1 Rede des Staatssekretärs für Kulturelle Angelegenheiten, André Schmitz, aus Anlass des Jahrestages der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz am 27. Januar 2010, im Jüdischen Gemeindehaus Fasanenstraße, 19.30 Uhr Sehr geehrte Frau Süsskind, sehr geehrte Rabbiner, meine Damen und Herren, ich fühle mich sehr geehrt, heute am 65. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz durch die sowjetische Armee zu Ihnen sprechen zu dürfen. Ich tue dies gern. Zum einen, weil ich zutiefst daran glaube, dass die Erinnerung an die Entrechtung, Vertreibung und die Ermordung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger für uns heute lebenden Deutschen eine bleibende Aufgabe ist. Wir können, wollen und dürfen uns aus unserer verhängnisvollen Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht entlassen. Wir haben eine besondere Verantwortung. Wir haben sie nicht abstrakt, sondern sie ist Teil unseres Alltags. Zur deutschen Identität heute gehört die Erinnerung an die Shoah. Ein Deutscher kann nicht Demokrat sein und gleichzeitig antisemitische Einstellungen haben. Im
2 Gegenteil. Nimmt er sich als Demokrat ernst, muss er sich aktiv dafür einsetzen, dass unsere jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern sich in unserem und ihrem Land akzeptiert und sicher fühlen. Das ist das Mindeste als Lehre aus dem größten Verbrechen in der deutschen und Menschheitsgeschichte. Ich würde noch weitergehen und sagen, dazu gehört auch das klare und eindeutige Bekenntnis zum Staat Israel. Zum anderen ist es mir heute eine besondere Ehre zu Ihnen sprechen zu dürfen, weil mein Politikverständnis oder besser: mein Lebensverständnis tief geprägt ist von einem Besuch als Jugendlicher aus Hamburg kommend - im Lager Auschwitz. Das war im Jahre 1976. Ich muss hinzufügen, dass die Hamburger Schulen auch damals schon sehr genau über die Verbrechen der Nazizeit unterrichteten. So waren wir gut vorbereitet, als wir das Lager betraten. Aber was ich damals sah und erlebte, hat mich so stark berührt, dass der Besuch sich mir tief ins Gedächtnis eingebrannt hat. Es waren nicht etwa wie man vermuten oder erwarten konnte die Verbrennungsöfen, die bei mir einen derartigen
3 Eindruck hinterließen. Sondern aus der Fassung geriet ich damals aufgrund eines Adressschildes. Sie wissen: In den Räumen der Baracken werden Gegenstände der Ermordeten gezeigt: Berge von Kämmen und Brillen und auch in einem eigenem Raum: ein Stapel Koffer. An einem Koffer war das Adressenschild sichtbar und deutlich konnte ich entziffern: Die Stadt hieß Hamburg, der Ortsteil Altona und auch der Straßenname war erkennbar es handelte sich um eine Nachbarstraße in unmittelbarer Nähe meines Elternhauses! Plötzlich war für mich der Schrecken des Ortes fühl- und spürbar. Und sehr persönlich. Mit einem Mal erschloss sich mir die Grausamkeit des Lagers und der beispiellosen Ermordungen. Durch dieses kleine Hinweisschild am Handgriff eines Koffers. Ähnlich wie im Grunewald das Denkmal Gleis 17 ohne erinnerungskulturellen Pathos auskommt um uns zu berühren, erging es mit als Jugendlicher in Auschwitz angesichts des Koffers aus Hamburg- Altona. Dies erscheint mir wichtig vor dem Hintergrund der Frage: Wie gestalten wir unsere Erinnerungskultur in der Zukunft? Denn trotz oder gerade wegen der vieler Jahrestage und Gedenkveranstaltungen, und ungeachtet unserer
4 aufrichtigen Beteuerungen gegen das Vergessen müssen wir aufpassen, nicht in Ritualen zu erstarren, die kommende Generationen nicht mehr erreichen. Lebendiges Erinnern und Gedenken gelingt nicht über den Verstand allein. Wir müssen die Herzen und Seelen der jungen Menschen erreichen. Nur Wissen zu vermitteln genügt nicht. Denn: Mit der Ratio allein, ist die Dimension dieses Verbrechens nicht zu fassen. Verstand und Bildung sind wichtig. Aber sie allein immunisieren nicht gegen Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit. Nazis und Neo-Nazis sind nicht per se dumm. Und wer den brauen Rattenfängern von heute auf den Leim geht, fehlt es nicht nur an Verstand, sondern auch an Herzensbildung. Das Allerwichtigste sei es, den Jungendlichen den Blick dafür zu schärfen, woran man Rassismus und Totalitarismus in den Anfängen erkennt, hat Roman Herzog zur Gründung des Gedenktages im Jahre 1996 angemerkt. Und er fährt fort: Die Erfahrung der NS-Zeit verlangt von uns, nicht erst aktiv zu werden, wenn die Schlinge schon um den eigenen Hals liegt, sondern zu verhindern, dass überhaupt die Chance einer Wiederkehr gelingen kann.
5 Ich möchte diesen Gedanken aufnehmen: Der Kampf für Demokratie und gegen Antisemitismus, gegen Rechtsradikalismus und Ausländerfeindlichkeit ist leider nie ein für allemal gewonnen. Er muss in jeder Generation neu geführt und gewonnen werden! Und: In diesem Kampf müssen wir die Hirne und die Herzen der jungen Menschen erreichen. Sonst verlieren wir ihn. Neben dem ehrenden Gedenken an die Opfer ist es unser Auftrag, die Erinnerung an die nächste Generation weiterzugeben. Es muss uns neben der Vermittlung historischen Wissens gelingen, sie mit diesem Wissen für Ausgrenzung, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit im hier und heute zu sensibilisieren. Nur wenn wir das schaffen, hat unsere ganze Erinnerungskultur einen tieferen Sinn, kann sie nachhaltig wirken. Dazu gehört auch das Wissen um den Weg nach Auschwitz. Auschwitz kam nicht über Nacht, sondern stand am Ende einer langen Kette staatlicher und gesellschaftlicher Ausgrenzung, wo fast jeder zum Täter und Mittäter wurde. Der Blick auf diese Ausgrenzungsgesellschaft birgt wichtige Lehren für uns heute.
6 Deshalb ist lebendige Erinnerungskultur so wichtig. Gerade für unsere Stadt Berlin gilt das. Daher stellen wir uns in der einstigen Hauptstadt der nationalsozialistischen Bewegung dieser Verantwortung mit Einrichtungen wie dem Jüdischen Museum, der Topographie des Terrors, dem Denkmal für die ermordeten Juden Europas, dem Haus der Wannseekonferenz oder dem Alliiertenmuseum in Karlshorst. Zusammen mit zahlreichen Denkzeichen und Mahnmalen wie der Deportationsrampe in Grunewald oder den einstigen sowjetischen Ehrenmahlen für die in der Schlacht um Berlin gefallenen Soldaten, bilden sie ein enges Netzwerk des Gedenkens, der Erinnerung und der Mahnung für kommende Generationen. Doch was wäre alles staatliche Erinnern ohne das bürgerliche Erinnern. Dazu gehört auch ein Projekt aus der Zivilgesellschaft, das uns allen, glaube ich, sehr am Herzen liegt: die Verlegung der Stolpersteine. Durch sie wird der Verlust, den gerade Berlin durch das Auslöschen jüdischen Lebens erlitten hat, Teil des Alltagsbewusstseins. Die Steine dienen so als Anstoß zur Auseinandersetzung mit der Geschichte und dem, was sie uns für die Gegenwart lehrt und lehren muss, damit das
7 berühmte Nie wieder nicht zur Plattitüde in Sonntagsreden von Politikern verkommt. Zu diesen großartigen Projekten gehört auch die von mir am Sonntag wiedereröffnete Ausstellung Wir waren Nachbarn im Schöneberger Rathaus, die jetzt dort auf Dauer zu sehen ist - und nicht nur drei Monate im Jahr. Wenn es in der Erinnerungskultur darum geht, das Erlebte an die jungen Generationen weiterzugeben, so darf ein Wort über die Menschen nicht fehlen, die als Überlebende wertvolle Zeugen sind und ihr Wissen etwa in Schulen weitergeben. Was im Leben am schwersten wiegt, schreibt Jorge Semprun, sind Menschen, die Du gekannt hast... Nicht die Erkenntnisse und nicht die Bücher. Einer dieser Persönlichkeiten war Ernst Cramer, der leider letzte Woche verstorben ist. Wer die Erzählungen von Ernst Cramer über seine Erlebnisse in Buchenwald nach dem 9. November 1938 an dieser Stelle gehört hat, der versteht was ich meine. Er war ein Grandseigneur, ein wahrhaft großer Berliner der Nachkriegszeit. Sein Tod ist ein großer Verlust nicht allein für die Jüdische Gemeinde, sondern für unsere Stadt Berlin.
8 Leider nimmt die Zahl jener, die den Holocaust überlebten, immer stärker ab. Aus diesem Grund werden künftig die Stätten der Erinnerung immer wichtiger. Dann werden uns nur diese Orte bleiben und immer mehr erzählen müssen. Ihre dauerhafte Sicherung ist daher eine Aufgabe, der wir uns verpflichtet wissen müssen und der wir uns verpflichtet fühlen. Aus diesem Grund haben der Bund und die Länder, darunter auch Berlin, Mitte Dezember beschlossen, sich in den nächsten fünf Jahren mit 60 Millionen Euro für den dauerhaften Erhalt der Gedenkstätte des einstigen NS- Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau zu beteiligen. So wichtig diese einstigen Stätten des Grauens für unsere Erinnerungskultur sind und immer sein werden, so unerlässlich ist es, dass vor allem die junge Generation diese Orte besucht und sich damit auseinandersetzt. Vor allem wenn - und weil - diese Begegnung mit dem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte den Verstand und das Herz (oder die Seele) ansprechen. Ich wäre sehr dafür, wenn solch ein Besuch zum schulischen Pflichtkanon zählen würde. Und ich hätte keine Scheu vor einer Debatte um verordnetes Gedenken. Wir verordnen ja auch
9 Sportunterricht, weil wir wissen, wie wichtig der für die Gesundheit unserer Kinder und Jugendlichen ist. Anrede, Wir begehen in diesem Jahr auch das 65. Jahr der Befreiung und des Kriegsendes. Für Berlin grenzt es an ein Wunder, dass nach dem Holocaust wieder jüdisches Leben in der Stadt erblüht und ein fester, anregender Teil der Stadtkultur geworden ist. Wir freuen uns auch darüber, dass Berlin zu einer Stadt jüdischer Einwanderung geworden ist. Mit ihr ist die jüdische Gemeinde stark gewachsen. Vor wenigen Wochen haben wir dem 20. Jahrestag des Falls der Mauer gedacht. Seit der Einheit Deutschlands im Jahre 1990 kamen auch mehr Zuwanderer aus Osteuropa zu uns. Eine junge Generation jüdischer Gemeindemitglieder ist mittlerweile herangewachsen. 20 Jahre Zuwanderung ist daher auch ein schönes und wichtiges Jubiläum in diesem Jahr in unserer Stadt! Es ist ein großer Verdienst der Jüdischen Gemeinde, dass sie dabei erfolgreich wichtige Integrationsarbeit geleistet hat. Dafür gebührt ihr der Dank des Senats.
10 All diese Ereignisse symbolisieren die Vielfalt jüdischen Lebens in Berlin, sie zeugen von neuem Selbstbewusstsein und von Zuversicht. Darüber sind wir glücklich. Die Erfolge lassen uns aber die Geschichte nicht vergessen. Auschwitz und die anderen Lager bleiben uns Mahnung und Verpflichtung. Das neue jüdische Leben in Berlin macht uns dennoch Mut, auch den Ewiggestrigen entschlossen entgegenzutreten und gemeinsam die Zukunft in unserer Stadt zu gestalten. Der Jüdischen Gemeinde und uns allen wünsche ich auf diesem Weg viel Erfolg. (26.1. 2010)