Hämoglobinopathien in Deutschland. Elisabeth Kohne Hämoglobinlabor, Universitätsklinikum Ulm

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Hämoglobinopathien in Deutschland Elisabeth Kohne Hämoglobinlabor, Universitätsklinikum Ulm 1

Bei der Beschäftigung mit diesem Thema stellen sich im wesentlichen drei Fragen: 1. die Frage nach Häufigkeit und Vorkommen 2. die Frage nach der Bedeutung für die praktische Medizin 3. die Frage nach der Versorgungssituation 2

Hämoglobinopathien in Deutschland: Zitate prominenter Wissenschaftler Hämoglobinopathien gehören bei uns nicht mehr zu den exotischen Krankheiten E. KLEIHAUER und A.E. KULOZIK, Bücherei des Pädiaters 1994 Hämoglobinopathien nehmen zu. A.E. KULOZIK, Deutsches Ärzteblatt 2010 sinngemäß zitiert: Deutschland gehört zu den europäischen Ländern mit niedriger Prävalenz:1/1000 Träger einer Hämoglobinopathie. B. Gulbis et al. Epidemiology of rare anaemias in Europe, GPOH Info Letter 50. KW 2012 3

Inhalt des Vortrags Einführung und Grundlagen Zahlenmäßig belegter Überblick bezüglich Vorkommen Spektrum und Verbreitung der Hämoglobinopathien in Deutschland Bewertung der vorgelegten Daten Besonderheiten der deutschstämmigen Bevölkerung Hämoglobinopathie-Diagnostik bei Neugeborenen Bestandsaufnahme der Versorgungssituation Zusammenfassung 4

Hämoglobinopathien: Sammelbegriff für alle genetischen Hämoglobinkrankheiten Die Einteilung erfolgt in zwei Hauptgruppen: 1. die Hämoglobinsynthesestörungen = THALASSÄMIE-SYNDROME 2. die Hämoglobinstrukturdefekte = ANOMALE HÄMOGLOBINE 5

Grundformen und Subtypen der Thalassämien 1 α-thalassämie-syndrome α o -Thalassämien α + -Thalassämien α-anomale Hämoglobine mit thalassämischem Phänotyp 2 β-thalassämie-syndrome β o -Thalassämien β + -Thalassämien δβ- und δ-thalassämien γ-thalassämien Hb-Lepore-Syndrome Hereditäre HbF-Persistenz β-anomale Hämoglobine mit thalassämischem Phänotyp 3 Kombinations- und Interaktionsformen 6

Klassifizierung der anomalen Hämoglobine Varianten mit Gefäßverschlüssen und Hämolyse: z.b. HbS, HbC Varianten mit dem Phänotyp einer Thalassämie: z.b. HbE, Hb Lepore Instabile Hämoglobine mit Hämolyse: z.b. Hb Köln, Hb Leiden Varianten mit gestörter Sauerstofftransportfunktion: = Familiäre Erythrozytosen: z.b. Hb Ohio Varianten mit pathologischem Methämoglobin: = Familiäre Zyanosen: z.b. HbM Iwate 7

Hämoglobinlabor Universitäts-Klinikum Ulm Indikationen für Hämoglobinanalysen mikrozytär-hypochrome Anämien chronisch-hämolytische Anämien ungeklärter Genese Gefäßverschlusskrisen bei Patienten aus HbS-und/oder HbC-Verbreitungsgebieten durch Medikamente induzierte Anämien hämatologisch bedingte Erythrozytosen und/oder Zyanosen Hydrops fetalis-syndrom ungeklärter Ätiologie präventive Fragestellungen: Familienuntersuchung, Partnerdiagnostik, Pränataldiagnostik 8

Hämoglobinlabor Universitäts-Klinikum Ulm Indikationen für DNA-Analysen Thalassämie-Syndrome genetische Typisierung der β-thalassämia major molekulare Diagnose der β-thalassämia intermedia Kombinationsformen verschiedener Hämoglobinopathien Verdacht auf stumme β-thalassämie-anlageträger Diagnostik der α-thalassämien im Rahmen genetischer Fragestellungen: Familie, Partner, Pränataldiagnostik Anomale Hämoglobine Identitätsbestimmung seltener Anomalien zur Klärung bei fehlender Trennung mittels konvent. Methodik im Rahmen genetischer Fragestellungen: Familien, Partner, Pränataldiagnostik Kombinationsformen verschiedener Hämoglobinopathien Sonstiges: Wissenschaftliche Fragestellungen 9

Hämoglobinopathien Bedeutung in der globalen Medizin Häufigste Erbkrankheit der Weltbevölkerung Mit der neuzeitlichen Völkerwanderung Ausbreitung auch nach Nord- und Mitteleuropa Gesundheitsproblem mit stark wachsender Bedeutung 10

Hämoglobinopathien in Deutschland Häufigkeit und Verbreitung? Epidemiologische Daten: nicht verfügbar Schätzwerte: 0,01 % Anlageträger in der deutschstämmigen Bevölkerung? 3-4 % Anlageträger in der Bevölkerung mit Migrationshintergrund? Sonstige Daten: Ergebnisse einer Langzeitstudie 11

Hämoglobinlabor, Universitätsklinikum Ulm 1972-2012 Langzeitstudie Hämoglobinopathien: Material und Methoden Italien und Griechenland 28,3 % Mittlerer Osten und Afrika 16,1 % Material Blutproben von 120 475 Anämie- Patienten aus ganz Deutschland Kinder = 25 %; Erwachsene 75 % Türkei 40,0% Asien 6.6 % Deutschland 4,5 % Süd- Osteuropa 4,5 % Ursprungsländer der Patienten Labordiagnostik Blutbild Hämoglobinanalysen Molekulargenetische Untersuchungen bei Indikation 12

Gesamtergebnis: Übersicht 150000 120475 100 % 112500 90631 Gesamtzahl 75000 41235 34,3 % 36415 30,2 % 29844 37500 Untersuchungen Gesamtzahl 5199 Zugewanderte Bevölkerung 0 4,3 % Deutschstämmige Bevölkerung Hämoglobinopathien 13

Hämoglobinlabor, Universitätsklinikum Ulm 1972-2012 β-thalassämien Thalassämie-Syndrome Gesamtzahl: 30.986 Zugewanderte Bevölkerung 84,7 % Dt. Bevölkerung 15,3 % β-thalassämien Zugewanderte Bevölkerung Deutschstämmige Bevölkerung 86,2 % α-thalassämien 92,9 % 14,9 % Zugewanderte Bevölkerung α-thalassämien Zugewanderte Bevölkerung Deutschstämmige Bevölkerung 13,8 % Deutschstämmige Bevölkerung 7,1 % 14

Spektrum der Thalassämie-Syndrome Diagnose β-thalassämia minor β-thalassämia major und intermedia heterozygote Hb Lepore-Anomalien heterozygote δ- und δβ-thalassämien γ-thalassämien α-thalassämia minor HbH-Krankheit Hb Constant Spring, Hb Icaria Hb Bart s Hydrops fetalis Syndrom Anzahl Patienten 26 893 1 059 618 351 8 3 813 412 22 4 Weitere Diagnosen: alle möglichen Kombinationsformen - der Thalassämien untereinander - der Thalassämien mit Hb Strukturvarianten 15

Kiel Rostock Bremen Hamburg HÄMOGLOBINOPATHIEN IN DEUTSCHLAND Münster Essen Düsseldorf Hannover Magdeburg Berlin Geographische Verbreitung: Zugewanderte Bevölkerung Köln/Bonn Leipzig Dresden Erfurt Frankfurt Stuttgart Mannheim/Ludwigshafen Nürnberg Beta-Thalassämien Alpha-Thalassämien Augsburg München 16

Hämoglobinlabor, Universitätsklinikum Ulm 1972-2012 Gesamtzahl: 8.795 98,3 % 1,7 % Anomale Hämoglobine Gesamtzahl: 10.249 Weltweit häufige Formen: HbS, HbE, HbC Zugewanderte Bevölkerung Deutschstämmige Bevölkerung Gesamtzahl: 1.201 6,4 % 5,3 % Weltweit seltene Formen Zugewanderte Bevölkerung Deutschstämmige Bevölkerung 17

Ergebnisse der Ulmer Langzeitstudie Spektrum der anomalen Hämoglobine Anzahl Patienten Weltweit häufige Formen HbS und Sichelzellkrankheiten HbE und HbE-Krankheiten HbC und HbC-Krankheiten Weltweit seltene Formen Instabile Hämoglobine HbM-Varianten Hb-Anomalien mit Erythrozytosen Sonstige Hb-Varianten 8 796 7 186 936 674 1 201 216 61 78 646 Sonstige Formen = alle möglichen Kombinationen von Hb-Varianten untereinander von Hb-Varianten mit Thalassämien 18

Extreme Variabilität der Sichelzellkrankheit (SCD) Genotyp Phänotyp Anteil % HbSS schwere SCD 66,0 HbSC milde SCD 16,8 HbS β + -Thalassämien HbS β o -Thalassämien HbSO Arab HbSD HbS Lepore HbSE HbS mit seltenen β-varianten milde SCD schwere SCD schwere SCD variable Hämolysen Krisen meist schwere SCD leichte SCD sehr unterschiedlich 9,1 5,3 0,5 0,5 0,2 0,1 0,4 HbSS mit α-thalassämien HbSS mit HPFH modifizierte SCD meist günstiger Einfluß 40% der HbSS-Fälle 23% der HbSS-Fälle Gesamtzahl der SCD-Diagnosen 3319 = 100 % 19

Schwere und mittelschwere Hämoglobinkrankheiten in Deutschland in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit Anzahl Patienten Sichelzellkrankheiten 3319 β-thalassämia major und intermedia α-thalassämien Weltweit seltene Hb- Krankheiten HbE-Krankheiten HbC-Krankheiten 1059 438 403 349 224 203 verschiedene Varianten Gesamtzahl der betroffenen Patienten = 5792 Bezugsgröße 41 235 Labordiagnosen 20

Bewertung der Ergebnisse: mit dem Nachweis von > 40 000 Betroffenen wird erstmals eine aussagekräftige Datensammlung vorgelegt auf der Basis rechnerischer Kalkulationen sind etwa 5 % der Immigranten 400 000 Menschen Anlageträger einer Hämoglobinkrankheit, entsprechend einer Prävalenz von 1 : 200 die Anzahl der dokumentierten kranken Patienten von mehr als 5000 entspricht einer Prävalenz von 1 : 16000 Fazit: 1. Schwere Hämoglobinopathien gehören offiziell in Deutschland zu den Seltenen Erkrankungen 2. Die Häufigkeit in den Großstädten und Ballungsgebieten ist vermutlich größer als die rechnerische Kalkulation 3. Die gering symptompatischen, gleichwohl nicht vollständig gesunden Anlageträger sind in Deutschland keine Seltenheit mehr. 21

Bemerkungen zu den α- und β- Minor-Thalassämien in der deutschen Medizin Bedeutung für den Patienten: 1. Bei Immigranten häufigste Differenzialdiagnose bei hypochrom-mikrozytärer Anämie 2. Risiko schwerkranker Nachkommen aus der Verbindung von zwei betroffenen Partnern Aufgaben für den Arzt: 1. Krankheitserkennung 2. Genetische Beratung, eventuell Pränataldiagnostik In Deutschland wird die Diagnose der α- oder β-thalassämia minor meistens erst bei Erwachsenen gestellt in vielen Fällen übersehen 22

Ulmer Langzeitstudie 1972-2012 Hämoglobinopathien in der deutschstämmigen Bevölkerung: Formen und Häufigkeit Thalassämie-Syndrome DIAGNOSEN Pat. Anzahl/ β-thalassämia minor 3879 β-thal. major u. intermedia 10 Hb Lepore Heterozygotie 101 Het. δβ-thalassämien 21 Hereditäre HbF-Persistenz 253 α-thalassämia minor 302 HbH-Krankheit 18 Gesamtzahl 4584 Anomale Hämoglobine DIAGNOSEN Anzahl/Pat. HbE 209 HbD 50 Seltene Formen Instabile Hämoglobine 216 Hämogl. mit Erythrozytosen 78 HbM-Varianten 61 falsch hohes HbA 1C 39 sonstige seltene Formen 260 Gesamtzahl 913 Bezugsgröße: 41 235 Labordiagnosen 23

Ulmer Langzeitstudie 1972-2012 Besonderheiten in der deutschstämmigen Bevölkerung Hämoglobinopathien sind selten, werden gleichwohl bei der Anämie-Diagnostik regelmäßig angetroffen empfehlenswert für die Diagnostik ist die Einhaltung folgender Regeln: bei nicht durch einen Eisenmangel bedingten hypochromen Anämien ist eine Thalassämie-Diagnostik angezeigt bei anderweitig nicht klärbaren hämolytischen Anämien sollte an ein instabiles Hb, z.b. Hb Köln gedacht werden bei hämatologisch bedingten Erythrozytosen sollte (nach Ausschluß der Polyzythämia vera) an ein anomales Hb gedacht werden. 24

Ergebnisse Ulmer Langzeitstudie Hämoglobinopathie-Diagnostik bei Neugeborenen Thalassämie-Syndrome DIAGNOSEN Pat. Anzahl/ Heterozygote β-thalassämien 45 Heterozygote α-thalassämien 42 Homozygote/compound het. 8 β- Major-u. Intermedia Thalassämie Heterozygote γ- Thalassämien 8 HbH-Krankheit 3 Hb Bart s Hydrops fetalis Syndrom 1 Gesamtzahl = 107 = 1,4 % der Probanden Bezugsgröße: 7523 Labordiagnosen, von Kindern mit Migrationshintergrund Anomale Hämoglobine DIAGNOSEN Anzahl/Pat. HbS heterozygot 116 HbS homozygot 9 HbSC-Krankheit 4 HbC homozygot 4 HbC heterozygot 2 HbF-Anomalien heterozygot 4 HbD-Varianten heterozygot 2 HbO-Varianten heterozygot 2 HbM-Varianten 9 Sonstige Anomalien 2 Gesamtzahl = 154 = 2,1 % der Probanden 25

Hämoglobinlabor Universitäts-Klinikum Ulm Anzahl verschiedener Genotypen Thalassämie-Syndrome β-thalassämien δβ-thalassämien γ-thalassämien α-thalassämien 42 β-globingen-punktmutationen 6 β-globingen-deletionen 8 δβ-deletionen 6 εγδβ-deletionen 15 α-globingen-deletionen Anomale Hämoglobine β-anomalien α-anomalien γ-anomalien δβ-fusionsvarianten 116 β-globingen-punktmutationen 49 α-globingen-punktmutationen 6 G γ oder A γ-punktmutationen 4 δβ-mutationen Gesamtsumme 252 26

Bestandsaufnahme der Versorgungssituation Grundproblem: fehlende Wahrnehmung der Hämoglobinopathien im öffentlichen Gesundheitswesen infolgedessen: keine Finanzierung der erforderlichen Einrichtungen Deutschland hat als einziges Land in Mitteleuropa kein strukturiertes Hämoglobinopathie-Zentrum bis heute wird ein großer Teil der Hämoglobinopathie Arbeit von wenigen engagierten Ärzten in einzelnen Kliniken und Praxen geleistet. 27

Positive Entwicklungen gute Patientenbetreuung in der Kinder/Jugendmedizin erfolgreiche Stammzellentransplantationen Zunahme der Kenntnisse in der Labormedizin in der Humangenetik in hämato-onkologischen Fachpraxen und Kliniken 28

Hämoglobinopathien Die wichtigsten Kritikpunkte sind kein Thema im Medizinstudium kommen nicht vor in der Facharzt- bzw. Teilgebietsweiterbildung Folgeerscheinungen mangelhafte Erkennung einer zunehmend bedeutsamen Krankheitsgruppe fehlende ärztliche Kenntnisse über die Krankheitsbilder, deren Diagnostik, Therapie und Prävention 29

Was läuft nicht gut in der Diagnostik? mangelhaftes Wissen führt zur Simplifizierung eines komplizierten Spezialgebietes durch die unzureichenden Kenntnisse der vielfältigen Hämoglobinopathie-Formen unterbleibt häufig deren differenzierte Diagnostik In vielen Fällen erfolgt eine unnötige Flucht in die Gendiagnostik Hämoglobin Erythrozyten MCV MCH g/dl X10 12 /I Fl pg HbA HbF HbA 2 HbF HbA HbA 2 30

Was läuft nicht gut in der Therapie? in vielen Fällen Beschränkung auf symptomatische Maßnahmen oft wird die Bedrohlichkeit der Sichelzellkrankheit nicht gesehen in den meisten Fällen keine Langzeitüberwachung-/Therapie in vielen Fällen keine geordnete Transition von der Jugendmedizin zur Erwachsenenmedizin Beispiel für ein Versorgungsprogramm in England 31

Was läuft nicht gut in der Prävention? kein deutschlandweites Screening der Risikopopulationen keine sichere Familienuntersuchung bei Neudiagnose einer Hämoglobinopathie, keine genetische Beratung der Eltern keine gesicherte Pränataldiagnostik für Risikopaare kein Neugeborenen-Screening auf Sichelzellkrankheiten 32

Liste der Aufgaben zur sofortigen Verbesserung der Situation die Hämoglobinopathien nicht länger als Nebenthema der Arbeit begreifen die Sicherstellung einer qualifizierten Diagnostik im Bereich der Therapie die Orientierung an den empfohlenen Richtlinien die Garantie einer effektiven Prävention 33

Zusammenfassung Häufigkeit und Bedeutung der Hämoglobinopathien haben in Deutschland erheblich zugenommen mit weiter steigender Tendenz Die zahlenmäßige Klassifizierung als Seltene Erkrankungen könnte sich in den Großstädten und Ballungsgebieten als Illusion erweisen Die Versorgung und Beratung der Betroffenen ist jenseits des Kindesalters kaum gewährleistet. Die große Vielfalt der Krankheiten wird nicht wahrgenommen Für eine positive Zukunftsperspektive ist eine Orientierung an den erfolgreichen Versorgungskonzepten in England und Frankreich richtungsweisend. 34