Julian Müller / Ludwig-Maximilians-Universität / Institut für Soziologie / SS 2014 Vorlesung Soziologische Theorien 16. Juni 2014 Pierre Bourdieu
Der Vorlesung über die Vorlesung, Lehrstunde in Fragen der»lehre«, sich in ihrem Vollzug reflektierende Rede, wäre zumindest zugute zu halten, daß sie eine der grundlegendsten Eigenschaften der Soziologie in dem von mir begriffenen Sinn nachdrücklich ins Gedächtnis hebt: Jede Aussage dieser Wissenschaft kann und muß zugleich auf das Wissenschaft treibende Subjekt selber wieder bezogen werden. [...] Die Soziologie der Soziologie [...] ist ein unerlässliches Instrument der soziologischen Methode. (Leçon sur la leçon. Frankfurt a.m. 1985: 49f.) 2
Je mehr die Sozialwissenschaft und ihre Verbreitung voranschreiten, desto stärker müssen die Soziologen darauf gefaßt sein, auf die in ihrem Forschungsgegenstand sich realisierte Sozialwissenschaft der Vergangenheit zu stoßen. (Leçon sur la leçon. Frankfurt a.m. 1985: 56) 3
Der Vorlesung über die Vorlesung, Lehrstunde in Fragen der»lehre«, sich in ihrem Vollzug reflektierende Rede, wäre zumindest zugute zu halten, daß sie eine der grundlegendsten Eigenschaften der Soziologie in dem von mir begriffenen Sinn nachdrücklich ins Gedächtnis hebt: Jede Aussage dieser Wissenschaft kann und muß zugleich auf das Wissenschaft treibende Subjekt selber wieder bezogen werden. (Leçon sur la leçon. Frankfurt a.m. 1985: 49f.) 4
Dies also wäre wohl zu lernen aus einer soziologischen Inauguralvorlesung, die gewidmet war einer Soziologie der Inauguralvorlesung. Ein Diskurs, der sich selbst zum Gegenstand nimmt, lenkt die Aufmerksamkeit weniger auf den Referenten, der durch jeden anderen Akt ersetzt werden könnte, als vielmehr auf jene spezifische Bezugnahme auf das, was man gerade tut, und darauf, worin dies sich unterscheidet vom schlichten, unmittelbaren Tun, vom, wie es so schön heißt: ganz bei der Sache sein. Diese reflexive Wendung hat, zumal wenn sie sich, wie hier, in der Situation selber vollzieht, etwas Ungewöhnliches, nahezu Taktloses: Sie bricht den Zauber, ernüchtert. Sie zieht den Blick darauf, was das unmittelbare Tun zu vergessen und zu vergessen machen sucht.... 5
... Sie registriert rednerische, rhetorische Effekte, die wie das Ablesen eines vorweg geschriebenen Textes im eindringlichen Duktus improvisierter Rede, zu beweisen und nachvollziehbar zu machen sucht, daß der Redner ganz bei der Sache ist, daß er glaubt, was er sagt, und daß die Aufgabe, die ihm überantwortet ist, seine volle Zustimmung findet. Diese reflexive Wendung führt eine Distanz ein, die beim Redner wie bei seinen Zuhörern den Glauben zu zerstören droht, der die gewöhnliche Voraussetzung für das erfolgreiche Funktionieren der Institution darstellt. (Leçon sur la leçon. Frankfurt a.m. 1985: 79f.) 6
Das Bild von einem Spiel ist vermutlich nicht die schlechteste Art, sich soziale Verhältnisse zu veranschaulichen. (Rede und Antwort. Frankfurt a.m. 1992: 85) 7
Allerdings ist es [das Bild vom Spiel] auch nicht ungefährlich. Denn von Spiel zu reden, das legt nahe, daß es am Anfang jemanden gab, der sich das Spiel ausgedacht, die Regeln festgelegt, gewissermaßen den Gesellschaftsvertrag gestiftet hat. Mehr noch: damit wird suggeriert, daß es überhaupt Spielregeln gibt, das heißt explizite, meistens schriftlich niedergelegte Normen usw. In Wahrheit ist alles sehr viel komplizierter. Unter Spiel lässt sich auch verstehen: daß eine Reihe von Leuten an einer geregelten Tätigkeit teilnehmen, einer Tätigkeit, die sich nicht notwendig aus der Befolgung von Regeln ergibt, sondern die bestimmten Regelmäßigkeiten gehorcht. Spiel ist der Ort, an dem sich eine immanente Notwendigkeit vollzieht, die zugleich eine immanente Logik ist. [...] Muß deshalb von Regel gesprochen werden? Ja und nein. Man kann es tun, vorausgesetzt, man unterscheidet klar zwischen Regel und Regelmäßigkeit. Das soziale Spiel ist geregelt, ist Regelmäßigkeiten unterworfen. Was darin geschieht, vollzieht sich auf regelmäßige Weise. (Rede und Antwort. Frankfurt a.m. 1992: 85) 8
Das heißt mit anderen Worten, daß ein Feld nur funktionieren kann, wenn sich Individuen finden, die sozial prädisponiert sind, als verantwortliche Akteure zu handeln, die ihr Geld, ihre Zeit, zuweilen ihre Ehre oder ihr Leben riskieren, um das Spiel in Gang zu halten, der Gewinne wegen, die es verspricht, und die doch, aus einer anderen Perspektive, als illusorisch erscheinen können was sie in der Tat immer auch sind, gründen sie doch auf der ontologischen Komplizenschaft zwischen Habitus und Feld, auf der wiederum der Eintritt ins (wie die Verhaftung ans) Spiel, die illusio, basieren. (Leçon sur la leçon. Frankfurt a.m. 1985: 75) 9
Worum es im Spiel geht, dessen konstitutive Werte, bilden sich aus der Verbindung von Spiel und Spiel-Sinn. [...] Der Antrieb oder die Motivation, wie es zuweilen heißt steckt weder im materiellen oder symbolischen Zweck des Handelns, wie der naive Finalismus, noch in den Zwängen des Feldes, wie die mechanistische Sicht es will. Er steckt in der Verbindung von Habitus und Feld, so daß der Habitus selber das mitbestimmt, was ihn bestimmt. [...] Die illusio im Sinne von Investition ins und Besetzung des Spiels wird Illusion, Selbsttäuschung, [...] nur im Blick von außerhalb des Spiels, vom Standpunkt des unparteiischen Betrachters aus, der nicht spielt und nichts einsetzt. (Leçon sur la leçon. Frankfurt a.m. 1985: 75) 10
Eine der Hauptfunktionen des Habitusbegriffs besteht darin, zwei einander ergänzende Irrtümer aus dem Weg zu räumen [...]: einerseits die mechanistische Auffassung, die das Handeln als die mechanische Folge äußerer Ursachen hält, andererseits die finalistische, die so namentlich die Theorie rationalen Handelns dafürhält, daß der Agierende frei, bewußt und, wie manche Utilitaristen sagen, with full understanding handelt, wobei die Handlung aus der Berechnung von Gewinnchancen hervorgeht. Gegen die eine wie die andere Theorie ist einzuwenden, daß die sozialen Akteure über einen Habitus verfügen, den vergangene Erfahrungen ihren Körpern einprägten. (Meditationen. Frankfurt a.m. 2001: 177) 11
Wir lernen durch den Körper. Durch diese permanente, mehr oder weniger dramatische, aber der Affektivität, genauer gesagt dem affektiven Austausch mit der gesellschaftlichen Umgebung viel Platz einräumenden Konfrontation dringt die Gesellschaftsordnung in die Körper ein. [...] Die strengsten sozialen Befehle richten sich nicht an den Intellekt, sondern an den Körper, der dabei als»gedächtnisstütze«behandelt wird. Männlichkeit und Weiblichkeit werden wesentlich dadurch erlernt, daß die Geschlechterdifferenz in Form einer bestimmten Weise, zu gehen, zu sprechen, zu stehen, zu blicken, sich zu setzen usw., den Körpern eingeprägt wird. Und die Einsetzungsriten sind nur der Grenzfall all der expliziten Handlungen, mit denen Gruppen darauf hinarbeiten, die sozialen Grenzen oder, was auf dasselbe hinausläuft, die sozialen Klassifizierungen einzuprägen, sie in Form von in den Körpern, in der körperlichen hexis, in den wie unauslöschliche Tätowierungen eingebrannten Dispositionen in Naturgegebenheiten zu verwandeln. (Meditationen. Frankfurt a.m. 2001: 181) 12
Der Begriff Habitus erklärt den Tatbestand, daß die sozialen Akteure weder Materieteilchen sind, die durch äußere Ursachen determiniert werden, noch kleine Monaden, die sich ausschließlich von inneren Gründen leiten lassen uns irgendein vollkommen rationales Handlungsprogramm ausführen. Die sozialen Akteure sind das Produkt der Geschichte, der Geschichte des ganzen sozialen Feldes und der im Lauf eines bestimmten Lebenswegs in einem bestimmten Unterfeld akkumulierten Erfahrung. [...] Anders formuliert, die sozialen Akteure bedingen, vermittelt über sozial und historisch zustandegekommene Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien, aktiv die Situation, die sie bedingt. Man kann sogar sagen, daß die sozialen Akteure nur in dem Maße determiniert sind, in dem sie sich selber determinieren. (Reflexive Anthropologie. Frankfurt a.m. 1996: 170) 13
Demzufolge ist der Akteur nie ganz Subjekt seiner Praxis: Durch die Dispositionen und den Glauben, die der Beteiligung am Spiel zugrunde liegen, schleichen sich alle für die praktische Axiomatik des Feldes konstitutiven Voraussetzungen noch in die scheinbar luzidesten Intentionen ein. (Meditationen. Frankfurt a.m. 2001: 177f.) 14
Weiterführende Literatur Pierre Bourdieu/Loïc Wacquant: reflexive Anthropologie. Frankfurt a.m. 1996. Armin Nassehi:»Sozialer Sinn«. In: Ders./Gerd Nollmann (Hg.): Bourdieu und Luhmann. Ein Theorienvergleich. Frankfurt a.m. 2004, 155-188. Cornelia Bohn/Alois Hahn:»Pierre Bourdieu«. In: Dirk Kaesler (Hg.): Klassiker der Soziologie 2. München 1999, 252-271. 15