Hessischer Rundfunk hr2-kultur Redaktion: Volker Bernius hr2wissen Das vererbte Leiden Traumata zwischen den Generationen Regie: Volker Bernius Sprecherin: Zitator: 02 Wir haben gezittert und gehungert. Transgenerationale Weitergabe an die Kriegsenkel von Andrea und Justin Westhoff Sendung: xy.xy.2014, hr2-kultur O-Töne: - Prof. Dr. Hartmut Radebold, em. Professor für Psychologie und Altersforschung Universität Kassel - Ines Koenen, Kommunikationstrainerin, Schauspielerin - Eva Gerlach, Stadtplanerin hr2wi 14-44 Copyright Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der Empfänger darf es nur zu privaten Zwecken benutzen. Jede andere Verwendung (z.b. Mitteilung, Vortrag oder Aufführung in der Öffentlichkeit, Vervielfältigung, Bearbeitung, Verteilung oder Zurverfügungstellung in elektronischen Medien, Übersetzung) ist nur mit Zustimmung des Autors/der Autoren zulässig. Die Verwendung zu Rundfunkzwecken bedarf der Genehmigung des Hessischen Rundfunks. 1
O-Ton 1: Koenen/Gerlach (0'18") Ich hab das erst sehr spät gemerkt, beziehungsweise als ich gemerkt habe, dass ich Kriegsenkelin bin, hab ich mein Leben verstanden. / / Bei mir war das ähnlich mit so einem Aha-Effekt. Als ich davon gelesen habe, ist mir erstmal klar geworden, dass sich Traumata vererben können. Das war mir nicht bewusst. Die Kommunikationstrainerin und Schauspielerin Ines Koenen sowie die Stadtplanerin Eva Gerlach. Beide "Kriegsenkelinnen". Zit.: "Herzlich Willkommen auf der Webseite von 'Kriegsenkel e.v.'! Kriegsenkel sind Menschen, deren Eltern NS-Zeit und Zweiten Weltkrieg als Kinder und Jugendliche erlebt haben und bis heute oft unbemerkt unter dem Eindruck von traumatischen Erfahrungen stehen. Durch die sogenannte "transgenerationale Weitergabe" von Traumafolgen sind Kriegsenkel von den Kriegserlebnissen der Eltern betroffen." O-Ton 2: Koenen (0'46") Meine Großeltern waren im kommunistischen Widerstand und haben 1933 Deutschland verlassen auf atemberaubenden Fluchtwegen, und meine Mutter ist 1942 in Sibirien geboren; 1947 sind sie dann zurückgekommen, sechs Wochen mit dem Zug von Tomsk nach Berlin, mit Aufenthalt in Moskau, im Hotel Lux da ist alles dabei und ihre Geschichte ist vor allem, dass sie erstens ihren Vater nie kennengelernt hat, dieser Vater aber immer ein großer Mythos innerhalb der Familie war. Und ich hab ein ganz kompliziertes Verhältnis zu meiner Mutter, um nicht zu sagen, so richtig gestört, ich bin zum großen Teil bei meiner Großmutter aufgewachsen, das hat mich sehr geprägt und sie war meine Rettung. O-Ton 3: Gerlach (0'38") Meine Mutter ist aus Dresden und hat also auch diese Bombardierung miterlebt, drei Tage vorher ist sie mit ihrem Bruder, da war sie zwölf, von Peikwitz nach Königstein gewandert, weil die Mutter verlorenging, die mit dem Planwagen woanders lang zog, und ich merk auch, ich kann das gar nicht flüssig erzählen, weil mir das auch nicht so vermittelt wurde, und das kennen ja viele von uns, immer wenn wir nachfragen, kommen die gleichen Fragmente, und dann ist Schluss, und das ist ja auch so ein Ausdruck für ein Trauma, dass meine Mutter Zeit ihres Lebens sehr in sich gekehrt war, fast wie nicht da, physisch ja, aber eben nicht psychisch. 2
Zit.: Bombenkrieg, Kinderlandverschickung, Verfolgung der Eltern, Flucht und Vertreibung, Trümmerkindheit, Hunger, Gewalt, Ausgeliefertsein an verrohte Soldaten-Väter, sowie der Verlust naher Angehöriger hinterließen bei den Kindern, die im Zweiten Weltkrieg aufwuchsen, Spuren.... unterschiedlich tiefe Spuren, fand Hartmut Radebold, emeritierter Professor für Psychologie und Altersforschung an der Universität Kassel heraus. O-Ton 4: Radebold (0'18") Wir schätzen, dass 40 Prozent der damaligen Kinder und Jugendlichen nichts erlebt haben, bis auf die berühmten abenteuerlichen Geschichten: Splitter sammeln, Kaugummi durch schwarze Soldaten vom Panzer runter verteilt und in Ruinen spielen, 30 Prozent sind als hoch traumatisiert anzusehen und 30 Prozent dazwischen. Erst Hartmut Radebolds Forschungen rücken das Thema Traumatisierte Kriegskinder 2005 ins Licht der Öffentlichkeit und damit auch die Kriegsenkel. O-Ton 5: Radebold (0'23") Die Kinder der Kriegskinder, die spüren, da gibt s ein Wissen, was uns vorenthalten wird: Warum sind die Eltern so komisch? Warum muss immer Licht brennen? Warum darf nichts weggeworfen werden? Warum muss alles auf dem Teller aufgegessen werden? Warum muss man wissen, wo die Fluchtwege im Hotel sind? Also das sind ja lauter Kleinigkeiten, aber die natürlich eine bestimmte Geschichte verdeutlichen. O-Ton 6: Gerlach (0'06") Es lag immer so eine Melancholie in der Familie und das berühmte Schweigen, was alle Kriegsenkel kennen. Zit: "Gefühlserbschaft" nennt es Sigmund Freud: "Keine Generation ist imstande, bedeutsame seelische Vorgänge vor der nächsten zu verbergen." 3
O-Ton 7: Koenen (0'26") Ich bin in einem materiell sicheren Umfeld groß geworden, aber keine Nestwärme, und ich war ein Blatt im Wind. Ich hab beruflich viele Neuanfänge erlebt, hab viel von vorn angefangen, ich hab keine Kinder; dieses Alleinegefühl, das ist so viel alleine zu stemmen, viel Verantwortung zu übernehmen, nur für Leistung gibt es Anerkennung, oder: Wenig Zutrauen zu anderen zu haben, ist auch so Thema. O-Ton 8: Gerlach (0'11") Und als Kind hat man immer das Gefühl, es läuft irgendwas falsch und vielleicht hat man selber irgendwas falsch gemacht, und es ist so eine dicke Schicht, die man fast schneiden kann. < O-Ton 9: Koenen (0'10") Ich bin viel mit Forderungen groß geworden und Erwartungen, aber dieses unterstützt werden, gefördert werden wer bist du, was kannst du was heute in der Erziehung so eine Rolle spielt, das kenne ich nicht. > Darum geht es immer wieder in dem Kriegsenkel-Erzählcafé, das Ines Koenen und Eva Gerlach betreiben: Gestörte oder zerstörte Bindungen, die elterliche Härte wir haben gelitten, Euch geht s doch gut, ihre emotionale Taubheit. Und andererseits: die Angst und Bedürftigkeit der Eltern Parentifizierung O-Ton 10: Koenen/Gerlach (0'47") Parentifizierung beschreibt ein umgekehrtes Rollenverhältnis. Die Eltern oder Mütter sind übergriffig gegenüber den Kindern, und Kinder sind dafür verantwortlich, dass es ihren Eltern gut geht. / / Man hat das Gefühl, jetzt sind die Eltern groß irgendwann, und man kann sich seinem Beruf widmen oder erstmal durchatmen, und in meinem Fall ist es so: Meine Mutter bedarf jetzt einer Pflege kurzfristig, und da kommt dann wieder die nächste Herausforderung, wo man ja wieder sehr nah, in dem Fall mit der Mutter, verbunden ist, wo ich dann manage und wo ich versuche zu helfen. / / Von uns, vielen Kriegsenkeln, wurde erwartet, dass wir für das Glück der Eltern zuständig sind, aber diese Rolle können und wollen wir echt nicht ausfüllen. Das können Kinder nicht, egal wie groß oder alt sie sind. Zit.: "Nichts wirkt seelisch stärker auf die Kinder als das ungelebte Leben der Eltern." - Der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung. Aber die transgenerationale Trauma-Weitergabe kann gestoppt, mindestens gemildert werden. Sprechen und Zuhören hilft. 4
O-Ton 11: Gerlach (0'29") Es hat so was nebulöses und man kann das gar nicht richtig fassen, und erst in so einem Gespräch mit anderen Kriegsenkeln dann wird klar, ach da sind Ursachen bezüglich der Traumata, also der Nebel hellt sich dann auf, und es ist nicht mehr so eine angstbesetzte Atmosphäre, wenn man jetzt die Heimat wieder fährt oder wenn man mit der Familie zu tun hat, weil ich muss mal so platt sagen: Man hat ja immer irgendwie Angst, da platzt eine Bombe. O-Ton 12: Koenen (0'25") Ich hab kapiert, das, was meine Mutter getan hat, das war, was sie konnte. Es hat das Verhältnis nicht verbessert, weil ich gehe auch sehr öffentlich um mit diesem Thema; also es gab so einen Vorwurf, ihr seid ja so monokausal, ihr Kriegsenkel, immer sind wir Eltern schuld und so, aber ich mache auch keine Schuldzuweisung, nicht mehr, ich hab jetzt verstanden, wo viele Sachen herkommen. Dennoch spür ich ja die seelischen Folgen, das ist meine Geschichte. 5