Rechtswissenschaftliches Institut Zivilverfahrensrecht (Master) Thema: Prozessuale Grundrechte

Ähnliche Dokumente
Übungen Öffentliches Recht III

Seite Geleitwort der Herausgeber... V Vorwort... VII Inhaltsverzeichnis... IX Literaturverzeichnis... XV Abkürzungsverzeichnis...

Analyse des Sachverhalts:

Rechtsmittel ZPO BGG ZVR I HS Isaak Meier, Schweizerisches Zivilprozessrecht, Zürich 2010, 9. Kapitel

Die neue Schweizerische Zivilprozessordnung

Entscheidgrundlagen des Bundesgerichts

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS

Zivilprozessordnung (ZPO) Scheidungsverfahren

Die Öffentlichkeit von Strafbefehlen und Einstellungsverfügungen

O V G R H E I N L A N D P F A L Z G E R I C H T S D A T E N B A N K

Referat für Stadtplanung und Bauordnung Stadtplanung

Übungen Öffentliches Recht II

Entscheidung. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fünfte Sektion

SÄCHSISCHES OBERVERWALTUNGSGERICHT. Beschluss

Urteil vom 3. Dezember 2015 Strafrechtliche Abteilung

Urteil vom 21. Juli 2009 I. öffentlich-rechtliche Abteilung

Übersicht: Ausführung der Gesetze (=Verwaltung)

Erste Fragestellungen (Einstiegsfragen):

Beschluss vom 3. Mai 2016 Beschwerdekammer

Einstweiliger Rechtsschutz vorsorgliche Massnahmen und Arrest Zivilverfahrensrecht Prof. Isaak Meier

Die Rechtsmittel (Art ) Kurt Blickenstorfer, Rechtsanwalt Ivo Hungerbühler, Rechtsanwalt

Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivilrecht

Was wird angegriffen?

Die verwaltungsrechtliche Klage

Literaturverzeichnis...XVIII. Abkürzungsverzeichnis... XXIX. 1. Teil: Grundrechtsschutz im Zwangsvollstreckungsrecht

DER VERFASSUNGSGERICHTSHOF DES FREISTAATES SACHSEN

Das Wichtigste aus Recht, Steuern und Wirtschaft

Art. 208 ZPO. Erledigung des Schlichtungsverfahrens, Rechtsmittel.

Die Verfahrensgrundsätze der Schweizerischen Zivilprozessordnung. Vortrag vom 7. Dezember 2011 für die aargauischen Rechtspraktikanten.

B+A Info Mai 2014 Inhaltsverzeichnis

Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Strafrecht vom 29. Januar 2013 ( )

Entscheid vom 14. Juli 2010 II. Beschwerdekammer

Der ETH-Rat beschränkt für einen bestimmten Studiengang die Anzahl Studienplätze (numerus clausus).

Merkblatt Bauhandwerkerpfandrecht

VGH Aktenzeichen: 21 ZB Sachgebietsschlüssel: 460. Gericht: Rechtsquellen: 1 HeilprG. Hauptpunkte: Heilpraktikererlaubnis approbierte Ärztin

Das polnische Zivilverfahrenrecht

Grundsätzliches zu Rechtsbehelfen

Kreisschreiben Opferhilfe. Leistungen nach der Opferhilfegesetzgebung für Kosten von Prozessbeistandschaften

Bedeutung der Handelsgerichte für den Wirtschaftsstandort Schweiz

ZVR I 2011 Verfahrensablauf. Prof. Dr. Isaak Meier

Bundesarbeitsgericht Beschluss vom 18. August 2015 Siebter Senat - 7 ABN 32/15 - ECLI:DE:BAG:2015: B.7ABN

Im Namen des Volkes URTEIL. In dem Rechtsstreit ...

Besetzung Präsident: Hubert Bugnon Roland Henninger, Dina Beti Gerichtsschreiberin: Gina Gutzwiller

KIRCHLICHES ARBEITSGERICHT. gegen

4 Ta 53/09 Chemnitz, (4) Ca 1424/07 ArbG Zwickau BESCHLUSS. In dem Rechtsstreit

Obergericht des Kantons Zürich

BUNDESGERICHTSHOF BESCHLUSS VIII ZR 317/13. vom. 18. März in dem Rechtsstreit

Das Gesuch um neue Beurteilung und die Berufung. bei Abwesenheitsurteilen

Prozessrecht II. Prof. Dr. Felix Uhlmann. Universität Zürich HS Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Rechtsetzungslehre

Fachgebiet Öffentliches Recht Prof. Dr. Viola Schmid, LL.M. (Harvard)

Entscheidung. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fünfte Sektion

Zwischenprüfung Rechtsanwaltsfachangestellte Recht. Zeit: 60 Minuten

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: 1.000,- für immateriellen Schaden, 3.500, für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Besonderheiten der Beweiserhebung im EPG-Verfahren

VerwPR (Einführung) VerwPR (Einführung)

Schweizer Bürgerrecht

A. Y. und X. heirateten am 17. Juni 2000 in Deutschland. Sie leben getrennt, wobei die Trennung frühestens am 21. Mai 2010 erfolgt ist.

Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivilrecht

Masterprüfung vom 15. Dezember 2009 im Fach öffentliches Prozessrecht. Musterlösung

Einleitung. 1 EGMR NJW 2001, 2694 ff (Kudla./.Polen).

Rechtsmittel im Zivilprozess

Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht

Anfechtungsobjekt und Zugang zum Rechtsschutz bei realem Verwaltungshandeln

K. Die Grundrechte des Art. 5 Abs. 1 GG

U r t e i l v o m 2 9. A p r i l I. z i v i l r e c h t l i c h e A b t e i l u n g

Modul 55104: Staats- und Verfassungsrecht

Im Namen des Volkes URTEIL. In dem Rechtsstreit ...

Entscheidung. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Fünfte Sektion ENTSCHEIDUNG ÜBER DIE ZULÄSSIGKEIT DER

Ist die Einschränkung des Grundrechts auf Meinungsäusserung bei Mitarbeitenden zulässig (E.2a.)?

Besetzung Oberrichter Messer (Referent), Oberrichterin Apolloni Meier und Oberrichter Kiener Gerichtsschreiberin Holzapfel Pürro

Merkblatt zum rechtlichen Gehör (für verfügende Behörde)

Nomos. im Lichte der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Gabriele Steinfatt. Die Unparteilichkeit des Richters in Europa

Das Landesarbeitsgericht Nürnberg - Kammer 2 - erlässt in dem Verfahren

Öffentliches Verfahrensrecht (Master)

Brandenburgisches Oberlandesgericht

Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Zivilrecht

Gesuch um Erlass superprovisorischer und provisorischer Massnahmen vom 31. Mai 2013

Verfügung vom 24. Juli 2013

Rechtswissenschaftliches Institut Zivilverfahrensrecht (Master) Thema: Kollektiver Rechtsschutz

Entscheid der 1. Zivilkammer des Obergerichts des Kantons Bern

B e g r ü n d u n g :

Liechtensteinisches Landesgesetzblatt Jahrgang 2016 Nr... ausgegeben am

Obergericht des Kantons Zürich

Erste Erfahrungen mit dem neuen Berufungsrecht in Patentnichtigkeitssachen

Beschwerde gegen den Entscheid des Regionalgerichts Bern-Mittelland vom 24. März 2011

Der Zugeng zum Bundesfinanzhof

Schweizerisches Bundesverwaltungsrecht

Im Namen des Volkes URTEIL. In dem Rechtsstreit ...

Lösungshinweise Abschnitt A I (Kaufvertrag) 2. Verfahrensrecht

Entscheid vom 20. Dezember 2012 Beschwerdekammer


Der Antrag, der Antragsgegnerin die Deckung des Rechtsschutzfalles '''''''''' zu empfehlen, wird abgewiesen.

Entschädigung bei überlangen Gerichtsverfahren

Richter Daniel Willisegger (Vorsitz), Richterin Esther Karpathakis, Richter Walter Stöckli, Gerichtsschreiber Michal Koebel.

Spezialisierungskurs Fachanwalt für Bau- und Immobilienrecht 2013

3. A. amtlich vertreten durch Fürsprecher W. Angeschuldigte/Appellanten

Beschluss. Schieds- und Schlichtungsstelle I-41/12. In dem Schiedsverfahren. der Mitarbeitervertretung A. - Antragstellerin - gegen

Weiterbildungsveranstaltung AAV 15. November Erste Erfahrungen eidg. StPO Praxis Beschwerdekammer Rechtsmittel in Haftsachen

4C.219/2006 /len. Urteil vom 24. Januar I. zivilrechtliche Abteilung

Transkript:

Zivilverfahrensrecht (Master) Thema: Prozessuale Grundrechte FS 2015 Prof. Dr. Tanja Domej

Überblick Art. 6 Ziff. 1 EMRK: Recht auf Verhandlung über zivilrechtliche Ansprüche und Verpflichtungen vor einem o unabhängigen und o unparteiischen, o auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist

Überblick Art. 9 BV: Willkürverbot, Anspruch auf Behandlung nach Treu und Glauben Art. 29 Abs. 1 BV: Anspruch auf gleiche und gerechte Behandlung sowie auf Beurteilung innert angemessener Frist

Überblick Art. 29 Abs. 2 BV: Anspruch auf rechtliches Gehör Art. 29 Abs. 3 BV: Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und unentgeltlichen Rechtsbeistand Art. 29a BV: Rechtsweggarantie Art. 30 Abs. 1 BV: Anspruch auf ein durch Gesetz geschaffenes, zuständiges, unabhängiges und unparteiisches Gericht

Überblick Art. 30 Abs. 2 BV: Wohnsitzgerichtsstand Art. 30 Abs. 3 BV: Öffentlichkeit Art. 191 BV: Zugang zum Bundesgericht

Bedeutung Träger: natürliche und juristische Personen (str. bei unentgeltlicher Rechtspflege) Umsetzung in einfachgesetzlichen Normen Bedeutung bei der Auslegung

Bedeutung Bedeutung bei der Beschwerde an das Bundesgericht Rügeprinzip Prüfung von Grundrechtsverletzungen vor Bundesgericht nur, wenn entsprechende Rüge in Beschwerde vorgebracht und begründet (Art. 106 Abs. 2 BGG) bei vorsorglichen Massnahmen nur Rüge der Verletzung verfassungsmässiger Rechte (Art. 98 BGG) bei subsidiärer Verfassungsbeschwerde nur Rüge der Verletzung verfassungsmässiger Rechte (Art. 116 BGG) Revision wegen Verletzung der EMRK (Art. 122 BGG)

Im Besonderen: Justizgewährungsanspruch Staatsvertragliche und verfassungsrechtliche Grundlagen: Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29a BV Garantie des effektiven Zugangs zum Gericht kein förmlicher Ausschluss keine unzumutbare Erschwerung oder Behinderung keine unzumutbar hohen Gerichtskosten und -vorschüsse vgl. auch Art. 29 Abs. 3 BV Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege

Im Besonderen: rechtliches Gehör Staatsvertragliche und verfassungsrechtliche Grundlagen: Art. 6 Ziff. 1 EMRK, Art. 29 BV, Art. 9 BV Ergänzung und Gewährleistung des Justizgewährungsanspruchs Zusammenhang mit Menschenwürde (Art. 7 BV) und Rechtsgleichheit (Art. 8 BV)

Im Besonderen: rechtliches Gehör Bedeutung für die Ermittlung der materiellen Wahrheit unabhängig von Geltung des Verhandlungs- oder Untersuchungsgrundsatzes grundsätzlich auch im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes (EGMR 15.10.2009, Micallef/Malta, Az. 17056/06)

Rechtliches Gehör Tragweite formelle Natur (Verletzung führt unabhängig davon zur Aufhebung des Entscheids, ob sich die Gehörsverletzung auf den Inhalt des Entscheids ausgewirkt hat) Zusammenhang mit subjektiver Reichweite der Entscheidwirkungen Erstreckung von Entscheidwirkungen auf Dritte nur bei Gelegenheit, sich am Verfahren zu beteiligen oder bei gerechtfertigter prozessualer Repräsentation

Rechtliches Gehör Tragweite zumindest vorgängige oder nachträgliche Gewährung ggf. Heilung einer Verletzung möglich, wenn nachträglich (in gleichwertiger Weise!) Gehör gewährt wird Verzicht ausdrücklicher Verzicht auf einzelne Stellungnahmemöglichkeiten (kein Vorabverzicht) konkludent durch Unterlassung von Prozesshandlungen

Rechtliches Gehör Tragweite Gewährung zur bestimmten Zeit, am bestimmten Ort (Säumnisfolgen und Präklusion verspäteten Vorbringens mit Recht auf Gehör vereinbar) Recht, keine Pflicht der Partei (kein Zwang zur Mitwirkung, nur prozessuale Nachteile bei Passivität)

Rechtliches Gehör Inhalt Prozessuale Waffengleichheit Zustellung von Vorladungen und Rechtsschriften Anhörung in der Verhandlung bzw. Berücksichtigung von Rechtsschriften Vorbringen von Tatsachen

Rechtliches Gehör Inhalt Zustellung jedes Vorbringens der Gegenpartei und anderer Verfahrensbeteiligter ( Orientierungsrecht ) und Möglichkeit der Stellungnahme dazu ( Replikrecht ) BGE 132 I 42; 133 I 98; 133 I 100; 137 I 195; 138 I 484; 139 I 189 = Pra 102 (2013) Nr. 112 EGMR 18.2.1997, Az. 18990/91, Nideröst-Huber/Schweiz; 28.10.2010, Az. 41718/05, Schaller-Bossert/Schweiz; 15.11.2012, Az. 43245/07, Joos/Schweiz; 22.10.2013, Az. 50478/06, Wyssenbach/Schweiz; 22.7.2014, Az. 49396/07, Schmid/Schweiz

Rechtliches Gehör Inhalt Recht auf Beweis Anspruch auf Abnahme formrichtig und rechtzeitig angebotener, erheblicher Beweise Problem «antizipierte Beweiswürdigung» Recht auf Mitwirkung an der Beweiserhebung Recht auf Stellungnahme zum Beweisergebnis Recht auf Akteneinsicht und Anfertigen von Kopien

Rechtliches Gehör Inhalt Recht auf Stellungnahme zur Sache in rechtlicher Hinsicht Verbot der Überraschungsentscheidung Gericht, das dem Entscheid eine Rechtsansicht zugrundelegen will, mit der die Parteien nach dem Verlauf des Verfahrens nicht zu rechnen hatten, muss Parteien vorgängig dazu hören Recht, sich im Verfahren beraten und vertreten (oder begleiten) zu lassen Recht auf Prüfung und Entscheidbegründung

1. Fall A erlitt in den Räumlichkeiten der B AG in Zürich einen Unfall, bei dem sie sich die rechte Hand schwer verletzte. Sie klagt nun vor Handelsgericht Zürich gegen B AG auf Zahlung einer Genugtuung von CHF 50 000.. Zwei der drei Handelsrichter, mit denen die Kammer für den Rechtsstreit besetzt wird, sind leitende Angestellte von Versicherungsgesellschaften (H1 und H2); der dritte Handelsrichter (H3) ist ein «Geschädigtenanwalt». A stellt ein Ausstandsbegehren gegen H1 und H2 mit der Begründung, es sei nicht davon auszugehen, dass diese Richter als Vertreter der «Versicherungslobby» unbefangen über ihren Anspruch entscheiden würden. B AG stellt ein Ausstandsbegehren gegen H3, da dieser im vergangenen Jahr in einem Haftpflichtprozess gegen sie die dortige klagende Partei vertreten habe. Wie ist über die Ausstandsbegehren zu entscheiden?

2. Fall X reichte gegen Y beim Bezirksgericht Zürich eine Klage auf Auskunftserteilung nach dem Datenschutzgesetz (DSG) ein. Die Klage wurde in erster Instanz gutgeheissen; daraufhin reichte Y Berufung ein. Die Berufungsantwort von X wurde Y zur Kenntnisnahme zugestellt. Y ersuchte das Obergericht am 14.2.2014 um Ansetzung einer 20-tägigen Frist zur Stellungnahme zur Berufungsantwort. Das Obergericht reagierte darauf nicht, sondern erliess am 28.2.2014 einen Entscheid, in dem es die Berufung als unbegründet abwies. Durfte das Obergericht so vorgehen?