Gebrechlichkeit (Frailty)

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Transkript:

1 1 Gebrechlichkeit (Frailty) T. Nikolaus 1.1 Fallbeispiel: Kraftlos und gebrechlich 2 1.2 Weiterführende Fragen zum Fallbeispiel 2 1.3 Hintergründe 3 1.3.1 Ursachen von Gebrechlichkeit 3 1.3.2 Diagnostisches Vorgehen (CGA Comprehensive Geriatric Assessment) 4 1.4 Patientenauswahl 8 1.5 Durchführung des geriatrischen Assessments 10 1.5.1 Behandlungsteam 10 1.5.2 Zeitbedarf 10 1.5.3 Ergebnisse 11 1.5.4 Wirtschaftlichkeit 11 1.6 Assessment-Ebenen 12 1.6.1 Physische Gesundheit 12 1.6.2 Psychische Gesundheit 12 1.6.3 Selbsthilfefähigkeit 13 1.6.4 Soziale Gesundheit, ökonomischer Status, Lebensqualität 13 1.7 Assessment-Instrumente 14 1.7.1 Physische Gesundheit 14 1.7.2 Kognitive Gesundheit 19 1.7.3 Emotionale Gesundheit 21 1.7.4 Soziale Gesundheit 22 1.7.5 Andere Gesundheitsbereiche 25 1.7.6 Therapie 25 1.8 Kontextfaktor Fahreignungsprüfung 29 1.9 Antworten und Kommentare zu den Fragen 30

2 Kapitel 1 Gebrechlichkeit (Frailty) 1 1.1 Fallbeispiel: Kraftlos und gebrechlich Fallbeispiel Eine 84 -jährige Patientin stellt sich bei ihrem Hausarzt vor, da sie zwar gegenwärtig nicht akut krank ist, aber eine zunehmende Kraftlosigkeit bei sich beobachtet. Seit einigen Monaten hat sie darüber hinaus auch kaum noch Appetit und isst sehr wenig und unregelmäßig. Da ihr die Verrichtungen des täglichen Lebens schwerer fallen, hat sie eine Haushaltshilfe engagiert, die ihr dreimal wöchentlich bei der Hausarbeit hilft und bei größeren Einkäufen zur Hand geht. Das Gefühl der Kraftlosigkeit hat dazu geführt, dass sie weniger unternimmt. Durch die vermehrte Ruhe haben die Schmerzen in ihrem linken Hüftgelenk, in dem eine Coxarthrose besteht, wieder zugenommen. Da sie auch noch eine Verschlechterung ihrer Sehkraft bemerkt hat, sucht sie beim Hausarzt Rat. Konkret will sie wissen, ob sie weiterhin Autofahren kann und darf, da ihr dies noch ein hohes Maß an Selbständigkeit garantiert, sie andererseits sich und andere nicht unnötig einer Verkehrsgefährdung aussetzen will. Der Hausarzt führt eine eingehende Untersuchung durch. Befund: Beginnende Kachexie, Bewegungseinschränkung in beiden Hüftgelenken, leichte Visuseinschränkung, deutliche Presbyakusis (Altersschwerhörigkeit). Labor, EKG und Oberbauchsonographie unauffällig. Nachdem die Patientin jedoch sehr unter der Kraftlosigkeit und dem Antriebsverlust leidet, weist der Hausarzt die Patientin zunächst in eine internistische Klinik ein. Dort wird eine erweiterte Labordiagnostik durchgeführt, die keine pathologischen Veränderungen zeigt. Langzeit-EKG, Langzeitblutdruckmessung, cct, Röntgen-Thorax unauffällig, LWS und Hüfte links degenerative Veränderungen. Echokardiographie keine Einschränkung der Pumpfunktion. Nachdem kein richtungweisender Befund erhoben werden konnte, Verlegung der Patientin in die geriatrische Abteilung zum «Aufpäppeln«. Dort zeigte sich im geriatrischen Assessment beim Five-Chair-Rise eine deutliche Kraftminderung, ein Balancedefizit im modifizierten Romberg-Test, vermindertes Kontrastsehen und verlangsamte Hell-Dunkel-Adaptation, eine Presbyakusis, keine kognitive Leistungsminderung im MMSE (Mini-Mental State Examination, 7 Abschn. 1.7.3). Führende Diagnose: Gebrechlichkeit. 1.2 Weiterführende Fragen zum Fallbeispiel?? Frage 1: Welche Faktoren können zum Phänomen der Gebrechlichkeit führen??? Frage 2: Was ist unter der Internationalen Klassifikation von Funktion (International Classification of Functioning) zu verstehen?

1.3 Hintergründe 3 1?? Frage 3: Wie ist ein geriatrischer Patient zu definieren??? Frage 4: Was ist unter einem geriatrischen Assessment zu verstehen??? Frage 5: Welche Ebenen werden im geriatrischen Assessment überprüft??? Frage 6: Welche Veränderungen sind für die Prüfung einer Fahreignung im höheren Lebensalter von Bedeutung? 1.3 Hintergründe 1.3.1 Ursachen von Gebrechlichkeit Das Phänomen der Gebrechlichkeit unterliegt bisher keiner allgemein akzeptierten Begriffsdefinition. Gebrechlichkeit Es handelt sich bei der Gebrechlichkeit (frailty) um einen altersassoziierten Abbau körperlicher und kognitiver Funktionen sowie um eine zunehmende Vulnerabilität gegenüber Erkrankungen und deren psychosozialen Folgen. Gebrechlichkeit ist ein physiologischer Status mit verminderter (Leistungs-)Reserve und kumulativer Dysregulation der physiologischen Systeme. Eine herausragende Rolle in vielen Definitionen zur Gebrechlichkeit nehmen motorische Defizite ein. Nach Fried führt eine chronische Unterernährung zu einer Sarkopenie mit einem Verlust von Muskelkraft, nachlassender Gehgeschwindigkeit und körperlicher Aktivität. Diese können zu Einschränkungen der Mobilität, der funktionellen Fähigkeiten, Inkontinenz und zunehmender Hilfsbedürftigkeit bis hin zum Tode führen (. Abb. 1.1). Die Abgrenzung der Gebrechlichkeit zu definierten Erkrankungen oder Behinderungen ist schwierig, je nach Definition kommt es zu einer deutlichen Überlagerung von Komorbidität, Behinderung und Gebrechlichkeit. Teilweise werden auch geriatrische Syndrome wie motorische Defizite, Inkontinenz, Gewichtsverlust, die nicht oder nur teilweise auf definierte Erkrankungen zurückgeführt werden können, als Zeichen der Gebrechlichkeit gewertet. Abhängig von der Definition werden auch einige biologische Marker zur Identifikation der Gebrechlichkeit herangezogen. Neben dem Verlust von Muskelkraft/Muskelmasse, Anorexie, kognitiver Schädigung und Arteriosklerose sind hier insbesondere hormonelle Faktoren und Entzündungsmarker/Zytokinine von Bedeutung. Die verminderte muskuläre Leistung bzw. der Rückgang der Muskel

4 Kapitel 1 Gebrechlichkeit (Frailty) 1.. Abb. 1.1 Gebrechlichkeit masse wird neben altersassoziierten strukturellen Veränderungen vor allem mit dem Rückgang anaboler und dem Anstieg kataboler Hormone in Verbindung gebracht (Testosteron, IGF1, GH, DHEA, Cortisol ). Die Definition der Gebrechlichkeit wandelt sich stetig, und neben physischen und psychischen Merkmalen werden mittlerweile auch soziale Aspekte (z. B. Rückzug, Vernachlässigung von Freundschaften und anderen sozialen Bindungen) zur Charakterisierung angeführt. 1.3.2 Diagnostisches Vorgehen (CGA - Comprehensive Geriatric Assessment) International Classification of Diseases vs. International Classification of Function Bei der Betrachtung des Phänomens des Krankseins beruft man sich gewöhnlich auf das Konzept der Krankheit. Dieses medizinische Krankheitsmodell wird durch die Sequenz: Ätiologie - Pathogenese - Manifestation dargestellt. Die International Classification of Diseases (ICD) beruht auf diesem Modell. Gerade bei chronisch progressiven, irreversiblen oder zu Behinderungen führenden Erkrankungen ist diese klassische Betrachtungsweise unzulänglich, weil es die Folgeerscheinungen der Krankheit außer Acht lässt, die in das Alltagsleben eingreifen und die selbständige Lebensführung bedrohen.

1.3 Hintergründe 5 1.. Abb. 1.2 International Classification of Function (Aus Nikolaus 2000) Die krankheitsbedingten Folgeerscheinungen mit Verlust oder Minderung der psychischen oder physiologischen Ressourcen und der Leistungsfähigkeit haben für die Betroffenen eine überragende Bedeutung für die Bewältigung des täglichen Lebens. Sie beeinflussen zudem essenziell deren Lebensqualität, denn die selbständige Lebensführung ist ein hohes Gut. Das Denkmodell der ICD hat sich insbesondere vor dem Hintergrund der Zunahme chronischer Krankheiten und ihrer Folgezustände als zu eng erwiesen, um ausreichend differenzierte und komplexe Behandlungsmaßnahmen abzuleiten. 1980 wurde von der Weltgesundheitsorganisation in Ergänzung zu der Internationalen Klassifizierung von Krankheiten (ICD) ein Konzept für die Krankheitsfolgen entwickelt, die International Classification of Impairments, Disabilities and Handicaps (ICIDH). Eine Revision und Umbenennung in Internationale Klassifikation von Funktion (International Classification of Function, ICF) erfolgte 1997; diese legte mehr Gewicht auf die Ressourcen des Betreffenden statt auf die Krankheit. Die ICF weist formal 3 Konzepte zur Charakterisierung der gesundheitlichen Integrität auf: 1. Konzept der Körperfunktionen und -strukturen, 2. Aktivitätskonzept und 3. Partizipationskonzept. Das gegenwärtige Verständnis der Interaktionen innerhalb der ICF-Dimensionen zeigt. Abb. 1.2. Ein»Schaden«ist ein Verlust oder eine Abnormalität der Körperstruktur oder einer physischen oder psychischen Funktion. Der Begriff Aktivität ist sehr weit gefasst und wird benutzt, um alles, was eine Person tut, zu erfassen (basale Aktivitäten des täglichen Lebens BADL, instrumentelle Aktivität des täglichen Lebens IADL, erweiterte Aktivitäten des täglichen Lebens AADL).

6 Kapitel 1 Gebrechlichkeit (Frailty) 1.. Abb. 1.3 Modellhafter Entstehungsprozess von Beeinträchtigungen im Alter und Möglichkeiten der Intervention zur Stärkung der Kompetenz (aus Nikolaus 2000) Die»Partizipation«ist die Art und das Ausmaß des Einbezogenseins einer Person an bzw. in Lebensbereiche mit Bezug auf Schäden, Aktivitäten, gesundheitliche Situation und Kontextfaktoren oder, anders formuliert, die Teilhabe am sozialen Leben unter Berücksichtigung zuvor genannter Faktoren. Aktivität und Partizipation können in Art, Dauer und Qualität gestört oder eingeschränkt sein. Das Denkmodell der WHO zur Erfassung der Krankheitsfolgen hat die Forschung hinsichtlich des Entstehungsprozesses von Beeinträchtigungen im Alter und deren Risikofaktoren nachhaltig beeinflusst. Basierend auf der ersten Fassung der ICIDH ist von Jette und Verbrugge ein Modell zum Entstehungsprozess von Beeinträchtigungen im Alter entwickelt worden (. Abb. 1.3). Mit diesem theoretischen Hintergrund sind erste Untersuchungen zu Risiko fak toren für funktionelle Beeinträchtigungen durchgeführt worden. Erst wenn entsprechende Risikofaktoren erkannt sind, lassen sich Präventionsstrategien entwickeln (. Tab. 1.1). Konzept des Geriatrischen Assessment Ein Charakteristikum geriatrischer Patienten ist die Multimorbidität. Die Erkrankungen führen in ihren Wechselwirkungen zur Beeinträchtigung der körperlichen Leistungsfähigkeit und Störungen der Psyche. Funktionseinschränkungen, die von den Krankheiten hervorgerufen werden, bedrohen die selbständige Lebensführung der Patienten. Steht bei jüngeren Patienten die Heilung von einer akuten Erkrankung oder eine weitgehende Rückkehr in die Normalität des Alltags und Berufslebens im

1.3 Hintergründe 7 1.. Tab. 1.1 Präventionsstrategien Präventionsebene Primäre Prävention Sekundäre Prävention Tertiäre Prävention Präventionsstrategien Standardisierte Gesundheitsbewertung Konventionelle Diagnostik und Therapie (z. B. Aufdeckung und Behandlung von arterieller Hypertonie, Antikoagulation bei Vorhofflimmern nach zerebraler Ischämie) Umfassendes geriatrisches Assessment (Comprehensive Geriatric Assessment) zur Erfassung von Risikofaktoren für zukünftige Behinderung Vordergrund, so zeigen die Behandlungsziele bei alten Menschen andere Schwerpunkte. Höchste Priorität hat die Erhaltung bzw. Wiederherstellung der Selbständigkeit. Dies setzt eine genaue Diagnostik von Funktionsverlusten unter Einbeziehung des sozialen und ökonomischen Umfeldes des Patienten bei der Therapieplanung voraus. Nicht der Schweregrad der Krankheiten, als vielmehr das Ausmaß der beeinträchtigten Funktionen, bestimmen die Lebensqualität betagter und hochbetagter Menschen. Ein Teil der im Alter gehäuft auftretenden Krankheiten und Funktionsstörungen entzieht sich der Erfassung durch konventionelle Methoden. Auch das soziale Umfeld und die ökonomische Situation von Patienten werden in der Routinediagnostik wenig berücksichtigt. Die Assessmentmethodik stellt hier eine sinnvolle Ergänzung zur herkömmlichen Diagnostik dar, sie dient zur Strukturierung und Systematisierung der Behandlungsplanung und zur Kontrolle des Therapieerfolges. In Anlehnung an Rubenstein kann man das geriatrische Assessment wie folgt definieren: Geriatrisches Assessment Unter einem umfassendem geriatrischen Assessment versteht man einen multidimensionalen und interdisziplinären diagnostischen Prozess mit dem Ziel, die medizinischen, psychosozialen und funktionellen Probleme und Ressourcen des Patienten zu erfassen und einen umfassenden Behandlungs- und Betreuungsplan zu entwickeln. Es ist besser, von geriatrischem Assessment und geriatrischer Behandlungsplanung (Geriatric Evaluation and Management - GEM) zu sprechen, da die reine Funktions

8 Kapitel 1 Gebrechlichkeit (Frailty) 1 bewertung nur als integraler Bestandteil der Behandlung sinnvoll ist. Durch das geriatrische Assessment haben die funktionellen Beeinträchtigungen den Stellenwert erhalten, der ihnen bei der Diagnostik betagter Patienten zukommt. Insbesondere in den ersten Tagen nach Krankenhausaufnahme treten schwerwiegende Verschlechterungen funktioneller Fähigkeiten wie der Mobilität oder Körperpflege auf, die vom Patienten sehr viel langsamer kompensiert werden können, als die akute Krankheit selbst. Jede Krankenhausbehandlung birgt so für ältere Patienten das Risiko, Selbständigkeit einzubüßen. Häufig manifestieren sich beim alten Menschen Krankheiten nur durch Funktionsverluste, die zunächst nicht an spezifische Erkrankungen denken lassen: Nahrungsverweigerung, Sturz, Inkontinenz, Schwindel, akute Verwirrtheit, Gewichtsverlust, Antriebsschwäche und anderes mehr. In vielen Fällen ist eine erhebliche Diskrepanz zwischen der Schwere der Grunderkrankung und der Funktionsbehinderung im Alltagsleben festzustellen. In diesen Fällen ist das geriatrische Assessment geeignet, eine realistische Bewertung des Schweregrades einer oder mehrerer Erkrankungen hinsichtlich Lebensqualität und Selbständigkeit des Patienten vorzunehmen. > > Das Syndrom der Gebrechlichkeit entzieht sich in weiten Teilen der üblichen Diagnostik, führt jedoch unbehandelt zu einem progredienten Verlust von Selbständigkeit. Das geriatrische Assessment ist in der Lage, die bei der Gebrechlichkeit führenden motorischen Defizite zu erfassen, körperliche Aktivität zu messen und Kognition, Kontinenz, Gewichtsverlust resp. Malnutrition zu überprüfen. Durch die Erfassung funktioneller Ressourcen und Defizite ist es möglich, das geriatrische Assessment als Bestandteil an Qualitätssicherungsprogrammen anzuwenden, ebenso wie zur Beurteilung von Hilfs- und Pflegebedürftigkeit nach dem neuen Pflegeversicherungsgesetz. Je nach Zielsetzung (Behandlungszwecke, wissenschaftliche oder administrative Zwecke) muss das geriatrische Assessment strukturell und inhaltlich Modifikationen erfahren. 1.4 Patientenauswahl Da ein geriatrisches Assessment zeit-, personal- und damit auch kostenintensiv ist, ist eine möglichst genaue Eingrenzung der Patientengruppe, die am meisten vom geriatrischen Assessment profitiert, notwendig. Für Patienten mit einer akuten Erkrankung, die sowohl im Bereich der basalen als auch erweiterten Aktivitäten des täglichen Lebens selbständig sind, ist die Durchführung eines strukturierten geriatrischen Assessments wenig sinnvoll. Dies gilt auch für stark beeinträchtigte Patienten mit einer weit fortgeschrit tenen Demenz oder terminalen Erkrankung. Um die Patientenauswahl besser eingrenzen zu können, ist es deshalb notwendig, den geriatrischen Patienten zu definieren:

1.4 Patientenauswahl 9 1.. Abb. 1.4 Kriterien für die Patientenauswahl zur Durchführung des Assessment (aus Nikolaus 2000) Geriatrischer Patient Bei einem geriatrischen Patienten handelt es sich um einen älteren Menschen, der in der Regel an mehreren, meist chronischen Krankheiten leidet, die sich wechselseitig beeinflussen und die Selbständigkeit bedrohen. Aufgrund der bisherigen Erfahrungen lässt sich durch eine Kombination von chronologischem Alter mit einem oder mehreren der nachfolgenden Kriterien am besten die Patientengruppe identifizieren, die von einem umfassenderen geriatrischen Assessment profitiert: Funktionelle Beeinträchtigungen mit Schwierigkeiten bei der Be wältigung des Alltags, geriatrische Syndrome wie Inkontinenz, Gangstörungen und Stürze, chronische Schmerzen, Immobilität, Malnutrition, iatrogene Störungen sowie bestimmte Erkrankungen wie akute zerebrale Ischämien, Morbus Parkinson, frische Frakturen und Depression. Daneben gibt es noch eine Reihe von sozialen Kriterien wie Einweisung eines Patienten aus einem Altenheim ins Krankenhaus, die nicht geplante Wiedereinweisung innerhalb von 3 Monaten nach Krankenhausentlassung, zunehmende Bettlägerigkeit innerhalb der letzten 2 Wochen sowie der Tod des Lebenspartners innerhalb der letzten 12 Monate. Die Kriterien für die Patientenauswahl zeigt. Abb. 1.4.

10 Kapitel 1 Gebrechlichkeit (Frailty) 1 Insgesamt ist davon auszugehen, dass etwa 10 bis 40 % der älteren Krankenhauspatienten in Akutkrankenhäusern und etwa 70 % in geriatrisch-rehabilitativen Einrichtungen die Zielgruppe für ein geriatrisches Assessment im stationären Bereich darstellen. Für den ambulanten Bereich liegen wenig verlässliche Zahlen vor. Im Bereich der Alten- und Pflegeheime wird bei den Bewohnern in der Regel bei Aufnahme und dann einmal jährlich ein umfassendes Assessment durchgeführt. Dies dient zum einen der besseren Charakterisierung der Bewohner, zum anderen dem Qualitätsvergleich der Heime untereinander, sofern die gleichen Assessmentinstrumente angewendet werden (Benchmark). 1.5 Durchführung des geriatrischen Assessments 1.5.1 Behandlungsteam Die Vielschichtigkeit der Erkrankungen und die daraus resultierenden Probleme machen eine Diagnostik, Beurteilung und Behandlung im interdisziplinären Team erforderlich. Die Zusammensetzung der Arbeitsgruppe hängt von den strukturellen Bedingungen, der Auswahl der Patienten und den Behandlungszielen ab. Typischerweise besteht das sog. Kernteam aus Ärzten, Krankenschwestern/-pflegern und Sozialarbeitern. Die Arbeitsgruppe wird je nach Anforderung ergänzt durch Krankengymnasten, Ergotherapeuten, Logopäden, Psychologen, Musik- und Kunsttherapeuten, Seelsorger, Ernährungsberater, Zahnärzte usw. Die Teammitglieder teilen sich die Untersuchungen im Rahmen des Assessmentsprogramms entsprechend ihrer beruflichen Qualifikation auf. Wichtig für eine effektive Teamarbeit sind die Kompetenz im Bereich der eigenen und Kenntnisse der Tätigkeit der jeweils anderen Berufsgruppen. Jedes Teammitglied formuliert spezifische Teilbehandlungsziele, die in ein Gesamtbehandlungsziel münden. Prinzipiell können alle Tests vom gesamten Personal durchgeführt werden. Nur spezifische Tests wie z. B. neuro-psychologische Untersuchungen sollten durch speziell ausgebildete Personen durchgeführt werden. 1.5.2 Zeitbedarf Der Zeitbedarf zur Durchführung eines Assessments hängt von der jeweiligen Fragestellung, den ausgewählten Instrumenten und den Patienten ab. Erfahrungsgemäß ist die Aufmerksamkeit und Leistungsbereitschaft eines älteren Patienten nach etwa einer ¾ Stunde erschöpft, so dass ein umfangsreicheres Assessment über mehrere Tage verteilt durchgeführt wird.

http://www.springer.com/978-3-642-28904-0