Die Bedeutung von kulturellen Unterschieden für den Umgang mit Kindern unter 3 Jahren

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Transkript:

Workshop 3 Dr. Jörn Borke (Durchführung) Die Bedeutung von kulturellen Unterschieden für den Umgang mit Kindern unter 3 Jahren 1 Einführung 2 Der Kulturbegriff 3 Prototypen kultureller Entwicklungspfade 4 Arbeitsgruppe Kultursensitive Aspekte in der Krippenpädagogik 1 Einführung Die Berücksichtigung von unterschiedlichen kulturellen Hintergründen wird zunehmend als wichtige Aufgabe von pädagogischer Arbeit anerkannt. So wird dieses Thema in vielen Bildungs- und Orientierungsplänen erwähnt und findet im Bereich der inklusiven und interkulturellen Pädagogik eine besondere Berücksichtigung. Nach wie vor besteht allerdings ein großer Bedarf an umfassenden, konkreten und praxistauglichen Ansätzen für die Arbeit in Kinderkrippen sowie in der Tagespflege, die systematisch verschiedene kulturelle Verläufe von Erziehung und Entwicklung berücksichtigen. Um diese erarbeiten zu können, eignen sich insbesondere Erkenntnisse, die im Rahmen der kulturvergleichenden Säuglings- und Kleinkindforschung in den letzen Jahren erarbeitet wurden (Keller 2007; Rogoff 2003). Diese werden hier in Grundzügen dargelegt und mit Blick auf praktische Konsequenzen reflektiert. Abschließend wird eine Arbeitsgruppe des Niedersächsischen Institutes für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) vorgestellt, in der (aufbauend auf wissenschaftlichen Erkenntnissen und praktischen Erfahrungen sowie in enger Kooperation mit mehreren Kinderkrippen) Fortbildungsmodule und konzeptionelle Grundlagen für eine kultursensitive Arbeit in Kinderkrippen erarbeitet werden (Borke u.a. 2009). 2. Der Kulturbegriff Es gibt eine breite Palette unterschiedlicher Definitionen von Kultur. In diesem Workshop wird ein Kulturbegriff zugrunde gelegt, dem zufolge ein kultureller Kontext durch in diesem geteilte Deutungsmustern und Verhaltenspraktiken beschrieben werden kann, die an die jeweils vorherrschenden ökonomischen und sozialen Ressourcen, in denen die Familien leben, angepasst sind und die in Form von soziokulturellen Orientierungen erfasst werden können (Keller 2007). Dabei lassen sich unterschiedliche kulturelle Kontexte beschreiben, die jeweils durch ähnliche sozioökonomische Hintergründe gekennzeichnet sind (vgl. Abschnitt 3). 1

Damit wird aber keinesfalls bestritten, dass jedes Kind und jede Familie unterschiedlich sind und dass sich demnach endlos viele Familienkulturen beschreiben ließen, die sich alle durch mannigfaltige Aspekte mehr oder weniger ausgeprägt unterscheiden (Derman-Sparks 2008; Borke u.a. 2005). Es lässt sich aber auch zeigen, dass bestimmte Überzeugungen von Erziehung und Entwicklung sowie bestimmte elterliche und erzieherische Verhaltensweisen in bestimmten kulturellen Kontexten häufiger auftreten bzw. jeweils anders gesehen und bewertet werden. Demnach treten deutliche Gruppenunterschiede zwischen verschiedenen kulturellen Kontexten auf (Kagitçibasi 2007; Keller 2007, 2003; Markus/Kitayama 1991). 3. Prototypen kultureller Entwicklungspfade Der jeweilige soziökonomische Kontext, die Vorstellungen von elterlichem und erzieherischem Umgang mit Kindern, die gezeigten Verhaltensweisen sowie die kindlichen Entwicklungsverläufe lassen sich jeweils spezifischen Entwicklungspfaden zuordnen (Keller 2007). Diese folgen einem bestimmten kulturellen Modell, aus dem sich - Korrespondierende Sozialisationsziele: Überzeugungen darüber, was Kinder wann können, lernen und entwickeln sollten - Ethnotheorien: Theoretische Annahmen über den richtigen und förderlichen Umgang mit Säuglingen und Kleinkindern - sowie elterliche bzw. erzieherische Verhaltensweisen ableiten lassen (Keller 2007). Weiterhin kann gezeigt werden, dass dadurch auch die Art, wie die Kinder die jeweils alterstypischen Entwicklungsaufgaben lösen, beeinflusst wird (Keller u.a. 2004). Folgende Dimensionen prägen entscheidend ein kulturelles Modell sowie die darauf aufbauenden Entwicklungspfade (Kagitçibasi 2007; Keller 2007; Markus/Kitayama 1991): - Streben nach Autonomie: Eigenständigkeit, Independenz, Unabhängigkeit, Individualität, Selbstverwirklichung - Streben nach Verbundenheit: Relationalität, Gemeinschaftlichkeit, Interdependenz. Auch wenn viele verschiedene Entwicklungspfade hinsichtlich der unterschiedlichen Ausprägungen anhand der Dimensionen Autonomie und Verbundenheit beschreibbar sind, lassen sich dennoch bestimmte Prototypen finden, die sich gut zur Veranschaulichung eignen, da sie gleichsam das Spektrum der Möglichkeiten abstecken. Prototyp I Der Prototyp I ist gekennzeichnet durch eine hohe Wertigkeit für Autonomie und eine eher geringe Wertigkeit für Verbundenheit. Dieser Prototyp findet sich in Kontexten der westlichen Mittelschicht bei Familien, die in einer städtischen Umgebung ansässig sind, eine hohe formale Bildung haben, in Kernfamilien leben mit wenig Kindern und diese in relativ hohem Alter bekommen (Keller 2007). Fragt man in Deutschland Eltern oder Erzieherinnen und Erzieher, was wichtige Entwicklungsziele für Kinder in den ersten drei Lebensjahren sind, so wird Folgendes angeführt: 2

- Autonomieunterstützende Entwicklungsziele, beispielsweise eigene Vorstellungen klar ausdrücken, Talente und Interessen entwickeln, werden als bedeutsam erachtet. - Verbundenheitsorientierte Entwicklungsziele, beispielsweise tun, was Eltern sagen, ältere Menschen respektieren, werden eher als unwichtig erachtet (Keller 2007). Auch mit Blick auf die Ethnotheorien zum elterlichen bzw. erzieherischen Verhalten sowie auf das tatsächlich gezeigte Verhalten besteht eine Bevorzugung von autonomieförderlichen Interaktionsformen, wie es folgende Beispiele veranschaulichen: - das Folgen kindlicher Initiativen, - das Einräumen von Wahlmöglichkeiten für das Kind, - der Blickkontakt (durch den mittels kontingentem Verhalten den Säuglingen schon früh Selbstwirksamkeitserlebnisse vermittelt werden können), - die Stimulation mit Objekten (durch die es Kindern schon recht früh ermöglicht werden kann, sich alleine zu beschäftigen sowie sich mit einer nicht sozialen Umwelt auseinanderzusetzen). (Keller u.a. 2010; Keller u.a. 2009; Keller u.a. 2006; Keller u.a. 2004). Dieser Entwicklungspfad stellt auch die maßgebliche Grundlage für neuere pädagogische Ansätze in der frühpädagogischen Arbeit dar, wie sie z. B. in den Ansätzen der Ko- Konstruktion und Selbstbildung vertreten werden (Schäfer 2005; Fthenakis 2004). An dieser Stelle ist jedoch zu fragen, inwiefern diese Ansätze auch für Kinder und Familien passen, die einem kulturellen Modell folgen, in dem die Autonomieentwicklung nicht diesen herausragenden Stellenwert hat. Um dies zu verdeutlichen, soll ein zweiter Prototyp vorgestellt werden. Prototyp II Der Prototyp II ist gekennzeichnet durch eine hohe Wertigkeit der Verbundenheit sowie durch eine geringe Wertigkeit der Autonomie. Kontexte, in denen dieser verbundenheitsorientierte Entwicklungspfad zentral ist, sind beschreibbar als eher ländliche Regionen, in denen mehrere Generationen in großfamiliären Strukturen zusammenleben und die Familien früh sowie auch relativ viele Kinder bekommen. Diese kulturellen Kontexte finden sich in nicht-westlichen traditionellen Regionen wie z. B. im ländlichen Afrika oder Asien. Eltern sowie Erzieherinnen und Erzieher bevorzugen Entwicklungsziele, die Verbundenheit unterstützen und sie messen denen, die als autonomieunterstützend angesehen werden können, geringe Bedeutung bei (Keller 2007). Auch bezüglich der ethnotheoretischen Überzeugungen und der elterlichen bzw. erzieherischen Verhaltensweisen zeigt sich eine deutliche Bevorzugung von verbundenheitsorientierten Verhaltensweisen, insbesondere: - Körperkontakt: durch den dem Kind das Gefühl von Verbundenheit und Identifikation mit der Gruppe gezeigt werden kann. - Leiten und Lenken des Kindes: hierbei wird weniger auf die kindlichen Wünsche eingegangen, es werden weniger Fragen gestellt und weniger Wahlmöglichkeiten eingeräumt; es wird jedoch eher davon ausgegangen, dass das Kind noch klein ist und noch nicht wissen kann, was und wie etwas gemacht wird und daher Anleitung und klare Ansagen durch die Älteren benötigt; durch das Betonen kindlicher Wünsche werde die Eigenständigkeit in einem Maße verstärkt, wie es für diese Kontexte nicht gewollt und stimmig wäre, geht es doch viel mehr um die Eingliederung in die Gruppe als um die Berücksichtigung persönlicher Vorlieben. 3

(Gonzalez-Mena 2008; Keller u.a. 2010; Keller u.a. 2009; Keller u.a. 2006; Keller u.a. 2004). - Aufwachsen der Säuglinge und Kleinkinder mit multiplen Betreuungssystemen von Anfang an. Natürlich gibt es neben diesen beiden Prototypen noch viele Mischformen, die beispielsweise durch eine gleichzeitige hohe Wertung von Autonomie und Verbundenheit beschrieben werden können (Kagitçibasi 2007). Diese Verteilung trifft oft auf integrierte Familien mit Migrationshintergrund in Deutschland zu, die häufig aus eher ländlichen und strukturschwächeren Regionen (in denen die Verbundenheit eine große Rolle spielt) in eher städtisch und westlich geprägte Regionen kommen (in denen die Autonomie eine große Rolle spielt). Hier kann es natürlich zu Schwierigkeiten, Unsicherheiten, Missverständnissen und Konflikten kommen, wenn unterschiedliche Modelle aufeinandertreffen und beispielsweise das, was Eltern für richtig halten, einem anderen Modell folgt als dem pädagogischen Konzept, das einer Einrichtung zugrunde liegt. Dies kann dann sowohl zu großen Irritationen beim Kind, bei der Familie, bei den pädagogischen Bezugspersonen und in der Einrichtung führen. Für Kinder, die einen eher verbundenheitsorientieren Hintergrund haben, kann es überfordernd sein, wenn ihnen viele Wahlmöglichkeiten geboten und Fragen gestellt werden oder sie im Freispiel die Abläufe selber gestalten sollen. Sie fangen dann möglicherweise an, sich entweder zurückzuziehen oder ausagierendes Verhalten zu zeigen, um ihrer Überforderung Ausdruck zu verleihen. Hier wäre dann ein eher durch Vorgaben der Erzieherin oder des Erziehers gestalteter Ablauf für die Kinder passender, da er daran anschließt, was sie kennen und was ihrem kulturellen Hintergrund entspricht. In diesem Zusammenhang kann es auch zu Spannungen mit den Eltern kommen, die aus ihrer Herkunftskultur möglicherweise frühpädagogische Einrichtungen gewohnt sind, die stärker auf Angebote und Anleitungen vonseiten der Erzieherin ausgerichtet sind (Dintsioudi 2009). Hier ist das gegenseitige Kennenlernen und Wertschätzen von unterschiedlichen Entwicklungs- und Erziehungsverläufen ebenso wichtig wie das flexible Anpassen von pädagogischen Ausrichtungen, um eine Atmosphäre sowie Abläufe schaffen zu können, die für alle Beteiligten funktionieren und annehmbar sind. Aus dem Wissen um die Vielfalt von Entwicklungs- und Erziehungsprozessen leiten sich also Konsequenzen sowohl für die Haltung von Krippenerzieherinnen und Tagespflegekräften als auch für die jeweiligen pädagogischen Konzepte ab, die es gilt, wissenschaftlich fundiert sowie praxistauglich und praxiserprobt herauszuarbeiten, damit es zukünftig noch besser gelingen kann, der kulturellen Vielfalt gerecht zu werden. Im folgenden Abschnitt wird eine Arbeitsgruppe vorgestellt, die sich genau dies zum Ziel gesetzt hat. 4. Arbeitsgruppe Kultursensitive Aspekte in der Krippenpädagogik Die Arbeitsgruppe Kultursensitive Aspekte in der Krippenpädagogik des Niedersächsischen Institutes für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) kooperiert mit dem Fachgebiet Entwicklung & Kultur an der Universität Osnabrück, mit der Fachhochschule Emden und dem Bachelor-Studiengang Integrative Frühpädagogik; mit der Stadt Oldenburg und dem Verein 4

für Kinder e.v. Oldenburg (Beteiligte Personen: Jörn Borke, Alke Brouer, Hanna Bruns, Paula Döge, Beate Hamilton-Kohn, Vanessa Harting, Joscha Kärtner, Hannelore Kleemiß, Karina Pypec). Im Rahmen dieser Arbeitsgruppe werden auf der Grundlage der oben einführend skizzierten theoretischen und empirischen Befunde aus der kulturvergleichenden Säuglingsund Kleinkindforschung sowie in engem Austausch mit Trägervertreterinnen, Kitaleitungen und Krippenerzieherinnen konzeptionelle Grundlagen und Weiterbildungsprogramme für Erzieherinnen erarbeitet, die es ermöglichen, der kulturellen Vielfalt im Krippenalltag gerecht werden zu können sowie Abläufe für Kinder, Eltern und Erzieherinnen noch besser und befriedigender gestalten zu können (Borke u.a. 2009). Dabei werden bedeutende Schlüsselsituationen aus dem Krippenalltag (wie der Dialog mit den Eltern oder Ess-, Schlaf- und Spielsituationen; Kähling-Deutschmann/Rath 2009) hinsichtlich der aktuellen pädagogischen Debatte beleuchtet. Ziel ist es, Befunde aus der kulturvergleichenden Säuglings- und Kleinkindforschung zu diskutieren, die um pädagogische Konzepte aus anderen kulturellen Kontexten erweitert sind, und anhand von Beispielen aus der Praxis die besonders gelungenen oder problematischen Situationen in der Krippe aufzuzeigen, bei denen kulturelle Vielfalt eine Rolle gespielt hat. Auf dieser Grundlage werden dann Ansätze erarbeitet, die der kulturellen Vielfalt gerecht werden sollen. In einem nächsten Schritt werden diese in Kinderkrippen erprobt und die Erfahrungen an die Arbeitsgruppe rückgemeldet, um bei Bedarf Veränderungen und Anpassungen vornehmen zu können. Auf diese Weise sollen die theoretische und empirische Untermauerung sowie die Praxistauglichkeit gewährleitstet werden. 5

Literatur Borke, Jörn/Plaumann, Hanna/Harting, Vanessa/Pypec, Karina (2009): Grundzüge eines kulturinformierten pädagogischen Ansatzes für die Arbeit in Kinderkrippen. Poster, präsentiert auf der Tagung Kinderkrippen Krippenkinder Forschung zur institutionellen Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern unter drei Jahren, der Robert Bosch Stiftung und der Kommission Pädagogik der frühen Kindheit (PdfK) der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaft (DGfE). Berlin, 19. 20. November Borke, Jörn/Werchan, Anne/Abels, Monika/Kantrovisch, Verena (2005): Das Konzept der Babysprechstunde Osnabrück. Theorie und Praxis eines klinischentwicklungspsychologischen Ansatzes. In: Hawellek, Christian/Schlippe, Arist von (Hrsg.): Entwicklung unterstützen Unterstützung entwickeln. Göttingen, S. 172 191 Derman-Sparks, Louise (2008): Anti-Bias Pädagogik: Aktuelle Entwicklungen und Erkenntnisse aus den USA. In: Wagner, Petra (Hrsg.): Handbuch Kinderwelten. Vielfalt als Chance Grundlagen einer vorurteilsbewussten Bildung und Erziehung. Freiburg im Breisgau, S. 239 248 Dintsioudi, Anna (2009): Kultursensitivität in der Bildungspraxis. In: Bundesvereinigung Kulturelle Kinder- und Jugendbildung (BKJ) (Hrsg.): Kulturelle Bildung. Themenheft 4 Strategie Kulturelle Vielfalt. Remscheid, S. 32 33 Fthenakis, Wassilios E. (2004): Zur Neukonzeptualisierung der Bildung in der frühen Kindheit. In: Fthenakis, Wassilios E. (Hrsg.): Elementarpädagogik nach Pisa. Wie aus Kindertagesstätten Bildungseinrichtungen werden. 5. Aufl. Weinheim, S. 18 37 Gonzalez-Mena, Janet (2008): Diversity in Early Care and Education. Honoring Differences. 5 th Edition. New York Kagitçibasi, Çigdem (2007): Family, self, and human development across cultures: Theory and applications. 2 nd Edition. Mahwah, NJ Kähling-Deutschmann, Frauke/Rath Ingrid (2009): Schlüsselsituationen in der Krippe und ihre Bedeutung für die Qualitätsentwicklung. In: Bethke, Christian/Schreiner, Sonja A. (Hrsg.): Die Jüngsten kommen. Kinder unter drei in Kindertageseinrichtungen. Weimar/Berlin, S. 147 152 Keller, Heidi (2003): Socialization for Competence: Cultural Models of Infancy. In: Human Development, 46. Jg., H. 5, S. 288 311 Keller, Heidi (2007): Cultures of infancy. Mahwah, NJ Keller, Heidi/Borke, Jörn/Chaudhary, Nandita/Lamm, Bettina/Kleis, Astrid (2010): Continuity in Parenting Strategies A Cross-Cultural Comparison. In: Journal of Cross-Cultural Psychology, 41. Jg., H. 3, S. 391 409 Keller, Heidi/Hentschel, Elke/Yovsi, Relindis Dzeaye/Lamm, Bettina/Abels, Monika/Haas, Verena (2004): The Psycho-linguistic embodiment of parental ethnotheories: A new avenue to understand cultural differences in parenting. In: Culture and Psychology, 10. Jg., H. 3, S. 293 330 Keller, Heidi/Yovsi, Relindis Dzeaye /Borke, Jörn/Kärtner, Joscha/Jensen, Henning/Papaligoura, Zaira (2004): Developmental Consequences of Early Parenting Experiences: Self Recognition and Self Regulation in Three Cultural Communities. In: Child Development, 75. Jg., H. 6, S. 1745 1760 6

Keller, Heidi/Borke, Jörn/Staufenbiel,Thomas/Yovsi, Relindis Dzeaye /Abels, Monika/Papaligoura, Zaira/Jensen, Henning/Lohaus, Arnold/Chaudhary, Nandita/Lo, Wingshan/Su, Yanjie (2009): Distal and Proximal Parenting as two Alternative Parenting Strategies during Infant s Early Months of Life. A Cross-Cultural Study. In: International Journal of Behavioral Development, 33. Jg., H. 5, S. 412 420 Keller, Heidi/Lamm, Bettina/Abels, Monika/Yovsi, Relindis Dzeaye /Borke, Jörn/Jensen, Henning/Papaligoura, Zaira/Holub, Christina/Lo, Wingshan/Tomiyama, A. Janet/Su, Yanjie/Wang, Yifang/Chaudhary, Nandita (2006): Cultural Models, Socialization Goals and Parenting Ethnotheories: A Multicultural Analysis. In: Journal of Cross-Cultural Psychology, 37. Jg., H. 2, S. 155 172 Markus, Hazel R./Kitayama, Shinobu (1991): Culture and the self: Implications for cognition, emotion and motivation. In: Psychological Review, 98. Jg., H. 2, S. 224 253 Rogoff, Barbara (2003): The cultural nature of human development. New York Schäfer, Gerd E. (2005): Bildungsprozesse im Kindesalter. Selbstbildung, Erfahrung und Lernen in der frühen Kindheit. 3. Aufl. Weinheim Kurzbiografie Dr. Jörn Borke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe) sowie Mitarbeiter der Katholischen Erwachsenenbildung (KEB). Der Diplom-Psychologe leitet die Babysprechstunde Osnabrück und ist als Ausbildner im Rahmen der Zusatzausbildung Fachkraft Kleinstkindpädagogik (VHS) sowie als Lehrbeauftragter an der Fachhochschule Osnabrück im Studiengang Elementarpädagogik tätig. Weiterhin trägt er die wissenschaftliche Leitung des Projektes Väter an den Start, betreibt Forschungs-, Lehr- und Ausbildungstätigkeiten unter anderem in den Bereichen Kulturvergleichende Säuglings- und Kleinkindforschung, Väter, Eltern-Kind-Interaktion und Regulationsschwierigkeiten in der frühen Kindheit. 7