Peyman Jafari Der andere Iran Geschichte und Kultur von 1900 bis zur Gegenwart

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Transkript:

Unverkäufliche Leseprobe Peyman Jafari Der andere Iran Geschichte und Kultur von 1900 bis zur Gegenwart 223 Seiten, Broschiert ISBN: 978-3-406-60644-1 Verlag C.H.Beck ohg, München

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung (1997 2005) Die Euphorie, die am 23. Mai 1997 über den Iran hereinbrach, lässt sich kaum beschreiben. In den Straßen Teherans spielten sich Szenen ab, die man bis dahin nur bei einem großen Sieg der Fußball-Nationalelf gesehen hatte: Autos fuhren hupend hin und her, Jugendliche schwenkten die iranische Fahne, und hier und da wurde sogar getanzt. «Ein historischer Sieg», «Hoffnung» und «Mandat für einen Wandel» lauteten die Schlagzeilen in den Zeitungen, die am folgenden Tag den Sieg des reformorientierten Chatami bei den Präsidentschaftswahlen bekanntgaben. Chatami, der erst 44 Jahre alt war, als er Präsident wurde, verkörperte für viele einen frischen Wind im Land der greisen Mullahs. Die Wahlbeteiligung war sehr hoch: 80 Prozent der Wahlberechtigten waren zur Urne gegangen, und 70 Prozent (fast 30 Millionen Iraner) hatten für ihn gestimmt. Dieser Sieg war umso bemerkenswerter, als der Gegenkandidat, der erzkonservative Parlamentsvorsitzende Nateq Nuri, vom Obersten Führer Chamenei unterstützt wurde und den gesamten Propagandaapparat zur Verfügung hatte. Er erhielt jedoch nicht mehr als 7 Millionen Stimmen, eine blamable Niederlage. Chatami stand für die Hoffnung auf einen Wandel oder, genauer gesagt, auf politische Reformen. Seine Regierung und seine politischen Verbündeten im Parlament erhielten deshalb die Bezeichnung «die Reformer». Der Begriff «Reformbewegung» schloss alle Kräfte ein, die Reformen anstrebten, sowohl Politiker als auch gesellschaftliche Organisationen und soziale Bewegungen. Ironischerweise hatten die Konservativen selbst zu Chatamis Wahlsieg erheblich beigetragen. In den zwei Jahren vor seiner Wahl hatten sie ihre Offensive gegen «unislamische» Werte und Normen verstärkt. Auf der Straße wurden Frauen und Jugendliche von Ordnungskräften schikaniert,

8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung 129 Andersdenkende wurden von Mitgliedern der Ansar-e Hizbollah eingeschüchtert. Die Angst vor Rechtlosigkeit und Willkür nahm dadurch enorm zu. Vor diesem Hintergrund konnte Chatamis Botschaft über die Bedeutung von Freiheit und die Beachtung von Bürgerrechten auf viel Unterstützung zählen. Zwei Langzeittrends brachten Reformen an die Spitze der politischen Agenda. Erstens wurde deutlich, dass die sozialen und kulturellen Veränderungen mit den politischen Machtstrukturen in Konflikt gerieten. Zweitens hatten die Fraktionen sehr unterschiedliche Ansichten zu der Frage, wie dieser Konflikt gemeistert werden sollte. Freiheiten einschränken oder Freiheiten erweitern waren die beiden Antworten. Nach dem Scheitern Rafsandschanis zwischen 1989 und 1997 unternahm Chatami einen neuen Versuch, der Islamischen Republik gesellschaftlichen Rückhalt zu verschaffen. Rafsandschanis ökonomische Liberalisierung hatte die Gegensätze zwischen großen Teilen der Gesellschaft und dem Staat nur verschärft. Vor allem durch die Krawalle 1995 war ein Teil der politischen Elite zu der Erkenntnis gelangt, dass zur Erhaltung des sozialen Friedens mehr nötig war als Repression. Diese Gruppierung unter der Führung von Chatami plädierte für politische Reformen, um die Gegensätze zwischen Staat und Gesellschaft zu verringern und eine politische Grundlage für die Legitimität der Islamischen Republik herzustellen. Die Millionen Wähler, die für Chatami stimmten, hatten äußerst hohe Erwartungen und glaubten fest daran, dass seine Regierung Reformen durchführen würde. Er trug zwar wie die anderen Mullahs ein Gewand und einen Turban, doch im Gegensatz zu ihren abgenutzten Predigten hörte man von ihm Begriffe wie «Dialog der Kulturen», «Zivilgesellschaft», «Rechtsstaat» und «islamische Demokratie». Als dann jedoch konkrete Reformen ausblieben, schlug die Hoffnung in Enttäuschung um. Direkt nach Chatamis Wahl hatten seine konservativen Gegner nichts unversucht gelassen, um das Reformprojekt zu sabotieren. Chatami reagierte mit einem Zugeständnis nach dem anderen, bis von seinen Versprechen nichts mehr übrig und die Geduld seiner Wähler, die ihn 2001 wiedergewählt hatten, am Ende war.

130 8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung Seit dem Beginn seiner ersten Amtszeit musste Chatami faktisch zwischen zwei Kräften lavieren: den Wählern, sozialen Bewegungen und Organisationen, die eine Veränderung forderten, und den Konservativen, die das politische System benutzten, um Veränderungen zu verhindern. Der Verlauf des Reformprojekts wurde letztendlich innerhalb dieser Dreiecksbeziehung bestimmt. Zwischen Demokratie und Theokratie Das politische System des Iran lässt sich schwer in Kategorien wie «Demokratie» oder «Diktatur» fassen; es ist eine komplexe Kombination von beidem, doch anders, als viele denken, sind die politischen Verhältnisse im Iran viel freier als in anderen Ländern der Region. Die Debatten im iranischen Parlament zum Beispiel sind leben diger und kritischer als die im ägyptischen, und die Bürgerrechte etwa in Saudi-Arabien sind mit denen im Iran nicht einmal vergleichbar. Obwohl das Parlament unter enormen Beschränkungen arbeitet, ist sein Spielraum viel größer als zu Zeiten des Schahs. Der hybride Charakter des politischen Systems, in dem demokratisch gewählte Einrichtungen und theokratische Strukturen ineinandergreifen, resultiert aus der Revolution selbst, Historikern zufolge eine der am breitesten unterstützten Revolutionen in der Geschichte. Das Volk hatte massenhaft daran teilgenommen und seine Souveränität eingefordert. Dieses Element manifestierte sich in mehreren Einrichtungen, die unmittelbar von der Bevölkerung gewählt werden. Doch die führende Rolle Chomeinis und anderer Geistlicher bedeutete, dass sie die Souveränität des Volkes begrenzen wollten, da für sie die letztendliche Macht bei Gott liegt und nicht bei den Menschen. Sie installierten mehrere Machtzentren, die den Ulama als den Vertretern Gottes die Macht gaben, die Freiheiten der Bevöl kerung einzuschränken. Schon der offizielle Name des Landes enthält einen Gegensatz zwischen den Begriffen «islamisch» und «Republik». Artikel 56 der Verfassung lautet zum Beispiel: «Die absolute Souveränität über die Erde und die Menschen gebührt Gott, und Er hat den

Zwischen Demokratie und Theokratie 131 Menschen zum Herrn über sein eigenes Schicksal gemacht ( ). Das Volk kann dieses göttliche Recht entsprechend der in den folgenden Artikeln benannten Weise ausüben.» Doch nach Chatamis Wahlsieg erklärte der erzkonservative Ayatollah Dschannati: «Verschiedene [politische] Präferenzen sind die eine Sache, das herrschende System die Islamische Republik, das Vorbild von Imam Chomeini und so weiter eine andere ( ). Jeder muss sich darüber im Klaren sein, dass dieser Staat der Staat der welayat-e faqih ist ( ). Der Herr Präsident muss sich der Tatsache bewusst sein, dass er Rechenschaft ablegen muss, erstens gegenüber Gott, weil er sein Amt Ihm zu verdanken hat, zweitens dem Obersten Führer, dem wali-ye faqih, und danach kommt die Wählerschaft.» 1 Die Verfassung enthält somit einen fundamentalen Gegensatz zwischen der Souveränität des Volkes und der der Geistlichen; zwischen Reformern und Konservativen kam es deshalb zu heftigen Diskussionen. Der größte Teil der Reformer akzeptierte jedoch, dass die Verfassung der Rahmen war, innerhalb dessen die politischen Veränderungen stattfinden sollten, und Chatami wandte sich nicht gegen das Prinzip der welayat-e faqih. Wie verwirrend die Funktionsweise des politischen Systems im Iran ist, zeigt das Verhältnis zwischen den wichtigsten Machtzentren des Staates (siehe schematische Übersicht im Anhang). Das Volk bestimmt durch Direktwahl die Stadträte, das Parlament (madschles) und den Präsidenten, der die Regierung zusammenstellt und dem Parlament zur Genehmigung unterbreitet. Die Bevölkerung wählt die 86 Geistlichen im Expertenrat, der dann den Obersten Führer wählt. Der Oberste Führer hat die letztendliche religiöse und weltliche Macht inne. Er kann die allgemeine politische Richtung der Islamischen Republik bestimmen und führt den Befehl über die Streitkräfte. Er ernennt auch den Obersten Richter. Dann gibt es noch zwei wichtige Organe, die eine indirekte, aber dennoch wichtige Funktion haben. Der Wächterrat besteht aus sechs geistlichen Rechtsgelehrten, die vom Obersten Führer ernannt, und sechs weltlichen Rechtsgelehrten, die von der Justiz berufen werden. Sie haben die Befugnis, die Beschlüsse des Parlaments auf ihre Verein-

132 8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung barkeit mit den islamischen Rechtsgrundsätzen zu überprüfen. Da sie auch die Kandidaten für das Präsidentenamt, das Parlament und den Expertenrat ablehnen können, haben sie eine mächtige Position. Weil es zwischen Parlament und Wächterrat in der Vergangenheit oft wegen bestimmter Gesetze zu einer Pattsituation kam, wurde ein Schlichtungsrat eingesetzt, der feststellt, was das Beste für die Regierung ist. Die Mitglieder dieses Rats werden vom Obersten Führer ernannt und haben die Befugnis, ihn zu beraten. Außerdem kontrollieren sie die Arbeit aller anderen Organe. Die Spaltung des politischen Systems in rivalisierende Machtzentren führte dazu, dass diese in den politischen Kampf zwischen den verschiedenen Fraktionen einbezogen wurden. Als Chatami 1997 Präsident wurde, befanden sich alle anderen Organe in den Händen der Konservativen. Seine Anhänger gewannen 1999 die Kommunalwahlen und 2000 die Parlamentswahlen und stärkten dadurch ihre Position. Die Konservativen konnten jedoch auf die theokratischen Organe und die Streitkräfte zurückgreifen, um das Reformprojekt zu unterminieren. Religiöse Intellektuelle und die Säkularisierung Die Auseinandersetzungen zwischen Reformern und Konservativen über individuelle Freiheiten und die Souveränität des Volkes gegenüber der Macht der Geistlichen kamen nicht überraschend. Bereits in den frühen neunziger Jahren entstand eine Strömung unter Intellektuellen, die zu den Islamisten der ersten Stunde gehört, sich dann aber zu scharfen Kritikern des politischen Systems und dessen religiöser Rechtfertigung gewandelt hatten. Ihre Metamorphose war das Ergebnis des Gärungsprozesses, den die Revolution in ihrem Denken bewirkte. Sie hatten versucht, die Auffassungen über die Gesellschaft zu ändern, änderten sich aber auch selbst. Nach der Revolution wurden die Universitäten für einige Jahre geschlossen, um alle Fakultäten und das Studienmaterial zu islamisieren. Laut Aussage eines der Beteiligten wurden schließlich nur 10 bis

Religiöse Intellektuelle und die Säkularisierung 133 15 Prozent der Inhalte verändert, da es sich in der Praxis als unmöglich erwies, eine islamische Wirtschaftswissenschaft, Soziologie oder Physik einzuführen. 2 Um den religiösen Gehalt des Hochschulstudiums zu verstärken, wurden die Beziehungen zwischen den islamischen Seminaren in Qom und den Universitäten intensiviert. Die Einflüsse wirkten sich jedoch auch in die andere Richtung aus. Religionsstudenten machten Bekanntschaft mit Marx, Weber, Durkheim und anderen westlichen Denkern. Abdol-Karim Sorusch, einer der wichtigsten intellektuellen Dissidenten des heutigen Iran, ist in gewisser Weise die Personifizierung der Gegensätze in der Islamischen Republik. Als Professor an der Universität von Teheran hatte er seine Karriere dazu benutzt, politisch linke Ideen zu verbannen. Um seine Gegner aus dem Feld zu schlagen, hatte er sich in westliche Philosophie und Gesellschaftstheorien vertieft, darunter in den Marxismus. Dass das keine Einbahnstraße war, zeigte sich, als er zu sozialwissenschaftlichen Methoden griff, um die konservativen Ulama zu kritisieren. Trotz der komplizierten Sprache, die er benutzt, ist seine Argumentation sehr einfach: Religion selbst ist unveränderlich, doch das Wissen des Menschen über sie ist abhängig von Zeit und Ort. Es gibt zwar, so Sorusch, einen wahren Islam, doch dessen Auslegungen sind menschlich und somit fehlbar. Durch seine Betonung von Vernunft, Philosophie und wissenschaftlicher Methodik leistete er einen wichtigen Beitrag zur Säkularisierung des islamischen Denkens. 3 Er riskierte auch politische Äußerungen und plädierte für eine Trennung von Religion und Staat, für Toleranz, freie Meinungsäußerung, Frauenrechte und eine «religiöse Demokratie». «Eine ideale religiöse Gesellschaft kann auf nichts anderem als dem demokratischen Argument basieren», schrieb er. 4 Die konservativen Ulama sahen darin eine Unterminierung der welayat-e faqih, und sie durfte ab 1996 nicht mehr lehren. Sorusch hält sich seitdem oft im Ausland auf, u. a. in Berlin, doch seine Ideen haben nur an Boden gewonnen. Viele religiöse Intellektuelle, die die konservativen Ulama kritisierten, hatten einen ähnlichen Hintergrund wie Sorusch. Zwei bekannte

134 8. Chatami: Von der Euphorie zur Enttäuschung Dissidenten, die später aus dem Land flohen, Gandschi und Sazegara, waren sogar in der Revolutionsgarde. Unter den Dissidenten sind auch Geistliche zu finden, wie Schabestari und Kadiwar. Ayatollah Montazeri, ein hoher Geistlicher, der bis zu seinem Tod im Dezember 2009 unter Hausarrest lebte, wandte sich gegen das Prinzip der welayat-e faqih, wie es heute im Iran ausgeübt wird, und plädierte dafür, dass der Oberste Führer sich von der Tagespolitik fernhält und sich nur sehr allgemein mit politischen Fragen beschäftigt. Die neue Richtung, die die ehemaligen Islamisten wie Sorusch einschlugen, resultierte in drei verschiedenen Standpunkten. Die erste Auffassung erkennt die Rolle der Ulama und des Obersten Führers in der Politik an, will diese jedoch einschränken, z. B. dadurch, dass der Oberste Führer nur ein Vetorecht erhält oder dass er von der Bevölkerung direkt gewählt wird. Der zweite Standpunkt räumt der Religion zwar eine Rolle in der Politik ein, lehnt jedoch den unmittelbaren Einfluss der Ulama ab und plädiert für die Trennung von Kirche und Staat in einer «religiösen Demokratie». Die dritte, am wenigsten vertretene Auffassung tritt für eine säkulare Demokratie ein. Die erste und in geringerem Maße auch die zweite Gruppe religiöser Intellektueller erhielten Beifall von den Politikern der linken Fraktion. Auch ein Teil der Pragmatiker um Rafsandschani war anfangs auf ihrer Seite. Die veränderte Haltung von Intellektuellen zur Religion korrespondierte mit den Entwicklungen in der Gesellschaft. Der Glaube hatte für viele Menschen immer noch eine große Bedeutung, doch sie gingen anders damit um, als die Regierung es ihnen vorschrieb. Vor allem viele junge Menschen deuteten den Islam selbst neu, statt die Gebote und Verbote der Ayatollahs zu befolgen. Sie stellten nicht in Abrede, dass Religion eine politische und soziale Dimension besitzt, wollten jedoch selbst bestimmen, wie sie mit ihrem Glauben umgehen. Andere entwickelten eine eher individualistische Haltung zur Religion; sie wollten ihren Glauben nicht allzu stark mit ihrem sozialen und politischen Leben vermengen, soweit das in der Islamischen Republik möglich war. Nicht von ungefähr beklagten die Geist lichen,

Das Reformprojekt 135 dass mehr als 70 Prozent der Bevölkerung sich nicht an die Pflicht der täglichen Gebete hielten und dass weniger als 2 Prozent dem Freitagsgebet in der Moschee beiwohnten. 5 Eine dritte, viel kleinere Gruppe wurde areligiös. Das Reformprojekt Chatami nannte als größte Aufgabe seiner Regierung, «das elementarste Recht des Volkes zu verwirklichen, das Recht, seine Zukunft selbst zu bestimmen». Das führte bei manchen Iranern zu der Erwartung, dass er die Islamische Republik demokratisieren würde. In seiner Antrittsrede formulierte er sein Reformprojekt wie folgt: Der Schutz der Freiheit des Individuums und der Rechte der Bevölkerung ist die grundlegende Pflicht des Präsidenten, entsprechend dem von ihm abgelegten Eid, und ergibt sich zwangsläufig aus der Würde des Menschen in der göttlichen Religion ( ). [Diese Pflicht erfordert,] dass er die notwendigen Voraussetzungen schafft zur Realisierung der verfassungsmäßigen Freiheiten, zur Stärkung und Erweiterung der Institutionen der civil society ( ) und zur Verhütung von Gewalt gegen persönliche Integrität, Rechte und gesetzliche Freiheiten. ( ) In einer Gesellschaft, die ihre Rechte gut kennt und die von Gesetzen regiert wird, werden die Rechte und Pflichten der Bürger anerkannt. 6 Das waren sehr ehrgeizige Pläne, doch sie liefen nicht auf eine grundlegende Änderung der institutionellen Verhältnisse wie etwa die Abschaffung oder Änderung der Rolle des Obersten Führers hinaus. Faktisch hatten die Reformer drei spezifische Ziele, die durchaus die Voraussetzungen für eine Demokratisierung hätten schaffen können: den Schutz der individuellen Freiheiten, die Förderung gesellschaftlicher Organisationen und das Anregen des «Dialogs der Kulturen». Letztgenanntes Element hatte sowohl eine inländische wie eine ausländische Dimension. Unter «Dialog» verstand Chatami, dass die verschiedenen politischen Fraktionen und ideologischen Strömungen einander Raum gewähren sollten, doch der Begriff bezog sich vor allem auf die internationalen Beziehungen, die Chatami zufolge