rückkehr. Familien hängen dann in besonderer Weise an den Normen und Werten des Heimatlandes und weigern sich, sich auf die neue Welt einzulassen. Auch diese Strategie trägt nur eine begrenzte Zeit, bis die Träume und Sehnsüchte unter dem Druck der Realität zusammenbrechen, was dann heftige Krisen auslösen kann (Verweis auf die hohe Affinität für psychosomatische Erkrankungen). 4. Die Phase der Dekompensation Während dieser Zeit ist die Hauptanforderung für jüngst migrierte Familien und Personen, eine neue Realität zu gestalten und sowohl die Kontinuität der Familie zu erhalten als auch die Fähigkeit auszubilden, sich an die neue Umwelt anzupassen. Diese beiden Facetten des gleichen Ziels können miteinander konkurrieren und erfordern deshalb sinnvolle Kompromisse. Diesen Ausgleich zu schaffen ist heikel und schwierig, und die gemeinsame Aufgabe ist komplex und schmerzhaft, aber unausweichlich. Nicht selten schleicht sich dann die Krise durch den Nachwuchs in die Familie ein, denn Kinder passen sich der neuen Kultur und der neuen Sprache viel schneller an als Eltern, was zu Konflikten zwischen den Generationen führen kann. Mete Tuncay Seminar Migration und Glücksspielsucht München,18.05.2011 6

Viele Familienregeln und -werte, die sich in der Heimat bewährt haben, können sich in einem neuen Land als weniger hilfreich herausstellen. Um sie zu ändern, muss man sich erst einmal auf schwierige und komplexe Regeln über das Ändern von Regeln einigen. Viele Menschen stehen mit der Migration erstmalig vor dieser Aufgabe. Die Auswirkungen sowohl der Stärken wie der Schwächen familiärer Bewältigungsmechanismen sind im Kontext einer fremden Kultur kumulativ und zeigen sich oft erst nach Monaten oder gar Jahren. Viele Familienregeln erweisen sich als durchaus hilfreich für beide Kulturen und bedürfen keiner Änderung. Andere aber durchlaufen Veränderungen, die Auswirkungen auf die Rollenverteilung und Normen für alle Familienmitglieder haben. Muster können auf Kosten einer großen Entfremdung von der außerfamiliären Welt erhalten werden um des Zusammenhalts willen. Muster können aber auch auf Kosten des Zusammenhalts zu rasch geändert werden um der Anpassung willen. Es gibt viele Familien, denen es gelingt zu betrauern, was zurückgelassen werden musste, und die dies in eine neue Mischung von alten und neuen Regeln, Modellen und Gewohnheiten konstruktiv integrieren können. Für solche überwiegen die positiven Erfahrungen den Stress der Trennung, und sie kommen oft erst nach einigen Jahren gestärkt mit einer neuen individuellen und kollektiven Identität aus diesem Prozess heraus. In anderen Familien dagegen wird das, was in der Heimat zurückgelassen werden musste, zunehmend idealisiert (was die Anpassung erschwert) oder verleugnet (was die Trauer und die Verarbeitung des Verlustes erschwert). Innerfamiliäre Konflikte lassen die Familie oder einzelne Mitglieder dann Symptome entwickeln, weswegen sie psychosoziale Hilfe succhen (im Idealfall!). Dafür, dass aufgestauter Stress, Spannungen, Schmerz oder Konflikt ausgedrückt oder bewältigt werden können, bieten sich dann je nach Vulnerabilität sozial akzeptable und interaktionell recht machtvolle Muster an wie somatische Beschwerden oder psychische Probleme oder bei Jugendlichen weniger akzeptable wie Delinquenz oder Sucht. 5. Die Phase der generationenübergreifenden Anpassungsprozesse Familien vermitteln als wichtigstes Sozialisierungsmedium ja nicht nur die Normen und Werte ihrer Kultur im Allgemeinen, sondern auch die ganz speziellen Stile, Sitten, Werte und Mythen, die die ganz eigene Familiensicht und -geschichte widerspiegeln. Es überrascht daher nicht, dass jede Verzögerung eines familiären Anpassungsprozesses offensichtlich wird, wenn eine neue Generation in dem Aufnahmeland nachwächst. Was Mete Tuncay Seminar Migration und Glücksspielsucht München,18.05.2011 7

auch immer von der ersten Generation vermieden wurde, wird in der nächsten wieder aktuell, meistens in Form eines Generationenkonflikts. Solche Konflikte drücken sich am krassesten in Familien aus, die in Ghettos leben, sei es aus eigenem Entschluss oder durch äußeren Zwang. Dort aufwachsende Migrantenkinder, die aktiv den Kontakt mit der weiteren Gesellschaft pflegen durch die Schule, die Medien oder durch formellen und informellen Austausch auf unterschiedlichen Ebenen neigen zu heftigeren Konflikten mit ihren Eltern, was Werte, Normen und Haltungen angeht. Alle Familien müssen sich Ablösungsprozessen stellen. Diese Konflikte spielen sich aber eher auf einer interkulturellen als auf einer innerfamiliären Ebene ab. Mete Tuncay Seminar Migration und Glücksspielsucht München,18.05.2011 8