Symposium Frauen in der Lebensmitte: Balancen zwischen Erwerbsorientierung, Karriere und Sorgearbeit 29./30. Juni 2012 im Kolpinghaus Fulda Workshop Pflegebegleitung, damit Pflege gelingt - Sorgearbeit in der Balance zwischen Wollen, Sollen und Können Moderation: Dr. Heide Mertens Referentinnen: Dipl. Psych. Iren Steiner, Ulrike Festag (kfd-pflegebegleiterin) 1
Im Workshop kamen zwei Perspektiven zur Sprache: Sorgearbeit für Ältere im persönlichen Lebenslauf und politische Rahmenbedingungen für eine ausbalancierte Sorgearbeit. Als Einstieg in das Thema diente das Goethe-Gedicht Wollen, Sollen und Können (am Ende dieses Textes abgedruckt). Anhand der Lebensgeschichten von Kerstin, Clara und Hannah stellte Iren Steiner drei Entwürfe von Sorgearbeit in Familie und Freundeskreis vor, die veranschaulichten, wie sich Sorgearbeit für die Beteiligten auswirkt, wenn Wollen, Sollen und Können nicht in Balance gehalten werden können: Kerstin geriet als berufstätige Schwiegertochter durch einen unerwarteten Krankenhausaufenthalt ihrer dominanten Schwiegermutter in ein chronisches Spannungsfeld zwischen den Betreuungsvorstellungen der pflegebedürftigen Verwandten (Sollen), ihrem eigenen Zeitbudget (Können), den eigenen Moralvorstellungen (Wollen und Sollen) und der Herausforderung, sich zu vertreten und nicht in eine abhängige Tochterrolle zu geraten (Können). Clara holte in Fürsorglichkeit ihre Mutter aus Berlin nach Süddeutschland in eine Einliegerwohnung ins eigene Haus zur eigenen Familie. Aus der Wunschvorstellung (Wollen) und den Möglichkeiten des eigenen Häuschens (Können) entwickelte sich wider Erwarten eine für alle belastende Situation durch eine anhaltende depressive Verstimmung der Mutter in der Folge ihrer Entwurzelung. Sie klammerte sich an ihre Tochter. Auch hier stellte sich eine komplizierte Abhängigkeitskonstellation ein, für die Clara zunächst die Fähigkeiten einer bezogenen Selbstbehauptung fehlten (Können). Hannah entschied in ihren 50ern, nach überwundener Scheidung und mit Kindern, die sie nicht mehr brauchten, sich bei einer Freundin zu engagieren, deren Multiple-Sklerose-Krankheit so weit fortgeschritten war, dass sie nicht mehr ohne fremde Hilfe zu Hause leben konnte.(wollen) Es war eine freie Entscheidung, wohl überlegt, mit weiteren Freunden koordiniert und von der Freundin zugelassen und erwünscht (Sollen). Eine umsichtige Arbeitsteilung wurde mit der Betroffenen und dem Pflegedienst verabredet und immer wieder angepasst (Können). Die Sorge- und Pflegearrangements machten die wichtigsten Herausforderungen deutlich: Normative Konflikte: Es gibt starke prägende Moralvorstellungen und Erwartungen zu Sorgearbeit, die generativ geprägt sind und in Konflikt geraten können. 2
Emotionale Verstrickungen: Sorgearrangements gehen oft mit Abhängigkeitsverhältnissen einher und entwickeln einen regressiven Sog hin zu Eltern-Kinder-Mustern. Unerledigte Geschichten können auftauchen. Überforderung: Sorgearbeit bringt einen an körperliche, seelische und soziale Grenzen und kann einen existenziell überfordern. Diese Hilflosigkeit in praktischen und in zwischenmenschlichen Fragen kann zu Überforderung führen mit weitreichenden Folgen für die Gesundheit. Die Fähigkeit, sich zu öffnen und Hilfe zuzulassen, nicht alles selber leisten zu müssen, ist eine entscheidende Kompetenz, damit Sorgearbeit gelingen kann. In einer Aufstellung der zwölf Teilnehmerinnen im Dreieck von Wollen, Sollen und Können wurde deutlich, dass es eine starke moralische Verpflichtung zur Sorgearbeit gegenüber Älteren gibt, die sich als innerer, aber auch als äußerer Druck zeigt. Von mehreren älteren, alleinstehenden Teilnehmerinnen wurde betont, wie wichtig die eigene Selbstsorge in der Form eigener Netzwerke ist. Die Diskussion zeigte, dass Sorgearbeit in der älteren Familie immer noch ein ausgeklammertes Thema ist. Ulrike Festag belegte am Beispiel der Pflegebegleiterinnen in der kfd, dass Frauen gut daran tun, sich mit diesem Thema frühzeitig auseinanderzusetzen. In schwesterlicher Solidarität können solche kundige Vertrauenspersonen Brücken zu Entlastungsangeboten schaffen, zur Entwirrung und Klärung belastender Situationen beitragen und durch eigene Aktionen Lebenssituationen mit Pflege aus dem Schatten holen. Die Teilnehmerinnen waren sich aber einig, dass es nicht nur um persönliche Bewältigung gehen kann, sondern dass es sich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe handelt. Als Problem sahen die Teilnehmerinnen, dass es zu wenig Bereitschaft gibt, für Pflege zu bezahlen und dass gerade in der Sorgearbeit von Älteren Leitbilder wirksam sind, die Frauen auf ihre traditionelle Rolle festlegen. Im zweiten Teil des Workshops ging es um Ansätze ausbalancierter Sorgearbeit am Beispiel der Pflegebegleitung in der kfd, um die politischen Forderungen der kfd zum Bereich der Gestaltung von Pflege- und Sorgearbeit und um notwendige politische Schritte aus Sicht der Teilnehmerinnen. Die kfd verfolgt das Thema auf der politischen Ebene z.b. durch Verbesserung der Anrechnung von Pflegezeiten auch nach der Erwerbsarbeit und durch Verbesserung der Rehabilitationsmöglichkeiten von pflegenden Angehörigen. 3
Auf der praktischen Ebene setzt die kfd das Konzept der Pflegebegleitung als Selbsthilfe in den eigenen Reihen erstmals an fünf Standorten um und wird dies auch ausbauen. Durch verschiedene Aktivitäten soll erreicht werden, dass die Bedeutung der Sorgearbeit wahrgenommen und das Thema nach oben gebracht wird. Die Teilnehmerinnen entwickelten Ideen zu drei Bereichen: Forderungen an die Bundespolitik: Verbesserung der Qualität der professionellen Pflege: Bessere Arbeitsbedingungen Bessere Entlohnung Qualitätssicherung Dienstleistungen im Umfeld häuslicher Pflege müssen ausgebaut werden. Gelder zum Aufbau von Initiativen des Ehrenamts und der Selbsthilfe nach 45d SGBXI Finanzielle Ressourcen für pflegerische Betreuungsleistungen müssen zugänglich sein. Rentenanwartschaften müssen erhöht werden für pflegende Angehörige. Es muss ein Rückkehrrecht für Pflegende in den Beruf geben nach dem Teilzeitgesetz. Forderungen an die Kommunen: Informationen sind wohnortnah zugänglich zu machen. Die Vernetzung von Initiativen und Angeboten muss vorangebracht werden. Der demografische Wandel muss auf lokaler Ebene in den Blick genommen werden. Neue Wohnformen und Netzwerke sind zu fördern. Ziele in der kfd: Pflege darf kein Tabuthema sein. Die kfd muss sich weiter für das Thema öffnen. Auf Selbstbestimmung und Selbstsorge von pflegenden Angehörigen achten zu Wahlfreiheit ermutigen, Wahlfreiheit ermöglichen. Sorgearbeit hört nicht auf mit der Übersiedlung in ein Heim. Angehörige von Heimbewohnern nicht vergessen. 4
Öffentlich über Pflege sprechen. Politik in die Pflicht nehmen zu diesem Thema. Nicht vergessen: Die Männer zu diesem Thema in die Pflicht nehmen. Zusammenarbeit mit und in Kommunen anregen und selber aufgreifen: kfd trägt zu lokaler Vernetzung bei. Fazit: 1. Sorgearbeit in der älteren Familie ist nach wie vor ein verschwiegenes, ein vergrabenes und ein ausgeklammertes Thema. Sie erfährt wenig Aufmerksamkeit und wenig Interesse und hängt vorwiegend an den Frauen. Wir müssen mehr darüber reden und Öffentlichkeit schaffen. 2. Wenn Frauen die machtvollen moralischen Erwartungen und Muster, die ihnen zugeschrieben werden, in Frage stellen, geraten sie schnell in ein moralisches Dilemma. Frauen sind bereit, fürsorgliche Lebensstile zu leben. Sie stehlen sich nicht davon. Das zeigen alle Untersuchungen zur intergenerativen Solidarität. Aber das reicht nicht aus, ist keine Lösung! Sorgearbeit braucht mehr gesellschaftliche Anerkennung und finanzielle Ressourcen. 3. Leben mit Pflege geht alle an. Es braucht neue Partner und neue Wege. Sorgearbeit braucht mehrere Schultern. Dazu braucht es geeignete Rahmenbedingungen und Lernmöglichkeiten. Strukturelle und mentale Blockaden müssen angegangen werden. Sollen, Wollen und Können: Diese drei Dinge gehören in aller Kunst zusammen, damit etwas gemacht werde. Häufig findet sich im Leben nur eines von diesen dreien oder zwei: Sollen und Wollen, aber nicht Können; Sollen und Können, aber nicht Wollen; Wollen und Können, aber nicht Sollen; Das heißt, es will einer, was er soll, aber kann s nicht machen; Es kann einer, was er soll, aber er will s nicht; Es will und kann einer, aber er weiß nicht, was es soll. Johann Wolfgang von Goethe 1809 5 Iren Steiner