Sigmund Freud und die Psychoanalyse Prof. Dr. U. Benzenhöfer Dr. Senckenbergisches Institut für Geschichte und Ethik der Medizin Frankfurt am Main
1917 schrieb Freud ( Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse ), der Narzissmus der Menschheit habe von der Wissenschaft seit der Renaissance 3 große Schläge erlitten. 1. Der kosmologische Schlag: Kopernikus - Die Erde ist nicht der Mittelpunkt des Universums. 2. Der biologische Schlag: Darwin - Der Mensch ist in Bezug auf die Evolution nicht durch eine Kluft von den niederen Tieren getrennt. 3. Der psychologische Schlag: Die Psychoanalyse - Das Ich ist nicht Herr im eigenen Hause.
Quellen (vor allem): Gay, Peter: Freud. Eine Biografie für unsere Zeit. Frankfurt am Main 1989 (Erstausgabe New York 1987). Lohmann, Hans-Martin: Sigmund Freud. Reinbek bei Hamburg 1998 (rororo). Freud-Texte
1856: Geburt in Freiberg (Mähren) als Sohn eines jüdischen Wollhändlers und dessen 3. Ehefrau. 1882: Assistent am Wiener Allgemeinen Krankenhaus. 1884-1887: Forschungen zum Kokain. Carl Koller kommt Freud im Sept. 1884 mit der Entdeckung der lokalanästhetischen Wirkung des Kokains am Auge zuvor. 1885: Habilitation in Wien, Privatdozent.
1885: Paris Stipendium, lernt Neurologie bei Jean-Martin Charcot an der Salpêtrière Schwerpunktthema Charcots: Hysterie (echte Krankheit, nicht Simulation). Behandlung: Hypnose.
1886: Praxis als Neurologe in Wien Herbst 1886: Heirat Später sechs Kinder, am bekanntesten (als Kinder- und Jugendpsychiaterin) wurde Anna Freud. 1891: Verlegung von Wohnung und Praxis in die Berggasse 19, heute Freud-Museum.
Beginn der 80er Jahre: Freundschaft mit Dr. med. habil Josef Breuer. Dieser berichtet Freud von einer Patientin mit ausgeprägter hysterischer Symptomatik, die er mit Hypnose behandelt. Es handelt sich um die später als Frauenrechtlerin bekannt gewordene Bertha Pappenheim.
Breuer: Die Patientin (Pseudonym: Anna O.) kann sich unter Hypnose an die Auslösesituation der Symptomatik zu erinnern. Sie kann dabei dem seinerzeit unterdrückten Affekt Worte geben ( Redekur ), worauf das Symptom verschwindet. Breuer und Freud: kathartische (reinigende) Wirkung der Behandlung. Einschätzung, dass die Symptome ohne Wiederkehr verschwanden, wenn es gelungen war, die Erinnerung an den veranlassenden Vorgang zu voller Helligkeit zu erwecken [ ], war allerdings, wie sich später zeigte, zu optimistisch.
Trennlinien zwischen Breuer und Freud (im Buch 1895 schon erkennbar): Anfang der 90er Jahre rückt Freud von der Hypnose ab, er benutzt nun freie Assoziation : Patient(in) soll alles sagen, was ihr/ihm in den Sinn kommt. Freud sieht die Ursache erworbener Neurosen in sexuellen Momenten. Er glaubt zu dieser Zeit, dass der Anfang der Hysterie in (tatsächlichem) sexuellem Missbrauch in der Kindheit liege. Erst in der zweiten Hälfte der neunziger Jahre gibt Freud die (generalisierte) Verführungstheorie auf.
Seit 1897: Selbstanalyse Freuds. Wird auf Ödipus-Komplex aufmerksam, ohne dass er schon den Namen dafür verwendet. Das männliche Kind rivalisiert demnach mit dem Vater und will sich der Mutter bemächtigen. (Vgl. Sophokles König Ödipus ) Ca. 1890: Dankbare Patientin schenkt Freud Couch. 1896: Ausdruck Psychoanalyse zuerst nachweisbar.
1900: Die Traumdeutung Traum kann nur durch Mitarbeit dessen, der träumte, gedeutet werden. Hauptthese: Jeder Traum ist eine Wunscherfüllung. Die wichtigsten Instrumente der Traumarbeit : Verdichtung, Verschiebung und Rücksicht auf Darstellbarkeit. Oft Anknüpfung an die Erlebnisse des letztabgelaufenen Tages: Tagesreste.
1901: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Thema: Fehlleistungen (Vergessen, Versprechen, Verschreiben etc.). An den Stellen, an denen die genannten Fehlleistungen erschienen, drang laut Freud das Unbewusste bzw. Verdrängte in die Wirklichkeit. Der Freudsche Versprecher wurde sprichwörtlich. Zur Theorie der Psychoanalyse steuerte dieses Buch allerdings nichts Neues bei.
1902: Freud wird außerordentlicher Professor 1902: Gründung der Mittwoch-Gesellschaft, Vorläuferin der 1908 gegründeten Wiener Psychoanalytischen Vereinigung. Bedeutendstes Mitglied der Mittwoch-Gesellschaft war der jüdische Arzt Alfred Adler (später abtrünnig : Individualpsychologie ).
1905: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Theorie, dass der Witz wie der Traum funktioniere : Verdichtung, Verschiebung und Darstellung durch Widersinn.
Freud war nicht der Entdecker des Unbewussten. Vor ihm hatten schon Autoren wie z. B. Schopenhauer oder Nietzsche auf etwas Vergleichbares, um es ganz vorsichtig zu formulieren, hingewiesen. Man muss Freud jedoch zugestehen, dass er einer bislang nur schattenhaften Vorstellung Konturen verlieh (Peter Gay S. 149).
1905: Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie. Freud war der Auffassung (nicht als erster!), dass es infantile Sexualität gebe. In spätere Auflagen unterschied er die orale, anale und phallische Phase als prägenitale Phasen der kindlichen Sexualität.
Zwischen 1902 und 1910: Zahl der Anhänger und Schüler Freuds wächst (langsam), darunter befindet sich der Schweizer C. G. Jung: Sollte eigentlich Nachfolger Freuds werden. 1912: Jung hat den Kern der Theorie Freuds verworfen, so z. B. die infantile Sexualität, die sexuelle Ätiologie der Neurosen und den Ödipuskomplex. 1913: Endgültiger Bruch zwischen Freud und Jung. Jung nannte seine eigene Lehre analytische Psychologie. Er entwickelte seine Ideen von den Archetypen (z. B. Animus Anima), vom kollektiven Unbewussten und von der Allgegenwart des Unheimlichen. Nebenbei: C. G. Jung spielte in der NS-Zeit eine unrühmliche Rolle (antisemitische Äußerungen; vgl. dazu Lockot 1985, S. 85-110).
Zurück zu Freud: 1912: Zur Dynamik der Übertragung Übertragung: Der Patient sieht im Analytiker Eigenschaften, die in der Vergangenheit oder Gegenwart geliebte oder gehasste Personen hatten Übertragung kann das größte Hindernis in der Analyse sein (im Sinne eines Widerstandes), es kann aber auch ihr mächtigstes Hilfsmittel sein
1905-1911: Grundlegende Krankengeschichten, z.b. 1909 der Fall des kleinen Hans ( Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben ). 1913 Totem und Tabu. Einige Übereinstimmungen im Seelenleben der Wilden und der Neurotiker. 1914: Aufsatz Zur Einführung des Narzissmus. Die frühe Kindheit ist laut Freud geprägt von der Ichlibido. Angesichts der Kritik der Eltern, der Lehrer usw. werde der Narzissmus üblicherweise zurückgedrängt, es bilde sich das Ich- Ideal heraus (später wurde daraus das Über-Ich). Wenn die übermäßige Fixierung auf das eigene Ich bleibe, sei eine erwachsene Liebesbeziehung nicht möglich.
1920: Jenseits des Lustprinzips Das Lustprinzip reguliert nicht alle seelischen Vorgänge. Es gibt einen Wiederholungszwang (bezogen auf unangenehme Vorgänge) und es gibt den Todestrieb bzw. den Aggressionstrieb. Diese sind Widersacher des Selbsterhaltungs- und Sexualtriebs Durch die negativen Triebe lässt sich z.b. der Wiederholungszwang in der Neurose erklären.
1921: Massenpsychologie und Ich-Analyse. Freud sah den Einzelnen in der Masse libidinös sowohl an den Führer als auch an die übrigen Massenindividuen gebunden. Die Intensität dieser doppelten Bindung ermögliche Regression. Wenn das Individuum in der Masse untertauche, könne es erworbene Hemmungen fallen lassen.
1923: Das Ich und das Es. Neue Topik des psychischen Apparats. Anregung von Georg Groddeck: Der Mensch wird vom Unbewussten (dem Es ) gelebt. These: Das Ich entsteht im heranwachsenden Individuum als Teil des Es, es wird durch Einflüsse der Außenwelt modifiziert, es repräsentiert Vernunft und Besonnenheit, im Gegensatz zum Es (Leidenschaften). Dazu kommt das Über-Ich (Ich-Ideal, Gewissen) als Gegenspieler des Ichs. Freud später: Das Über-Ich bewahrt vor allem den Charakter des Vaters.
1923: Bösartige Gaumengeschwulst lange Reihe von Operationen Kieferprothese Erholung, weniger Patienten als früher 1930: Das Unbehagen in der Kultur Pessimistische Kulturdiagnose: Krankheit, Kampf jeder gegen jeden, Beziehungselend, nicht zu übertünchen durch Rauschmittel, Religion und Arbeit.
Zeit nach 1933: 12.03.1938: Anschluss Österreichs 4.6.1938: Freud muss Wien trotz seines Gesundheitszustandes verlassen 6.6.1938 Ankunft in London, Miethaus in Nordwest- London (heute: Freud-Museum). Bis zu seinem Tod schreibt er nur noch wenig. Starke Schmerzen. 21.9.1939: Sein Leibarzt Max Schur injiziert 30 mg Morphin, er wiederholte dies am 21. und am 22.9.1939. Freud hatte Schur am 21.9. an eine frühere Zusage erinnert, ihn nicht im Stich zu lassen, wenn die Zeit gekommen sei. 23.9.1939: Tod (es bleibt unklar, ob er eines natürlichen Todes oder aufgrund der Morphingabe starb).