1 Dr. med. Margot Enz, Hausärztin Baden: "Sterben - ein Balanceakt zwischen individuellem Wunsch und kollektiver Möglichkeit" Geschätzte Anwesende Erlauben Sie mir, Sie gleich zu Beginn meiner Ausführungen zu einem kleinen Experiment einzuladen. Jeder von uns wird einmal sterben. Vielleicht haben Sie sich auch bereits mehr oder weniger konkrete Vorstellungen darüber gemacht, wie und wo Sie einmal sterben möchten. Wie frei denken Sie, werden Ihre Angehörigen ehrlich und realistisch auf diese Ihre Wünsche eingehen? Werden sie einfach aus Liebe oder Pflichtgefühl JA sagen, oder werden sie auf ihre eigenen Möglichkeiten, ihre gesundheitlichen, familiären und beruflichen Ressourcen achten? Versuchen Sie nun im Folgenden auch immer wieder diese Position des sterbenden Menschen einzunehmen. Welche Voraussetzungen für ein würdevolles, selbstbestimmtes Sterben müssten für Sie erfüllt werden? und welche Erwartungen hätten Sie an Ihre Angehörigen und andere Menschen, die Sie dabei begleiten? Auf diese Weise wird es uns besser gelingen, das Thema von beiden Seiten her zu betrachten und uns dabei der zentralen Frage auch emotional zu nähern, nämlich wie schaffen wir den Balanceakt zwischen Solidarität gegenüber dem sterbenden Menschen und unseren persönlichen Möglichkeiten? Die Vorstellungen über das Sterben werden sehr stark von kulturellen, religiösen und spirituellen Aspekten geprägt. So gibt es Menschen, die sich zum Sterben zurückziehen und die Gesellschaft verlassen, um in der Stille wieder mit sich selbst in Einklang zu kommen. Ein eindrückliches Beispiel dafür gibt Terziano Terzani in seinem Buch Noch eine Runde auf dem Karussell. Nachdem er erfährt, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist, begibt er sich auf die Suche nach Heilung. In der Abgeschiedenheit des Himalayas findet er zu sich selbst und den Grundfragen der menschlichen Existenz. Umgekehrt kehren in unserer Gesellschaft, die immer stärker von der Individualität eines jeden einzelnen geprägt wird, die Menschen zum Sterben häufig und gerne zu ihren Nächsten an den Ursprung ihres Daseins zurück.
2 Und dann gibt es natürlich auch jede vorstellbare Kombination und v.a. die Veränderungen in Bezug auf die eigenen Wünsche und Vorstellungen, welche sich erst im Laufe eines Sterbeprozesses einstellen. Ich möchte Ihnen dazu gerne ein Beispiel aus meiner eigenen Praxis erzählen. Ein 52 jähriger Patient war an einem unheilbaren Hirntumor erkrankt. Beim Ausfüllen der Patientenverfügung äusserte er die Absicht, in einer Institution zu sterben. Die gemeinsame Wohnung sei zum Leben da und nicht zum Sterben. Als er von seiner Partnerin nicht mehr alleine versorgt werden konnte, war für mich der Zeitpunkt zur Verlegung gekommen, denn klar genug hatte der Patient seinen Willen geäussert. Die Partnerin fühlte sich unsicher, insbesondere auch durch die Ermunterung von einer Fachperson, sie werde mit externer Unterstützung schon durchhalten, das Ende sei ja absehbar. Es entstand ein echtes Dilemma: sollte sie dem früher geäusserten Wunsch des Sterbenden entsprechen oder bis zuletzt eine sogenannt gute Partnerin bleiben und ihn zu Hause betreuen? Nun war eine klare Haltung gefragt und ich setzte mich durch. Der Patient, der nicht mehr zurechnungsfähig war, wurde in eine Institution verlegt, welche wir bereits vorgängig bestimmt hatten. Entlastet von der Pflege und Betreuung des Sterbenden konnte die Frau wieder ihre ursprüngliche Rolle einnehmen, nämlich diejenige der Partnerin. Die Entspannung war greifbar. Sie konnte ihren Mann zu jeder Zeit besuchen und auch über Nacht bei ihm bleiben. In Ruhe nahmen Sie Abschied von einander. Mehrere Jahre später versicherte mir die Hinterbliebene, der Entscheid sei damals richtig gewesen. JA er hätte noch früher gefällt werden sollen, denn die Kräfte raubende Zeit während der Heimpflege habe bei ihr noch zu einem langen Nachspiel geführt. Und dennoch, die Frage nach dem Sterbeort ist schon fast eine rhetorische. Wer wünscht sich nicht, zu Hause zu sterben? Über 90% der Menschen möchten das, doch nur in etwa 25 % gelingt es auch. Das wohl grösste Problem bezüglich Versorgung am Lebensende ist der demographische Wandel und die Vorstellung unserer Gesellschaft von Leben und Sterben. Die Ehepartner sind häufig auch sehr alt oder gar nicht mehr vorhanden. Das Sterben zu Hause scheitert in der Regel am Fehlen von intakten sozialen Strukturen. Es braucht die Möglichkeit, sich rund-um-die-uhr Hilfe zu besorgen. Die Pflege von alten und schwerkranken Menschen bedeutet für die Familie eine riesige Herausforderung, die selten ohne externe Hilfe gemeistert werden kann. Diese wiederum ist teuer und oft über längere Zeit nicht leicht organisierbar. Eine bedarfsgerechte Versorgungsstruktur für Schwerstkranke und Sterbende muss ausserdem in einem politischen Prozess erst noch herbeigeführt werden.
3 Nun stellt sich die Frage, weshalb denn möchten die meisten Menschen zu Hause sterben? Was erwarten sie? Wenn wir uns überlegen, was die Menschen am Lebensende brauchen, so sind es Vorbeugung und Linderung von Leiden und Geborgenheit. Dafür sind die frühzeitige Erkennung und hochkompetente Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen, körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Natur entscheidend. Voraussetzungen, dass dies gelingen kann, sind gute Kommunikation Medizinische Therapie Psychosoziale Betreuung Spirituelle Begleitung Ich möchte im Folgenden nun kurz auf diese einzelnen Punkte eingehen. Eine gute Kommunikation ist Voraussetzung für jede zwischenmenschliche Beziehung, ganz speziell aber auch bei der Sterbebegleitung. Dies gilt für die Arzt-Patienten- Beziehung, genau so wie auch für die Kommunikation innerhalb der Familie. Ist es nicht häufig so, dass Partner sich gegenseitig etwas vormachen, um den jeweils anderen zu schützen? Sind Angst und Schuldgefühle nicht oft grosse Hindernisse für eine ehrliche Kommunikation? Die Medizinische Therapie im engeren Sinn ist für die Palliativbetreuung am Lebensende unverzichtbar. Die effektive Linderung von Schmerzen und Atemnot sollte zur Selbstverständlichkeit werden. Es ist entscheidend, dass die Menschen keine Angst mehr haben müssen, aufgrund von nicht therapierbaren Symptomen qualvoll zu sterben. Der Sterbende hat unabhängig vom Sterbeort Anrecht auf eine optimale medizinische Betreuung und damit auf ein menschenwürdiges Sterben. Keiner stirbt für sich allein die Mitbetreuung des sozialen Umfelds ist von grosser Bedeutung und erfordert oft noch mehr Zeit und Einsatz, als die Begleitung des Patienten selber. Es sollte zur Gewohnheit werden auch immer nach dem Wohlbefinden der Familie, des Partners und, was speziell wichtig ist, der Kinder zu fragen. Masha Kaléko, die deutsch-jüdische Lyrikerin aus dem 20. Jh, brauchte folgende Worte: Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tod derer, die mir nahe sind. Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? Kennen Sie diese Gedanken auch? Unter Spiritualität verstehen wir in der Medizin die innere Einstellung, das persönliche Suchen nach Sinngebung eines Menschen, mit der er Erfahrungen des Lebens und insbesondere auch existentiellen Bedrohungen zu begegnen versucht. Spiritualität ist eine hochpersönliche innere Angelegenheit, die etwas mit Lebenssinn zu tun hat und in schweren
4 Situationen eine Ressource für den Einzelnen sein kann. Es ist klar, dass all diese Bereiche nicht von der Familie alleine abdecket werden können. Entscheidend sind gute Versorgungsstrukturen, worauf die Angehörigen bei der Begleitung von Sterbenden aber auch der Pflege von Hochbetagten zurückgreifen können. Ich denke da an spezialisierte ambulante Care-Teams aber auch an halbstätionäre Einrichtungen (z.b. Tageskliniken), welche die Familie entlasten können. Nicht zu vergessen sind natürlich die unzähligen Dienstleistungs-angebote. Ich möchte stellvertretend den Hospizverein mit seinen freiwilligen Begleiterinnen und Begleitern nennen, welche mit ihrem Einsatz den Sterbenden und seine Angehörigen in der Bewältigung ihrer besonderen Situation unterstützen. Eine wichtige Rolle kommt auch den Hausärzten zu. Nur mit einer entsprechenden Aus- und Fortbildung sowie einer leistungsgerechten Vergütung werden die Hausärzte auch in Zukunft die physischen, emotionalen und logistischen Strapazen einer guten häuslichen Sterbebegleitung auf sich nehmen können. Mit einem zweiten praktischen Beispiel möchte ich Ihnen die Wichtigkeit einer bedarfsgerechten Versorgungsstruktur für den Sterbeprozess aufzeigen. Eine 60 jährige geschiedene Patientin, welche an einem zweifachen Tumor erkrankt war, lebte alleine in einer Dachwohnung. Eine ihrer Töchter war nach USA ausgewandert und die andere war im Zeitpunkt des Sterbeprozesses der Mutter mit ihren kleinen Kindern völlig überlastet. Ein Freundeskreis hatte die Frau nicht. Eines Tages erzählte sie mir, sie möchte alle Medikamente absetzen, wohlwissend, dass das unweigerlich zum Tod führen musste. Auf Grund der Gesamtsituation ein verständliches Bedürfnis. Deutlich schwieriger hingegen liess sich ihr zweiter Wunsch realisieren, nämlich zu Hause zu sterben. Mit grossem Einsatz der Gemeinde-Spitex, der hochprofessionellen Unterstützung der Onko-Spitex, sowie der Präsenz der freiwilligen Begleiterinnen vom Hospitz-Verein während der Nacht gelang es, die Patientin während 10 Tagen zu Hause zu begleiten. Ich besuchte sie jeden Tag nach der Sprechstunde und koordinierte mich sehr gut mit dem Betreuungsnetz. Schliesslich schien sich die Reserve der Hilfskräfte aber doch zu erschöpfen. Man bat mich, der Sterbenden mitzuteilen, dass sie nun doch noch verlegt werden müsse. Kurz bevor ich bei ihr zu diesem Gespräch eintraf war sie verstorben. Ohne Unterstützung von Familie oder Freunden aber Dank enormem Einsatz des Betreuungsteams, konnte so der innige Wunsch der Frau erfüllt werden. Aus meiner Sicht kommt dem Ort des Sterbens aber eine untergeordnete Rolle zu. Viel wichtiger ist, dass die entsprechende medizinische Therapie verfügbar ist, eine offene und echte Kommunikation entstehen kann, die psychosozialen aber auch spirituellen Aspekte in genügendem Mass berücksichtigt werden und wenn immer möglich eine autonome Entscheidfindung des Sterbenden gewährleistet wird.
5 Beschliessen wir unsere kleine Reise in den Bereich des Sterbens und der Sterbebegleitung mit folgenden Gedanken vom dänischen Philosophen Sören Kierkegaard: Wenn wir jemandem helfen wollen, müssen wir zunächst herausfinden, wo er steht. Das ist das Geheimnis der Fürsorge. Wenn wir das nicht tun können, ist es eine Illusion zu denken, wir könnten anderen Menschen helfen. Jemandem zu helfen impliziert, dass wir mehr verstehen als er, aber wir müssen zunächst verstehen, was er versteht. Um das zu verstehen braucht es immer beide Sichtweisen. Ich wünsche daher uns allen einen nüchternen und gelassenen Blick auf die eigene Endlichkeit, der am besten im Dialog mit Menschen entstehen kann, die uns nahe stehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!