DolmetscherInnen als Wirkfaktor in der Flüchtlingstherapie Dr. Daniel Ritter Vortrag zur 5. Wiener Herbsttagung für Transkulturelle Psychiatrie 14. November 2015 1
SINTEM Flüchtlingstherapie in Familienzentrum Wien und Wiener Neustadt 8 köpfiges TherapeutInnenteam Tschetschenisch: seelisches Wohlbefinden Zwei TherapeutInnen waren selbst Dolmetscherinnen 2
Klientel Prinzipiell: alle mit Fluchthintergrund AMIF: Asylwerberstatus Meist: Posttraumatisches Belastungssyndrom 3
DolmetscherInnenpool Momentan 27 DolmetscherInnen Therapie und Begleitung Konstanz der DolmetscherIn sicherer Ort Migrationshintergrund 4
Rahmenbedingungen Einschulung Konditionen einer Psychotherapie (Abstinenzregel, Verschwiegenheitspflicht) Übersetzung: konsekutiv, Ich-Form Vor und Nachbesprechungen der Therapien Supervision Rolle der Kulturvermittlerin 5
Verantwortung für die Dolmetscherin TherapeutIn bleibt LeiterIn des therapeutischen Prozesses (Profession) Unterstützung der Rolle der Dolmetscherin Belastbarkeit der Dolmetscherin Grenzen der DolmetscherInnenrolle auch als Schutz 6
Neutralität vs. Neutralisierung Neutralität: Balance zwischen Überidentifizierung und Vermeidung (Seidl-Gevers) Kulturelle Usancen, persönliche Traumata Klare Stellungnahme gegen Unrecht Solidarisierung/Parteilichkeit Keine untätige Zuschauerrolle Ausdrücken des Mitgefühls (U. Wedam) 7
Neutralisierung als Fiktion Therapeutische Beziehung durch Dritten gefährdet? Kontrolle über Beziehungsgeschehen Festhalten an ungefilterter Dyade Dolmetscherin als unsichtbarer Kommunikationskanal ( Übersetzungsprogramm ) Meidung von Blickkontakt, Dolmetscherin in Nacken sitzend 8
Dolmetscherin als personifiziertes Zwischen Dialogische Grundhaltung das Zwischen von Ich und Du (Martin Buber: Der Mensch wird am Du zum Ich. ) Dolmetscherin ist leibliche Verkörperung des Dialogischen - Sitzanordnung Sprach- und Kulturvermittlerin im Dazwischen (Kluge/Kassim) J. Lacan: Es gibt immer das große Andere (das Symbolische, die Sprache) als Drittes 9
Über gang im intermediären Raum Therapeutisches Setting als transformierender Übergangsraum (D. Winnicott) Dolmetscherin als Verkörperung (zugleich Symbolisierung) des transkulturellen Übergangs Kulturelles Annähern als Prozess des Aushandelns dialogisches Prinzip Doppelrolle als Therapeutin und als Klientin als augenscheinlich (phänomenologischer) erlebbarer Integrationsfaktor 10
Dolmetscherin als Rollenmodell role model aus dem gleichen Kulturkreis Umgang Therapeut/Dolmetscherin rollenmodellhaft Ich-Du-Du - Ebene (M. Buber) Erweiterter personaler Resonanzraum Forum an Zeugenschaft Leibhaftige Verkörperung des Transformationsprozesses 11
Triade statt Dyade Nicht nur funktional, sondern personal präsent Durchaus aber Teil des therapeutischen Teams ist therapeutisch wirksamer Faktor im Setting Rollengebundenheit als Ordnung des Prozesses im Setting (Stabilität) Eigene Psychohygiene (Unterbrechen, Wechsel in dritte Person ) aber keine inhaltliche Lenkung Redekur als Übersetzungskur 12
Triangulierung Herauslösung aus symbiotischer Beziehungsdyade Koalitionen und Subsysteme (gleiche Muttersprache, Behandlerteam) gegen den Dritten Gefahr: Unbewusste Ablehnung oder Identifizierung Achtsamkeit und Reflexion statt Kontrolle Dramendreieck: Opfer-Täter-Retter 13
Reflexion und Rollenbewusstsein Rollen gegenüber KlientIn klar definiert Vermeidung von Kränkungen Therapeutische Intentionen gegenüber Dolmetscherin offen legen, da dies Übersetzung beeinflusst Kein Schönlektorieren von Kommunikationshemmnissen Vor- und Nachgespräche als notwendiger Teil des therapeutischen Prozesses 14
Verbalisieren als Wirkfaktor Dolmetscherin schenkt/verschafft Gehör und gibt Stimme Spricht Unaussprechliches aus und lässt damit Klientin nicht allein Wiederholung als Relativierung und Einordnung (Wiederholungseffekt) Hilfs-Ich-Charakter Dolmetscherin übernimmt und trägt weiter 15
Übersetzen als Integrationsfaktor Dolmetscherin als Sprachtrainerin Ich-Du-Transfer als Transformation Lastentransport über personale und kulturelle Grenzen Modell des Sich- Verständlichmachenkönnens Dolmetscherin integriert beide Sprachen/Rollen/Kulturen in einer Person 16
Entschleunigung als Wirkfaktor Ritualisierte Verlangsamung des Informationsflusses Beruhigung in Stress-Situation Wiederholung als kognitive Bearbeitung Das Narrativ wird in Ordnungsmuster und Rhythmus der Übersetzung eingepasst 17
Distanzierung als Wirkfaktor Umwandlung des Materials (nicht nur sprachlich) für einen Anderen in etwas anderes Das Narrativ wird weiter (= weiter weg) gereicht U. Sachsse: Dokumentarfilmtechnik Dolmetscherin verstärkt Interview-Effekt 18
Migration des Begriffes Türkisch: dilmac Ungarisch: tolmacs Migrationsroute bis nach Österreich 19
Quellen M. Dabic: Die Macht des Dolmetschers in der Psychotherapie K. Eppensteiner: Interkulturelle Psychotherapie mit traumatisierten Flüchtlingen U. Kluge/N. Kassim: Der Dritte im Raum C. Seidl - Gevers: Interkulturelle Psychotherapie und Psychodrama Uta Wedam: Sprachkultur- Plädoyer für das Dolmetschen im therapeutischen Kontext U. Weixler: Besonderheiten des Systems Psychotherapeutin- Dolmetscherin- Klientin 20
Danke für die Aufmerksamkeit! 21
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