Freiheit und Egoismus - Partner oder Gegenspieler?

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Transkript:

Freiheit und Egoismus - Partner oder Gegenspieler? Der Drang nach Freiheit ist wohl allgemein eine ebenso starke Kraft wie der nach Gemeinschaft. Leider wird die Frage, was denn Freiheit eigentlich ist, meist nur oberflächlich beantwortet, in der Art wie: Freiheit ist, tun zu können was ich möchte! Aber ist es das wirklich? Schopenhauer sagte: "Der Mensch kann wohl tun was er will, aber er kann nicht wollen was er will." - wenn das so ist, wie viel wäre dann die Freiheit, tun zu können was man möchte, überhaupt wert? Ich persönlich habe erst noch vor wenigen Monaten erlebt, wie ich mir selbst unbemerkt, weil schleichend (!) viel Freiheit genommen hatte. Ich hatte mich selbst dadurch eingeschränkt, dass ich meiner Angst geglaubt hatte, anstatt sie zu hören, zu verstehen und sie liebevoll und mitfühlend anzunehmen - was mich befreit hätte (siehe mein Blog vom 11.5.). Dieses meiner Angst glauben, hat dazu geführt, dass ich mir Handlungsmöglichkeiten genommen und mich dadurch selbst unfrei gemacht hatte. In Bezug auf "Freiheit" können wir uns wohl nur an unserer subjektiven Erfahrung orientieren. D.h. die Frage: Wie frei bin ich objektiv? hilft überhaupt nicht weiter. Vielmehr ist wichtig: Wie frei fühle ich mich? Gestern hab ich bei Ken Wilber (Eros, Logos, Kosmos - Kap. 7) etwas gelesen, was diesen Zusammenhang betrifft (S.317): " für die Entwicklungspsychologie ist fortschreitende Entwicklung = zunehmende Verinnerlichung = zunehmende relative Autonomie" und Wilber fügt noch hinzu: " = abnehmender Narzissmus" (= abnehmender Egozentrismus / zunehmende Dezentrierung). Anders ausgedrückt: Die Entwicklungspsychologie sieht fortschreitende Entwicklung darin, dass der Menschen zunehmend mehr in der Lage ist, sich Bedürfnisse, bei denen er vorher von anderen Menschen abhängig war, selbst zu erfüllen, d.h. er "verinnerlicht" diese Bedürfnisse / sie werden zunehmend "intrinsisch" - und dies führt zu mehr relativer Autonomie, d.h. zu mehr gefühlter, bzw. erfahrener Freiheit und gleichzeitig zu abnehmendem Narzissmus / Egoismus. Dass die Fähigkeit, zunehmend für sich selbst zu sorgen / sich zunehmend seine Bedürfnisse selbst zu erfüllen, zu mehr subjektiver Freiheit führt, ist einleuchtend. Und gleichzeitig ist das wohl die größte Falle unserer Gesellschaft, denn oft wird (meist unbewusst) aus einer Angst vor Unfreiheit / vor Einschränkung der Wahlmöglichkeiten, der Weg gewählt "möglichst unabhängig" zu sein - und das ist im Grunde ein "Zwang zur Unabhängigkeit", und wie jeder Zwang, schränkt auch dieser unsere Freiheit in Wahrheit ein. Man kann diesen "Zwang zur Unabhängigkeit" auch "Zwang zur Freiheit" nennen und er bedeutet eben genauso Abhängigkeit, wie das direkte Abhängigsein von anderen. Mit der Freiheit ist es wohl genau wie mit dem Glück: Wir können sie nicht direkt erreichen, denn dann verlieren wir sie. Und dieser Zwang führt im Grunde zu Egoismus - und diesen erleben wir oft bei Menschen, die sie Freiheit auf ihr Banner geschrieben haben. Deshalb ist der letzte Teil der oben stehenden Gleichung nicht so einleuchtend: Warum soll zunehmende relative

Autonomie zu abnehmendem Egoismus führen? Es scheint unserer Erfahrung entgegen zu stehen. Wilber schreibt (S.317): "... mit fortschreitender Entwicklung [ist man] immer besser in der Lage..., den eigenen isolierten und subjektiven Standpunkt zu transzendieren und dadurch zu höheren und weiteren Perspektiven und Identitäten zu gelangen." Was bedeutet das in der Praxis? Um Klarheit darüber zu bekommen, ist es hilfreich, zu schauen was zunehmende relative Autonomie bewirkt: Je mehr ich weiß / das Vertrauen habe, dass ich in bestimmten Bereichen für mich sorgen kann, desto unabhängiger bin ich in diesen Bereichen von bestimmten Menschen / bestimmten Situationen - allgemein: desto unabhängiger von außen bin ich in diesen Bereichen. Dieses Vertrauen, dass ich für mich sorgen kann, entlastet mich, selbst wenn ich gerade in einer Situation bin, in der viele meiner Bedürfnisse leiden - ich bin unabhängiger von dieser Situation und kann dadurch auch leichter andere und deren Bedürfnisse sehen / mich leichter in andere hinein versetzen. Ein Beispiel aus meinem Leben: Ich war kürzlich in einer Beziehung in der ich große Hoffnung hatte, endlich das gefunden zu haben, wonach ich mich schon lange gesehnt hatte. Rückblickend sehe ich deutlich, dass ich (aus verschiedenen Gründen) zu der Zeit nicht das Vertrauen hatte, dass ich auch mit einer andere Frau eine Beziehung führen kann, wie ich sie mir wünsche. Fehlendes Vertrauen wird als Angst erlebt - und ich hatte Angst, die Beziehung zu verlieren - und diese Angst hat viel Anspannung und Schwere in die Beziehung gebracht... Und wie das meist so mit der Angst ist: das wovor ich Angst hatte ist schließlich eingetreten, die Partnerschaft endete. So betrachtet ist Eifersucht übrigens mangelndes Vertrauen, dass man das bekommen kann, was man braucht - im Grunde mangelndes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, für sich sorgen zu können... Leider hatte ich in dieser Zeit der Angst und Anspannung besondere Schwierigkeiten, für meine eigene Unterstützung zu sorgen und deshalb war ich sehr in diesem Leiden gefangen - und hab auch Dinge getan, die für meine Freundin schmerzhaft waren. Ich konnte aufgrund meines eigenen Leidens nicht wirklich ihre Situation sehen, ihre Not und ihre Ängste sehen, konnte nicht wirklich ihre Bedürfnisse sehen und achten. In meinem Leiden war ich egoistischer als ich normalerweise bin (wie ich inzwischen weiß, eine natürliche Reaktion) - und zwar vor allem deshalb, weil ich nicht das Vertrauen hatte, dass ich unabhängig von meiner Freundin glücklich werden kann - und das bedeutete eben Angst. Anders ausgedrückt: ich war ziemlich abhängig von meiner Freundin und gleichzeitig egoistisch, weil ich aufgrund von meiner Angst ihre Bedürfnisse bestenfalls mit meinem Denken verstehen, aber nicht wirklich wertschätzen und achten konnte... Besonders klar wurde mir das, als ich dann endlich zunehmend zu dem Vertrauen gefunden hatte, dass ich auch unabhängig von meiner Freundin gut für mich sorgen kann (mein Artikel vom 11.5. handelt davon). Dieses zunehmende Vertrauen erst hat es mir ermöglicht, auch ihre Seite wirklich zu sehen und zu verstehen und ihre Bedürfnisse zu achten - kurz weniger egoistisch zu sein...

So gesehen wird deutlich, dass das Vertrauens in die eigene Fähigkeit, für sich zu sorgen, von zentraler Bedeutung ist, von Egoismus weg zu kommen, hin zu mehr "weltzentrischem" Denken und handeln, d.h. dazu, dass sich der Kreis derer, die ich "im Blick" habe / auf die ich Rücksicht nehmen kann, vergrößert. Dieses Vertrauen in die eigenen Fähigkeit, für sich zu sorgen, erfordert übrigens die Fähigkeit von anderen Unterstützung anzunehmen, denn nicht nur in unserer modernen, hoch komplexen Welt können wir ohne die Unterstützung durch andere nicht gut für uns sorgen. Alle erfolgreichen Menschen konnten nur durch Menschen, die sie unterstützt haben, erfolgreich werden. Es geht also nicht darum "Unabhängigkeit von anderen" zu kultivieren, denn das ist eben die Abhängigkeit von der Unabhängigkeit - und sie verhindert ein wachsen zu weniger egozentrischem hin zu mehr weltzentrischem Denken und Handeln. Es geht vielmehr darum, wirklich für sich sorgen zu lernen - und das schließt die Bereitschaft ein, sich in gegenseitige Abhängigkeiten zu begeben - oder genauer: sich der immer schon vorhandenen gegenseitigen Abhängigkeit bewusst zu sein / sie nicht zu verleugnen. Wie können wir diese Zusammenhänge für Entwicklung nutzen? Wie wir gesehen haben ist das Vertrauen, dass ich für mich sorgen kann, ein zentraler Punkt dafür, wie frei ich mich fühle. Und Angst zeigt eben das Fehlen dieses Vertrauens an. Deshalb lässt sich die Angst gut nutzen, hier heilend und bewusstseinsfördernd einzugreifen. Lebensratgeber mit Tipps wie: "Spüre die Angst und tu es trotzdem!" (z.b. Susan Jeffers) können hilfreich sein, denn wenn man es "trotzdem tut" und Erfolg hat, kann man die Angst "verlieren" - man lernt zu vertrauen. Das kann allerdings leicht dazu führen, dass wir Teile von uns / eigene innere Stimmen unterdrücken und abspalten - so weit sogar, dass wir die Verbindung zu ihnen tatsächlich "verlieren". Im Grunde entwickeln wir dadurch eine Angst vor der Angst (siehe "Phobos" in meinem Artikel vom 18.5.) - eine Angst vor dem Unangenehmen - und die verhindert ein "sich bewusst werden" und blockiert damit persönliches Wachstum - und damit ein freier Werden. Irgendwann wehren sich dann auch diese inneren Anteile. "Burn-out" lässt sich z.b. auf die lang anhaltende Unterdrückung eigener Anteile / Sehnsüchte / Bedürfnisse zurückführen. Ein anderer üblicher Umgang mit der Angst ist übrigens genauso schädlich: Wenn wir der Angst "glauben" und das wovor wir Angst haben, nicht tun, wird unsere Angst bestätigt / wir lernen, dass die Angst "berechtigt" ist - das hat die Forschung in der Verhaltenspsychologie deutlich gemacht. Der Ansatz, den Menschen wie Marshall Rosenberg, Robert Gonzales, Miki Kasthan, Susan Skye und viele andere mit Hilfe der GFK verfolgen, geht darüber hinaus. Man kann ihn am leichtesten nachvollziehen, indem man sich fragt, was einem Kind helfen würde, dass gerade Angst hat.

Wenn eine meiner Töchter oder mein Sohn zu mir gekommen wäre, als sie/er noch klein war, und z.b. gesagt hätte: "Ich hab Angst, in meinem Zimmer ist ein Gespenst!", dann kann man sich vorstellen was passiert, wenn ich gesagt hätte: "Ja, Du hast recht - dann bleib einfach hier bei mir, da bist Du sicher.", oder "Ich komm mit und verscheuche es, OK?" - wenn ich also sozusagen, der Angst geglaubt hätte. Oder aber wenn ich gesagt hätte: "Du brauchst doch keine Angst zu haben!", oder gar "Stell Dich nicht so an, Du bist doch schon groß!" - hier hätte ich versucht, die Angst zu verdrängen. Beide Reaktionen würden kaum dazu beitragen, dass mein Kind Vertrauen aufbauen und seine Angst verlieren hätte können. Leider habe ich damals tatsächlich mal auf die eine, mal auf die andere Weise reagiert - ich hatte es ja selbst von meinen Eltern und den anderen Bezugspersonen nicht anders erfahren. Wie wäre es aber, wenn ich mein Kind hören könnte und wenn es den Eindruck hätte, verstanden zu werden und das Vertrauen, dass seine Bedürfnisse ernst genommen werden? Wenn ich z.b. gesagt hätte: "Du hast grad ganz schön Angst, stimmts? Möchtest wirklich sicher sein, dass Dir nicht passiert, ja?". Und wenn ich mein Kind dann einfach in den Arm genommen hätte, so lange es das gewollt hätte. Man kann sich gut vorstellen, dass es sich entspannen und Vertrauen hätte aufbauen können. Leider habe ich so eine Behandlung selbst nie erfahren und konnte sie deshalb auch nicht an meine Kinder weitergeben - zumindest nicht bevor ich die GFK kennen gelernt habe (und auch danach war es anfangs noch sehr schwer)... Wie möchten wir also unseren eigenen Ängsten umgehen? Leider gehen wir mit denen in der Regel genau so um, wie in unserer Kindheit andere mit ihnen umgegangen sind, d.h. wir glauben ihnen und lassen unser Tun von ihnen bestimmen, oder wir verdrängen sie... Beides hat einen hohen Preis: Entweder wir verlieren unsere Freiheit, weil wir Situationen in unserem Leben ausweichen müssen. Oder wir verlieren die Verbindung zu Teilen von uns und verhindern dadurch, uns selbst besser verstehen zu lernen. Beides blockiert auf seine Weise die persönliche Weiterentwicklung. Aber wir können neue Wege gehen... Der Angst folgen ohne ihr zu glauben - sie hören, verstehen und mitfühlend halten... Aus dem Beispiel mit meinen Kindern können wir sehen, welcher Umgang mit unserer Angst hilfreicher sein könnte: sie zu hören ohne ihr zu glauben, und sie zu verstehen und mitfühlend zu halten. Konkreter sieht das folgendermaßen aus (vgl. meinem Blog vom 25.5., "Sieben Elemente der Heilung - Fähigkeiten für den Alltag"): - Die Angst hören ohne ihr zu glauben: Die ängstlichen inneren Stimmen / Gedanken hören / sie laut ausdrücken (bitte nicht Betroffenen gegenüber!) und die Energie / das Unangenehme im Körper spüren. - Die Angst verstehen: Die gute Absicht der Angst verstehen / was für Bedürfnisse wollen erfüllt werden? - Die Angst liebevoll und mitfühlend halten: Alle Tendenzen, die Angst / das Unangenehme "weg haben" zu wollen, fallen lassen. Das Unangenehme in uns liebevoll annehmen / ihm Raum geben. Im Grunde sind diese drei Elemente allgemein die drei Elemente von Empathie und wir können durch sie zunehmen die Verbindung mit der Sehnsucht "hinter" / "unter" der Angst herstellen. Dadurch wird die Angst weicher werden und sich schließlich auflösen können. Dieses Vorgehen ist zumindest am Anfang wohl niemandem möglich ohne

mitfühlende Begleitung durch andere - sonst hätten wir diese Ängste gar nicht erst entwickelt. Und hier besteht für viele ein großes Hindernis aus dem eigenen Leid herauszukommen: Wenn ich in meiner Angst feststecke, hab ich den Eindruck, ich müsse mich vor allem schützen - wenn ich leide, fällt es mir besonders schwer, andere um Unterstützung zu bitten. Aber auch wenn ich es schaffe, jemanden anzurufen und der jemand Zeit hat, ist es immer wieder erst mal eine Hürde, mich zu öffnen. Die Hürde, für meine Unterstützung zu sorgen, wenn ich im Leiden feststecke ist zwar erheblich geringer geworden, weil ich ja immer wieder die Erfahrung mache, dass es mir gut tut - sie ist allerdings noch spürbar. Das einzige was sicher gegen diese "Ausweichtendenz" hilft, ist es sich in "guten Zeiten" zu überlegen, was wir in "schlechten Zeiten" tun wollen / wie wir in "schlechten Zeiten" am besten für uns sorgen können. Meine eigene wichtigste Strategie ist es im Moment, dass ich regelmäßig Empathiegespräche mit Freunden plane (mindestens 2 mal wöchentlich für 1-1,5 Stunden) - und dass diese nach einem Muster ablaufen, das verhindert, dass meine Gesprächspartner und ich uns etwas vormachen können. Diese Strategie in Verbindung mit der Transformationsarbeit von Robert Gonzales hat es mir vor allem ermöglicht, innerhalb von wenigen Jahren viele alten Verletzungen zu heilen und damit verbundenen Ängste aufzulösen, die mich mein ganzes Leben begleitet hatten - und dadurch zunehmend in der Haltung der GFK / in einer offenen, mitfühlenden Haltung mir selbst und anderen gegenüber zu leben. In meinem Blog vom 11.5. hab ich meine jüngste Erfahrung in diesem Zusammenhang beschrieben. Eine konkrete Idee für eine Unterstützung der persönlichen Entwicklung: Wie eingangs erwähnt führt zunehmendes Vertrauen in unsere Fähigkeit, für uns sorgen zu können (= zunehmende relative Autonomie / Freiheit) zu fortschreitender Entwicklung. Ein Mangel an Vertrauen zeigt sich nun in Angst in all ihren Abstufungen, von leichten Anspannungen bis hin zu Panik. Daher können wir also sagen, dass unsere Ängsten Entwicklungspotential anzeigen und deren Umwandlung entwicklungsfördernd ist. Es fördert also unsere Entwicklung, wenn wir unseren Ängsten nicht glauben, sondern sie hören, sie verstehen und sie liebevoll und mitfühlend halten. Eine regelmäßige Übung, mit den eigenen Ängsten umzugehen, wird also unsere persönliche Entwicklung fördern. Wenn im Alltag Ängste nicht klar auftauchen, können wir sogar mit Gedankenexperimenten spielen. Hier müssen wir allerdings vorsichtig und mitfühlend mit uns umgehen und uns nicht überfordern! Wir können uns z.b. überlegen wie es wäre wenn wir die Verbindung zu einem Menschen, den wir mögen, verlieren... Die höchste Übung wäre wohl die Beschäftigung mit dem Tod (dem eigenen oder dem geliebter Menschen)... Wer Angst in keiner Form kennt, muss erste einmal Verbindung mit seiner Angst herstellen. Man kann mit gutem Grund sagen, dass jede Anspannung / jeder Widerstand eine Form der Angst ist. Und auch wenn man dem nicht zustimmen mag, so kann man die oben stehende Übung einfach mit dem Unangenehmen in uns machen.

Das wird dieselbe förderliche Wirkung auf die persönliche Entwicklung haben, denn das Unangenehme in uns ist im Grunde Widerstand gegen einen Schmerz, d.h. eine Angst vor einem Schmerz. Um die innere Klarheit und die Wirkung zu erhöhen, sind auch noch andere Elemente wichtig (siehe: "Sieben Elemente der Heilung"; Blog vom 25.5.) und ich werde diese in meinen nächsten Blog-Artikeln einzeln beschreiben und Übungen anbieten. Dadurch werde ich einen konkreten Weg zeigen, wie wir unsere "Muskeln stärken" können, mit dem Unangenehmen in uns Freundschaft zu schließen. Auf diesem Weg können wir zunehmend in Harmonie mit uns selbst und dadurch auch mit anderen leben und uns effektiv weiter entwickeln. Bis zum nächsten Mal - lebt bewusst und mitfühlend :-) Volkmar Richter