Deutsch als Zweitsprache in Regelklassen

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Transkript:

Deutsch als Zweitsprache in Regelklassen Das Sprachspiel als Grundlage eines integrativen Deutschunterrichts Jedes dritte Kind in NRW spricht im Elternhaus eine andere Sprache als Deutsch. Die PISA- Studie hat auf dramatische Weise deutlich gemacht, dass das Bildungsrisiko für diese mehrsprachigen Kinder in Deutschland sehr viel höher ist als in anderen Ländern mit vergleichbaren Einwanderungsquoten. Dass viele Kinder, die mit anderen Muttersprachen als Deutsch aufwachsen, in unserem Bildungssystem scheitern, liegt nicht daran, dass sie mit ihrer Mehrsprachigkeit prinzipiell überfordert wären - Mehrsprachigkeit ist weltweit gesehen die Regel, Einsprachigkeit ist die Ausnahme - sondern daran dass wir bisher keine sprachdidaktischen Konzepte entwickelt haben, die die sprachlichen Voraussetzungen einer multilingualen Schülerschaft konsequent berücksichtigen. Es gibt etablierte Didaktiken sowohl für den muttersprachlichen als auch für den fremdsprachlichen Unterricht mit einer langen Tradition und einem großen Repertoire an Unterrichtsformen und Lehrmaterialien sowie an didaktischem Know-How, das von Lehrergeneration zu Lehrergeneration weitergegeben wird. Angesichts der schulischen Realität müssen wir uns fragen, ob die institutionelle Trennung zwischen Mutter- und Fremdsprachendidaktik, wie sie sich im 19.Jh. herausgebildet hat, überhaupt noch zeitgemäß ist. Deutsch als Zweitsprache ist immer noch das Schmuddelkind in der Mitten, für das sich auch in der Lehrerausbildung an den Hochschulen von Amts wegen niemand so recht zuständig fühlt. Da die Kinder mit Deutsch als Zweitsprache fast ausschließlich in Regelklassen unterrichtet werden, brauchen wir ein sprachdidaktisches Konzept, das die Lernbedürfnisse der Kinder mit Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache gleichermaßen berücksichtigt. Das Fehlen eines solchen Konzepts hat dazu geführt, dass schon bei einem Anteil von 20% Zuwanderern das Lernniveau in der gesamten Klasse, also auch für deutschsprachige Schüler, deutlich sinkt (vgl. PISA E). Eine Sprachenerhebung an Essener Grundschulen hat gezeigt, dass 74 von 105 befragten Grundschulen mehr als 20% Zuwanderer haben. Das dürfte hier in Wuppertal nicht anders sein. Um eine Didaktik der Mehrsprachigkeit zu entwickeln, muss zunächst geklärt werden, was eine Zweitsprache von einer Muttersprache und von einer Fremdsprache unterscheidet, unter welchen Bedingungen sie erworben wird und welche Folgen unter den gegebenen Bedingungen der Submersion langfristig für die sprachliche Entwicklung dieser Schüler zu erwarten sind. Daraus ergeben sich dann die Grundlagen für ein eigenständiges Konzept Deutschunterricht unter den Bedingungen der Mehrsprachigkeit. - 1 -

1. Was ist eine Zweitsprache? 1. eine Sprache, die ein Sprecher nolens volens nutzen muss, obwohl er sie noch nicht o- der nur unzureichend beherrscht. 2. eine Sprache, die ohne gezielte Vermittlung erworben wird, allerdings meist zu einem späteren Zeitpunkt als die Muttersprache und auf der Basis einer bereits erworbenen Sprache. Letzteres wird oft vergessen: Kinder, die ohne Deutschkenntnisse in die Schule kommen, sind nicht sprachlos. Sie bringen ihre Muttersprache mit; je besser diese entwickelt ist, desto besser lernen sie langfristig Deutsch. 3. eine Sprache, an deren Vermittlung sehr viel höhere Ansprüche zu stellen sind als an eine Fremdsprache, weil die Zweitsprache als Unterrichtssprache Grundlage aller weiteren schulischen Lernprozesse ist. 2. Interlanguage oder Fossilierung? Durch den Zwang zur Nutzung der Mehrheitssprache Deutsch erwerben die Schüler in der schulischen und außerschulischen Kommunikation unterschiedliche Varietäten des Deutschen (Subsprachen von Kindern und Jugendlichen, Dialekte, Sprachmischungen, Gastarbeiterdeutsch ). Auf der Basis dieser Sprachkontakte entwickeln sie eine individuelle Interlanguage (Lernersprache). Bevor in die unterschiedlichen Lernersprachen der Schüler systematisierend eingegriffen wird, muss geklärt werden, ob es sich bei Normverstößen der Schüler mit DaZ um Erscheinungen der Interlanguage, d.h. um eine variable Lernersprache handelt oder bereits um Fossilierungen, d.h. um Anzeichen für das Ende des natürlichen Spracherwerbsprozesses. Im Rahmen der Interlanguage haben systematische Abweichungen von der Standardnorm eine wichtige Funktion beim natürlichen Regelbildungsprozess und damit beim Erwerb der Zielsprache. Fossilierungen können per definitionem nur durch schulische Eingriffe behoben werden. 3. Spracherwerb unter Submersionsbedingungen Kinder mit DaZ müssen in Regelklassen dem Unterricht in einer Sprache folgen, die sie häufig noch nicht oder nur unzureichend beherrschen. Es ist durchaus möglich, Kinder in einer Sprache zu unterrichten, die sie noch nicht verstehen. Das zeigen der einsprachige Fremdsprachenunterricht und die Immersionsmodelle zur zweisprachigen Erziehung (in der skandinavischen Literatur språkbad = Sprachbad), wie sie weltweit u.a. in Kanada für die Sprachen Englisch und Französisch, in Finnland für Finnisch und Schwedisch und in Barcelona für Spanisch und Katalanisch seit vielen Jahrzehnten mit großem Erfolg praktiziert werden. Vor- - 2 -

aussetzung für den Erfolg sind der gleichrangige Status der beteiligten Sprachen, die Zweisprachigkeit des Lehrers und eine Lerngruppe, in der alle die zu erwerbende Fremdsprache noch nicht beherrschen. In diesem Fall orientiert sich der input an den Bedürfnissen der Schüler (input adapted to the student s level). Diese Voraussetzungen sind in der Regel für Kinder, die die jeweilige Mehrheitssprache unter Migrationsbedingungen erwerben müssen, nicht gegeben. Unter den Bedingungen der Submersion (sink or swim programs, in der skandinavischen Literatur dränkningsprogramm = Ertränken in der Sprache) erwerben die Kinder relativ schnell gute kommunikative Fähigkeiten in der Zweitsprache. In einer face-to-face- Kommunikation sprechen sie die Zweitsprache meist akzentfrei, reden flüssig über vertraute, konkrete Alltagsdinge in Situationen, die intellektuell nicht viel erfordern und in denen man Hilfe durch kontextuelle Hinweise bekommt. Diese alltägliche Kommunikation, bei der die Situation die Sprache entlastet, nennt der kanadische Bilingualismusforscher Cummins BICS (basic interpersonal communicative skills). Schwierigkeiten beim Erwerb und Defizite in der Beherrschung der fremden Unterrichtssprache sind dagegen zu erwarten, wenn sie die Sprache als Werkzeug für Gedanken bei Problemlösungen gebrauchen und begriffliche Operationen mittels Sprache ausführen müssen in intellektuell anspruchsvollen Situationen, in denen nur die Sprache die Botschaft trägt. Die Fähigkeit zur Bewältigung solcher Anforderungen nennt Cummins CALP = cognitive academic language proficiency (Cummins 1978, 397). Cummins zufolge ist CALP eine sprachübergreifende Grundfähigkeit ( common underlying proficiency ), die von der Erst- auf die Zweitsprache übertragen wird. Sie ermöglicht eine Kompetenz höherer Ordnung, die sich im diskursiven Denken, in Lesestrategien und Schreibfertigkeiten zeigt. Der Unterschied zwischen bics und calp entspricht sowohl hinsichtlich der Kommunikationsbedingungen als auch hinsichtlich der Versprachlichungstendenzen dem Unterschied zwischen konzeptioneller Mündlichkeit und Nähesprache auf der einen und konzeptioneller Schriftlichkeit und Distanzsprache auf der anderen Seite. In der Soziolinguistik ist dieser Unterschied bereits vor über 20 Jahren auch im Rahmen der muttersprachlichen Didaktik unter den Begriffen restringierter und elaborierter Code diskutiert worden. Defizit oder Differenz - Pidgin oder Kreolsprache? Grundsätzlich sollten wir bei den sprachlichen Leistungen mehrsprachiger Kinder in der Zweitsprache Deutsch nicht von einem Defizit ausgehen. Verschiedene Varietäten des Deutschen, wie das Gastarbeiterdeutsch (Pidgin), Kanaksprak, das Turkdeutsch, Sprachmischungen (Kreol), die sich aufgrund von Sprachkontakten etabliert haben, sind durchaus situativ angemessene und kreative Formen der Sprachverwendung. Diese Einschätzung enthebt uns aber nicht der Verpflichtung, den Kindern ihre beiden Sprachen so früh wie mög- - 3 -

lich auch als Schriftsprache zu vermitteln (koordinierte Alphabetisierung). Bei aller Sympathie für die innersprachliche Vielfalt des Deutschen und für die Differenzhypothese - gerade in mehrsprachigen Lerngruppen müssen wir uns auf die Schriftsprache und damit die jeweilige Standardsprache konzentrieren! 5. Das Sprachspiel als Grundlage eines integrativen Deutschunterrichts Wenn wir Schüler mit Deutsch als Muttersprache und Deutsch als Zweitsprache im Sinne einer Interkulturellen Erziehung gemeinsam unterrichten wollen, sind folgende Problemstellungen zu lösen: 1. Wie integriert man den für viele Schüler erforderlichen systematischen Zweitsprachenunterricht zur Übung sprachlicher Strukturen in den muttersprachlichen Deutschunterricht ohne, dass sich die deutschen Schüler, die die zu vermittelnden sprachlichen Strukturen schon beherrschen, sich langweilen? 2. Wie müssen die den Kindern angebotenen sprachlichen Äußerungen, Texte, Handlungen beschaffen sein, damit Einwandererkinder die Zweitsprache Deutsch erwerben, anders ausgedrückt: Unter welchen Bedingungen wird input (sprachliche Äußerungen, die das Kind hört oder liest) zum intake (sprachliche Lernprozesse, die sich aus dem Kontakt mit einer Sprache ergeben)? Das kindliche Sprachspiel (Texte, die die Kinder selbst erfinden, abwandeln, mündlich tradieren, auswendig lernen: Neck- und Abzählreime, Witze, Rätsel, Fangfragen, Zungenbrecher, Verkehrte-Welt-Geschichten, rhythmisierte Verse und vor allem Lieder als Spielbegleitung beim Schaukeln, Seilchenspringen, Hüpfkästchen und Klatschspielen) eignet sich aus verschiedenen Gründen als Grundlage eines integrativen Deutschunterrichts: Das Sprachspiel als systematisches Spiel mit den Elementen der Sprache und den Beziehungen zwischen diesen Elementen hat eine wichtige Funktion auch beim natürlichen Spracherwerb. Während sich die Aufmerksamkeit des Sprechers in instrumentellkommunikativen Äußerungen auf das Ergebnis der sprachlichen Handlung konzentriert, nicht auf die dafür verwendeten sprachlichen Mittel, lenkt das Sprachspiel die Aufmerksamkeit des Kindes auf die Sprache als solche, z.b. auf bestimmte Laute, Morpheme, semantische Beziehungen, Paradigmen (vgl. dazu die Textbeispiele). Im Sprachspiel findet die kindliche Urlust an der Wiederholung ihren authentischen Ausdruck und deshalb bietet es sich an, sprachliche Strukturen in Sprachspielen zu üben, die für deutschsprachige und nicht deutschsprachige Kinder gleichermaßen attraktiv sind. - 4 -

Sprachspiele gibt es in allen Kulturen. Die Strukturen des kindlichen Sprachspiels weisen über Sprachgrenzen hinweg große Ähnlichkeiten auf. Aufgrund der dadurch gegebenen Erwartbarkeit bestimmter sprachlicher Elemente wird das Verständnis erleichtert (vgl. dazu die Textbeispiele). Sprachspiele als Form der elementaren Literatur ermöglichen die Verbindung von Literatur- und Spracherwerb: Systematisches sprachliches Lernen sollte immer ästhetischspielerische Elemente aufweisen - Literaturunterricht sollte immer auch Sprachunterricht sein. Die Nähe von Poesie und Grammatik, seit der Antike bekannt und heute fast vergessen, sollten wir für einen in mehrfacher Weise integrativen Deutschunterricht nutzen, der nicht nur den Bedürfnissen der Kinder mit Deutsch als Zweitsprache entgegen kommt, sondern auch dazu beiträgt, den muttersprachlichen Grammatikunterricht einleuchtender zu begründen und attraktiver zu gestalten (vgl. Textbeispiele auf den nächsten Seiten). Dr. Gerlind Belke, Hagen Literatur: Belke, Gerlind (2003 3 ): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Sprachspiele, Spracherwerb und Sprachvermittlung. Hohengehren (= Schneider-Verlag) Belke, Gerlind, Geck, Martin (2003 2 ): Das RUMPELFAX. Singen, spielen, üben im Grammatikunterricht. Handreichungen für den Deutschunterricht in mehrsprachigen Lerngruppen. Mit CD. (z.zt. vergriffen, erscheint zum Jahresende beim Schneider-Verlag, Hohengehren, neu bearbeitet und erweitert) Cummins, J. (1978): Educational implications of mother tongue maintenance in minority-language Groups. In: The Canadian Language Review, vol 34, no. 3, 395-416 Skutnabb-Kangas, T. (1992): Mehrsprachigkeit und die Erziehung von Minderheitenkindern. In: Deutsch lernen 1/92. 38-67 Dr. Gerlind Belke war akademische Oberrätin an der Universität Dortmund und vor allem im Bereich der Primarstufenlehrer-Ausbildung tätig. Eine ausführliche Darstellung ihres Ansatzes findet sich in: Belke, Gerlind (1999, 3. Aufl. 2003): Mehrsprachigkeit im Deutschunterricht. Sprachspiele, Spracherwerb und Sprachvermittlung. Baltmannsweiler: Schneider-Verlag Hohengehren - 5 -

Textbeispiele: 1. Interlanguage oder Fossilierung: Murats Witz und das Possessivpronomen (1) Murat (2. Schj.), freie Textproduktion im Anschluss an Sendacs Bilderbuchgeschichte Wo die wilden Kerle wohnen Ich Habe gtroimd die baiden HM gefagen si koren und sainen Mutta sur und sur und sur (2) Murat (4. Schj.) Ich kann ein Witz von Onkel Fritz. Fritzchen hatte als Hausaufgaben Wörter. Gehter nach Hause. Ihrer Mutter ist böse, sagt Fritzchen: Sag mir ein Wort, Mama. Hau ab! Geht er zu seinen Vater. Sein Vater liest Comic-Buch und sagt er : Vater, gib mir ein Wort! Superman, superman! und dann geht er zu seinen Bruder. Ihre Bruder... sein Bruder telefoniert ihre Liebling. Sagt er: Ich hol dich ab, baby! und er schreibt das auf. Und dann geht er zu ihre kleine Schwester und dann sagt er Sag mir ein Wort, Connilein und dann sagt ihre Schwester: Geh doch, komm nich wieder! Geh doch, komm nich wieder! Und dann geht er zur Schule und da sagt ihre Lehrerin: Fritzchen, jetzt bist du dran! Hau ab! - Er hat das ja geschrieben - Hau ab!, sagt er und dann sagt ihre Lehrerin: Fritzchen, Ich geh zu Herr Direktor! Supermen, Superman! Fritzchen, jetzt geh ich aber wirklich zu Herr Diraktor! Ich hol dich ab, baby Jetzt geh ich aber zum Herr Direktor geh doch, komm nich wieder! geh doch, komm nich wieder! (3) Jeder Zug hat seinen Bahnhof Jeder Zug hat seinen Bahnhof, jede Nacht hat ihren Tag, jedes Jahr hat seine Wochen, jede Taube ihren Schlag. Mein eigenes Gedicht Jedes Feuer hat seine Asche jeder Topf hat.. jeder Trinker jede.. Jedes Haus hat seine Schwelle, jeder Besen seinen Stiel, jeder Maurer seine Kelle, jedes Kind sein kleines Spiel. B.H.Bull - 6 -

2. Sprachspiele beim natürlichen Spracherwerb: (4) Ri, ra, rutsch, wir fahren mit der Kutsch (5) Es tanzt ein Bibabutzemann (6) Salat, Salat, jeden Monat Salat, Januar, Februar, März (7) Wenn hinter Fliegen Fliegen fliegen, fliegen Fliegen Fliegen hinterher (8) Eins, zwei, drei alt ist nicht neu arm ist nicht reich hart ist nicht weich fleißig ist nicht faul ein Ochs ist kein Gaul (9) Hör, du Bube! Sag deinem Buben, dass dein Bub meinen Buben keinen Buben mehr heißt. Denn mein Bub leidet s nicht von deinem Buben, dass dein Bub meinen Buben einen Buben heißt! 3. Sprachspiele im interkulturellen Vergleich (10) Ekmek buldum katik yok katik buldum ekmek yok Odum buldum kibrit yok kibrit buldum odun yok Para buldum cüzdan yok cüzdan buldum para yok Birat buldum meydan yok meydan buldum birat yok (Ich hab Brot und keinen Käse, Käse hab ich, nun kein Brot Ich hab Holz und nun kein Feuer, Geld, keine Börse, Pferd und keinen Stall) (11) MIT Es geht der Mensch nicht ohne Kopf der Deckel geht nicht ohne Topf Schneewittchen geht nicht ohne Zwerge Und Bayern geht nicht ohne Berge Springen geht nicht ohne Bein Die Liebe geht nicht ganz allein (Jürgen Spohn) - 7 -

4. Poesie und Grammatik (12) Der Hase mit der roten Nase Helme Heine Es war einmal ein Hase mit einer roten Nase und einem blauen Ohr. Das kommt ganz selten vor. Die Tiere wunderten sich sehr! Wo kam der Hase her? Er hat im Gras gesessen und still den Klee gefressen. Und als der Fuchs vorbeigerannt, hat er den Hasen nicht erkannt. Da freute sich der Hase. Wie schön ist meine Nase und auch mein blaues Ohr! Das kommt so selten vor. Die Katze mit der silbernen Tatze Es war einmal eine Katze mit einer silbernen Tatze und einem goldnen Ohr. Das kommt ganz selten vor. Die Kinder wunderten sich sehr! Wo kam die Katze her? Sie hat hinterm Ofen gesessen und still ihr Whiskas gefressen. Und als die Lisa vorbeigerannt, hat sie die Katze nicht erkannt. Da freute sich die Katze. Wie schön ist meine Tatze und auch mein goldnes Ohr! Das kommt so selten vor Das Schwein mit dem grünen Bein Es war einmal ein Schwein mit einem grünen Bein und einem roten Ohr. Das kommt ganz selten vor. Der Bauer wunderte sich sehr! Wo kam das Schwein her? Es hat im Stall gesessen und still den Fraß gefressen. Und als der Bauer vorbeigerannt, hat er das Schwein nicht erkannt. Da freute sich das Schwein. Wie schön ist mein Bein und auch mein rotes Ohr! Das kommt so selten vor. - 8 -