Raum und Zeit Nobelpreisträger Max von Laue spricht über die Relativitätstheorien

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Transkript:

2 Raum und Zeit Nobelpreisträger Max von Laue spricht über die Relativitätstheorien Seit 1951 treffen sich jedes Jahr für eine ganze Woche eine große Anzahl von Nobelpreisträgern aus Medizin, Physik, Chemie und Ökonomie in Lindau am Bodensee. Vor jungen Wissenschaftlern, die aus aller Welt über ein Netz von Universitäten und Forschungsinstituten ausgewählt werden, berichten und diskutieren sie über Erlebnisse und Ergebnisse aus ihrem Forschungsgebiet. Die Vorträge werden inzwischen online übertragen, aber auch die Vorträge früherer Jahre sind nun auf der Web-Site der Stiftung Lindauer Nobelpreisträgertreffen am Bodensee als Video zu hören, ein unerhörter Kulturschatz, der auf diese Weise allen Interessierten zugänglich gemacht wird. Als Beispiel möchte ich einen Vortrag herausgreifen, den Max von Laue im Jahre 1956 gehalten hat. Dieser hat im Jahre 1914 den Nobelpreis für seine Entdeckung der Beugung von Röntgenstrahlen beim Durchgang durch Kristalle erhalten. Nach seiner Habilitation 1906 hatte er sich aber zunächst mit der Relativitätstheorie beschäftigt; das Thema greift er auch in seinem Lindauer Vortrag von 1956 mit dem Titel Von Copernicus bis Einstein auf. Dieser ist beeindruckend, sowohl von der Klarheit der Gedankenführung wie von der Form: In drei Abschnitten legt er die Entwicklung unserer Vorstellungen von Raum und Zeit dar. Sein Leitthema ist dabei der Begriff des Inertialsystems und er schildert, welche Rolle dieser Begriff jeweils in der klassischen Physik, in der Speziellen Relativitätstheorie wie in der

12 Was können wir wissen? Allgemeinen Relativitätstheorie spielt. Er zeigt dabei, wie unser Verständnis von Raum und Zeit zusammen mit diesem Begriff im Verlaufe der Zeit gewachsen und schließlich mit der Allgemeinen Relativitätstheorie zu einem vorläufigen Abschluss gekommen ist. Das Galileische Relativitätsprinzip Will man einen physikalischen Prozess wie die Bewegung eines Planeten in Raum und Zeit beschreiben, benötigt man ein Verfahren, um den Ort des Körpers zu jeder Zeit angeben zu können. Seit Descartes weiß man, wie man da vorzugehen hat: Man wählt einen Bezugspunkt aus, also einen Punkt, in Bezug auf den man die Bewegung messen will. Von diesem ausgehend kann man ein Koordinatensystem mit Koordinatenachsen für jede der drei Raumrichtungen errichten. Wenn man dann noch eine Länge als Einheit definiert, erhält man ein vollständiges Bezugssystem, in dem man jeden Ort des Körpers durch seine Koordinaten charakterisieren kann. Im ersten Abschnitt seines Vortrages geht Max von Laue auf den Kampf um das Kopernikanische Weltbild ein, denn hierbei taucht schon die Frage auf, die in den späteren Relativitätstheorien stets eine grundsätzliche Rolle spielte: Wie ändern sich die physikalisch beobachtbaren Phänomene, wenn man das Bezugssystem wechselt und wie haben das die physikalischen Gesetze widerzuspiegeln? Dass die Wahl des Bezugssystems einen großen Einfluss auf die Interpretation des physikalischen Geschehens haben kann, sah man ja gerade daran, wie unterschiedlich die Bahnen der Planeten aussahen je nachdem, ob man die Sonne oder die Erde als Bezugspunkt wählte. Galilei war es, der die ersten wichtigen Erkenntnisse sammelte, die Licht auf dieses Problem warfen. Er erkannte, dass es bei dem Vergleich zweier Bezugssysteme darauf ankommt, wie sich die Bezugspunkte relativ zueinander bewegen; und unter den vielen

2 Raum und Zeit 13 Möglichkeiten solcher Bewegungen entdeckte er eine ganz besondere, die geradlinig-gleichförmige Bewegung. Aus dem Umstand, dass physikalische Prozesse in gleicher Form ablaufen, ob man sie nun auf dem Lande beobachtet oder auf einem Schiff, wenn sich dieses mit konstanter Geschwindigkeit in konstanter Richtung bewegt, schloss er, dass genau bei einer solchen geradlinig-gleichförmigen Bewegung eines Bezugspunktes relativ zu einem anderen die physikalischen Prozesse gleich erscheinen und somit auch durch die gleichen Gesetze beschrieben werden müssen. Diese physikalische Äquivalenz aller geradlinig-gleichförmig gegeneinander bewegten Bezugssysteme wurde später zu einem Prinzip, zum Galileischen Relativitätsprinzip erhoben. Inertialsysteme Bei seinen Überlegungen ging Galilei implizit von einem ganz bestimmten Bezugssystem aus, von einem, das später Inertialsystem genannt wurde. In einem solchen sollte ein sich selbst überlassener Körper in Ruhe bleiben, wenn er sich in Ruhe befindet. Was auch immer ein sich selbst überlassener Körper sein sollte, dahinter steckte die Erfahrung, dass eben Körper im Zustand der Ruhe verharren können und die Vorstellung, dass eine Änderung dieses Zustandes, das Eintreten einer Bewegung also, nur aufgrund eines äußeren Einflusses geschehen kann. Ein besonderes Inertialsystem sollte der absolute Raum sein, den man sich damals gewissermaßen als Behälter für die ganze Welt vorstellte und der mit einer feinstofflichen Substanz, dem Äther, angefüllt sein sollte. Aber auch alle Bezugssysteme, die sich geradlinig-gleichförmig zu dem absoluten Raum bewegten, mussten nach dem Galileischen Relativitätsprinzip Inertialsysteme sein. Newton zeigte zwei Generationen später, dass man gerade in solchen Inertialsystemen Prinzipien formulieren kann, aufgrund de-

14 Was können wir wissen? rer man die Bewegung materieller Körper durch mathematische Gleichungen beschreiben und vorhersagen kann. Mitunter wird von Leuten, die den Widerstand der Inquisition gegen die Gedanken Galileis beschönigen wollen, behauptet, der ganze Streit sei einer um des Kaisers Bart gewesen, es wäre ja nur um die Wahl des Bezugspunktes gegangen und da sei man ja frei. Galilei habe sich nur stockbeinig und arrogant verhalten. Die beiden Bezugssysteme Sonne als Bezugspunkt bzw. Erde als Bezugspunkt sind aber physikalisch nicht äquivalent. Nur einer dieser Körper konnte, wenn es um Planetenbahnen ging und nicht lediglich um Bewegungen auf der Erde, in guter Näherung als Bezugspunkt eines Inertialsystems dienen, denn Sonne und Erde bewegen sich nicht geradlinig-gleichförmig zueinander. Alles sprach dafür, die Sonne zum Bezugspunkt eines Inertialsystems zu machen. In der Tat hat sich das dann durch Newtons spektakuläre Berechnungen der Planetenbahnen endgültig bestätigt. Es ging also wirklich um eine grundlegende Frage, nämlich darum, welches Bezugssystem als Inertialsystem gelten kann. Inertialsysteme in der Speziellen Relativitätstheorie Max von Laue beschreibt sehr klar, wie der Begriff des absoluten Raums als ideale Realisierung eines Inertialsystems 200 Jahre lang die Physik beherrscht hat, und führt im zweiten Abschnitt seines Vortrags aus, wie dieses Konzept durch die Spezielle Relativitätstheorie überwunden wurde. Ende des 19. Jahrhunderts stellte man nämlich durch viele Experimente fest, dass die Lichtgeschwindigkeit, von jedem Bezugssystem aus gemessen, den gleichen Wert hatte. Das war mit dem Galileischen Relativitätsprinzip unvereinbar und respektierte auch nicht die Sonderstellung eines absoluten Raumes. Die Einsteinsche Theorie, die dann deutlich machte, dass das Galileische Relativitätsprinzip

2 Raum und Zeit 15 nur eine Näherung ist und nur für Geschwindigkeiten gilt, die klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit sind, machte nun die Vorstellung von der Existenz eines absoluten Raumes und des Äthers überflüssig, führte dabei aber zu Eigenschaften von Raum und Zeit, die der Erfahrung bisher verborgen geblieben waren: Abstände in Raum und Zeit, also Distanzen und Zeitspannen, hängen davon ab, von welchem Bezugssystem aus man diese beobachtet. Zwei Ereignisse z. B., die man in einem Bezugssystem als gleichzeitig beobachtet, werden so in einem relativ dazu bewegten Bezugssystem als nicht gleichzeitig gesehen. Die Frage, was denn nun wirklich der Fall ist, ist falsch gestellt. Gleichzeitigkeit ist kein objektives Element der Wirklichkeit. Nur weil wir im Alltag keine Erfahrung mit solch großen Geschwindigkeiten haben, spüren wir nie die Relativität der Gleichzeitigkeit. Inertialsysteme in der Allgemeinen Relativitätstheorie Im dritten Abschnitt wendet sich Max von Laue der Allgemeinen Relativitätstheorie zu und diskutiert, wo nun letztlich ideale Inertialsysteme realisiert sind. Zunächst erinnert er daran, dass in der Gravitationstheorie der Begriff einer Masse eine Rolle spielt, aber auch in der Theorie der Bewegung. Beide Massen haben aber zunächst nichts miteinander zu tun; man nennt so die erste schwere Masse, die zweite träge Masse und man hätte im Prinzip nichts dabei gefunden, wenn die träge Masse eines Körpers stets verschieden von seiner schweren Masse wäre. Nun sind aber diese Massen immer gleich groß, ein Umstand, den man zunächst einfach nur registrieren konnte. Hier hakte Einstein ein: Die Gleichheit von träger und schwerer Masse inspirierte ihn dazu, die Theorie der Bewegung so zu verallgemeinern, dass die Gravitationstheorie ein Teil von ihr wurde. Raum und Zeit, durch die Spezielle Relativitätstheorie schon zur Raumzeit zusammen-

16 Was können wir wissen? geschmolzen, mussten dabei aber eine ganz neue, unerwartete Eigenschaft bekommen: Die Raumzeit kann gekrümmt sein, wobei es gerade die Massen die Verursacher der Bewegung wie der Trägheit sind, die das Maß der Krümmung bestimmen. In zwei Dimensionen kann man sich leicht einen gekrümmten Raum vorstellen und zwar als Oberfläche einer Kugel; wir bewegen uns auf unserer Erde somit auf einem zweidimensionalen gekrümmten Raum. Die Phänomene der Natur beobachten wir nach der Allgemeinen Relativitätstheorie dagegen in einer gekrümmten vierdimensionalen Raumzeit. Als ein Inertialsystem, also als ein Bezugssystem, in dem ein sich selbst überlassener Körper in Ruhe bleibt, wenn er sich in Ruhe befindet, kann jetzt nur noch die nächste Umgebung eines frei fallenden Beobachters gelten, so wie man auf der Erde in seiner unmittelbaren Umgebung die Erdoberfläche als flach ansehen kann. Die Grenzen unserer Vorstellungsfähigkeit Ich vermute, selbst diese Grundgedanken der Allgemeinen Relativitätstheorie kann man als Außenstehender nicht voll verstehen und würdigen. Jeder, der sich ein wenig in die Relativitätstheorien eingearbeitet hat, weiß, wie sehr man sich in diese abstrakten Gedanken einüben muss und wie sehr man dazu stets auch den Kompass der Mathematik benötigt. So versucht Max von Laue m. E. zu lange etwas Unmögliches bei seinen Ausführungen über diese abstrakten, mathematischen Ideen; die Experimente und Beobachtungen, mit denen die Allgemeine Relativitätstheorie geprüft wurden, kommen auf der anderen Seite zum Schluss etwas zu kurz. An vielen Punkten des Vortrages spürt man den damaligen Stand der Physik (1956) und der philosophischen Reflexion über die Begriffe der Physik. Max von Laue macht einen Unterschied

2 Raum und Zeit 17 zwischen den Begriffen Raum und Zeit einerseits und der Messung dieser Größen andererseits. Er glaubt Kant darin noch folgen zu können, dass Raum und Zeit eingeprägte Formen des menschlichen Geistes, Aussagen über Raum und Zeit also synthetische Urteile a priori seien. Die Tatsache, dass die Relativitätstheorien ganz neue Urteile über Raum und Zeit liefern, und dass damit gezeigt wird, dass das so genannte a priori Wissen auch nur ein vorläufiges Wissen ist, bezieht er so nur auf die Messung von Raum und Zeit. Er scheint zwischen dem Wesen einer Sache und dem Umgang mit einer Sache zu unterscheiden. Heute sehen viele das anders: Das, was man eingeprägte Formen des menschlichen Geistes oder a priori-wissen nennt, sind die Vorstellungen, die die Menschen im Laufe der Evolution entwickelt haben. Hans Mohr (Mohr, 1987, S. 22) formuliert das so: Wenn es eine genetische Evolution der Organismen gegeben hat (was innerhalb der Wissenschaft niemand bezweifelt), dann müssen auch das Denken des Menschen, sein Erkenntnisvermögen, seine kognitiven Strukturen Teil dieser Evolution gewesen sein, und dann war es nicht nur möglich, sondern notwendig, im strengen Sinn unausweichlich, dass sich unser Denken an die Strukturen der realen Welt angepasst hat. Die Selektion hat für uns die der Natur gemäßen Denkmuster ausgelesen. Es muss bei Tier und Mensch zu einer zumindest partiellen Entsprechung von kognitiver Struktur und Realstruktur gekommen sein. Die Muster unseres Denkens wurden an die Muster der Natur angepasst. Mit Geschwindigkeiten, die nicht mehr klein gegenüber der Lichtgeschwindigkeit sind, hatten wir es aber im Verlauf der Evolution nie zu tun, wir wurden nie geprüft, wie wir mit den Phänomenen, die dabei vorkommen, umgehen können. Wenn wir nun Theorien für solche Fälle entwickeln, können wir nicht davon ausgehen, dass unsere eingeprägten Formen des menschlichen Geistes noch taugen. Noch deutlicher wird das in der Quantenmechanik. Wir treffen dort im besonderen Maße auf

18 Was können wir wissen? Unvorstellbares. Andererseits: Die Muster unseres Denkens, angepasst an die Muster der Natur, enthalten auch mathematische Muster, die Struktur der Welt scheint sich ganz besonders darin widerzuspiegeln. Die Fähigkeit, diese zu kultivieren und fortzuentwickeln, führt uns über die eingeprägten Formen des menschlichen Geistes hinaus. Der Vortrag ist eine beeindruckende und anregende Begegnung mit einer Persönlichkeit, die die große Zeit der Entstehung der Relativitätstheorie und Quantenmechanik miterlebt und mitgestaltet hat. Im gleichen Jahr 1879 wie Einstein geboren, erhielt Max von Laue mit 35 Jahren, noch vor seinem Lehrer Max Planck und vor Albert Einstein, den Nobelpreis. Als er im Jahre 1956 diesen Vortrag hielt, war er 77 Jahre alt. Drei Jahre später war er noch einmal Gast bei dem Lindauer Nobelpreisträgertreffen. Im Jahr darauf starb er an den Folgen eines Autounfalls.

http://www.springer.com/978-3-8274-3051-9