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17: Grundfragen der Lehre von der Verantwortlichkeit I. Schuld und präventive Notwendigkeit als Voraussetzungen strafrechtlicher Verantwortlichkeit Das StGB unterscheidet scharf zwischen Unrecht und Schuld: - Im Unrechtsbereich wird die mit Strafe bedrohte Handlung auf ihre Übereinstimmung mit den Sollensnormen der Rechtsordnung, d.h. auf ihre Rechtswidrigkeit hin überprüft. - Im Schuldbereich geht es dagegen um die Frage, ob dem Täter die rechtswidrige Tat persönlich vorzuwerfen ist. Die Verantwortlichkeit bezeichnet nach der Rechtswidrigkeit eine weitere, i.d.r. die Strafbarkeit auslösende Bewertung im Rahmen des Deliktsaufbaus. Die Verantwortlichkeit bedeutet eine Wertung unter dem Gesichtspunkt der strafrechtlichen Haftbarmachung des Täters (Roxin AT I 19 Rn. 1). Die Verantwortlichkeit hängt von zwei Gegebenheiten ab, die zum Unrecht hinzukommen müssen: erstens die Schuld des Täters und zweitens die aus dem Gesetz zu entnehmende präventive Notwendigkeit der strafrechtlichen Ahndung. Der Täter handelt schuldhaft, wenn er strafrechtliches Unrecht verwirklicht, obwohl er in der konkreten Situation von der Appellwirkung der Norm erreicht werden konnte und eine hinreichende Fähigkeit zur Selbststeuerung besaß, so dass eine rechtmäßige Verhaltensalternative ihm psychisch zugänglich war (Roxin AT I 16 Rn. 3). 17 KK 311

- Der Gesichtspunkt präventiver Bestrafungsnotwendigkeit kommt etwa beim entschuldigenden Notstand nach 35 StGB hinzu: Der Gesetzgeber geht hier davon aus, dass die Gefahr zur Not auch hätte ertragen werden können und der Täter somit auch die rechtmäßige Verhaltensalternative gehabt hätte. Denn sonst könnte er im Rahmen des 35 I 2 StGB nicht rechtmäßiges Handeln und Hinnahme der Gefahr ohne Verstoß gegen den Schuldgrundsatz fordern. Wenn er im Regelfall des 35 I 1 StGB dennoch auf Strafe verzichtet, tut er dies trotz gegebener Schuld, weil er in solchen Ausnahmesituationen eine präventive Bestrafungsnotwendigkeit nur in den Sonderfällen des 35 I 2 StGB für gegeben hält. Der Schuldbegriff des StGB ist also weiter gefasst als der hier verwendete. Er umfasst den gesamten Bereich der Verantwortlichkeit (Schuld im hier verstandenen Sinne und das Bedürfnis präventiver Bestrafungsnotwendigkeit). Wenn nach 35 StGB der Notstandstäter ohne Schuld handelt, dann bedeutet das: ohne Verantwortlichkeit. Die Kategorien von Schuld und Verantwortlichkeit werden insoweit also zusammengefasst. II. Die Bedeutung des Schuldprinzips Die Bedeutung des Schuldprinzips lässt sich wie folgt umschreiben (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 398): - Schuld als strafbarkeitsbegründendes und -begrenzendes Verbrechensmerkmal: Keine Strafe ohne Schuld; ein in Art. 1 und 20 GG enthaltener Verfassungsgrundsatz. - Die Schuld des Täters muss alle Elemente des verwirklichten Unrechts umfassen: Unrecht 17 KK 312

und Schuld sind aufeinander bezogen, sie müssen einander entsprechen. - Die verhängte Strafe muss schuldangemessen sein: Die Strafe darf das Maß der Schuld nicht übersteigen (vgl. 46 I 1 StGB: Die Schuld des Täters ist Grundlage für die Zumessung der Strafe. ). III. Vom psychologischen zum normativen Schuldbegriff Das StGB bestimmt den Begriff der Schuld nicht. Der Gegenstand der Schuld hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. 1. Der psychologische Schuldbegriff Nach der psychologischen Schuldauffassung (vgl. Radbruch ZStW 1904, 333) bestand das Wesen der Schuld in der subjektiv-seelischen Beziehung des Täters zur Tat. Sie identifizierte den Schuldbegriff mit dem psychischen Sachverhalt (Wissen/Nichtwissen bzw. Wollen/Nichtwollen) und sah Vorsatz und Fahrlässigkeit demnach als Schuldarten an. Θ Diese Lehre lässt wesentliche Elemente der Schuld unberücksichtigt. Θ Die Lehre kann nicht erklären, warum die Schuld eines vorsätzlich Handelnden unter den Voraussetzungen des 35 StGB entfällt. 17 KK 313

2. Der normative Schuldbegriff Die durch Frank (Über den Aufbau des Schuldbegriffs [1907] S. 3 ff.) begründete normative Schuldlehre sieht das Wesen der Schuld in der Vorwerfbarkeit der Willensbildung und Willensbetätigung, also in der normativen Bewertung eines psychischen Sachverhalts. Der normative Schuldbegriff wird heute durchweg anerkannt (BGHSt 2, 194, 200; NK/Paeffgen Vor 32 ff. Rn. 208 f.). Doch gehen die Ansichten darüber auseinander, aus welchen Elementen er sich zusammensetzt: Nach der überwiegend vertretenen Auffassung umfasst der komplexe Begriff der Strafrechtsschuld (Kindhäuser AT 21 Rn. 11 f.): - die Schuldfähigkeit - die in bestimmten Fällen vorgesehenen speziellen Schuldmerkmale - die Schuldform (Vorsatz- oder Fahrlässigkeitsschuld) - das Unrechtsbewusstsein (Möglichkeit der Unrechtseinsicht) - (negativ) das Fehlen von Entschuldigungsgründen 3. Bewertung Der normative Schuldbegriff erkennt, dass es bei der Schuld nicht um die psychologische Beziehung des Täters zum Unrecht geht, sondern um eine über die bloße Einstufung als Unrecht hinausgehende Bewertung des Tatgeschehens. Jedoch betrifft diese Bewertung nicht bloß die Frage, ob man gegen den Täter einen Schuldvorwurf erheben kann, sondern bedeutet auch ein Urteil dar- 17 KK 314

über, ob er unter strafrechtlichen Gesichtspunkten für seine Tat verantwortlich gemacht werden kann. Die Vorwerfbarkeit ist daher nur notwendige, nicht aber hinreichende Voraussetzung der Verantwortlichkeit; vielmehr muss eine präventive Sanktionsnotwendigkeit hinzukommen. Der Notwehrexzess ist schuldhaft und damit vorwerfbar begangen; gleichwohl wird der Täter nicht verantwortlich gemacht, weil der Gesetzgeber es bei den genannten Affekten nicht für nötig hält, auf Notwehrüberschreitungen mit Strafe zu reagieren. Es muss also der normative Schuldbegriff zu einem normativen Verantwortlichkeitsbegriff weiterentwickelt werden. 17 KK 315

IV. Die inhaltliche Bestimmung der Schuld im Strafrecht Die Schuld des Täters ist zwingende Voraussetzung strafrechtlicher Verantwortlichkeit. Man macht Strafe von Schuld abhängig, um der staatlichen Strafgewalt Grenzen zu setzen. Ob und inwieweit das Schuldprinzip dieser Aufgabe gerecht werden kann, hängt davon ab, wie man den Begriff der Schuld inhaltlich bestimmt. Der normative Schuldbegriff sagt bloß, dass ein schuldhaftes Verhalten vorwerfbar sein muss. Er ist aber eine rein formale Bestimmung und beantwortet noch nicht die Frage, was die Vorwerfbarkeit inhaltlich ausmacht, d.h. unter welchen inhaltlichen Voraussetzungen die Vorwerfbarkeit also zu bejahen ist. Das ist vielmehr die Frage nach dem materiellen Schuldbegriff. 1. Schuld als Andershandelnkönnen Mit dem Unwerturteil der Schuld wird dem Täter vorgeworfen, dass er sich nicht rechtmäßig verhalten hat und dass er sich für das Unrecht entschieden hat, obwohl er sich hätte rechtmäßig verhalten und sich für das Recht entscheiden können. Der innere Grund des Schuldvorwurfs liegt darin, dass der Mensch auf freie, verantwortliche, sittliche Selbstbestimmung angelegt und deshalb befähigt ist, sich für das Recht und gegen das Unrecht zu entscheiden. (BGHSt 2, 194, 200) Θ Ein Andershandelnkönnen des individuellen Täters ist einer wissenschaftlichen Feststellung nicht zugänglich, so dass nach dem Grundsatz in dubio pro reo stets ein Freispruch erfolgen müsste und somit ein Schuldstrafrecht unmöglich wäre. 17 KK 316

Teilweise (Lenckner in: Göppinger/Witter [Hrsg.] Handbuch der forensischen Psychiatrie Bd. 1 [1972] S. 3 ff.) wird als Ausweg daher vorgeschlagen, auf das erfahrungsmäßig gegebene Andershandelnkönnen eines Durchschnittsmenschen abzustellen. Θ Diese Lösung wäre inkonsequent, da man den Vorwurf gegen eine individuelle Person unmöglich auf Fähigkeiten stützen kann, die andere Personen vielleicht haben, die aber dem Täter gerade fehlen. Θ Eine solche Lösung bedeutet gerade die Aufgabe des Ausgangspunktes, dass dem Täter selbst und nicht Dritten die freie Entscheidung möglich sein muss. 2. Schuld als rechtlich missbilligte Gesinnung Nach einer anderen Lehre ist Schuld die Vorwerfbarkeit der Tat mit Rücksicht auf die darin betätigte rechtlich missbilligte Gesinnung. Im Bereich der Schuld wird bei generalisierender, an sozial-ethischen Wertmaßstäben orientierter Betrachtung ein Unwerturteil über die in der konkreten Tat aktualisierte Gesamteinstellung des Täters zu den Anforderungen des Rechts gefällt (Wessels/Beulke/Satzger AT Rn. 400 f.). Θ Diese Bestimmung läuft auf eine bloße Leerformel hinaus, da sie gerade kein Kriterium dafür angibt, warum die Gesinnung des Täters rechtlich missbilligt wird. 17 KK 317

3. Schuld als Einstehenmüssen für den eigenen Charakter Eine weitere Strömung (Heinitz ZStW 1951, 74) geht auf deterministischer Grundlage davon aus, dass jeder für die Eigenschaften, die ihn zur Tat veranlasst haben, also für sein bloßes So-Sein, ohne Weiteres verantwortlich sei. Θ Es ist paradox, jemandem die Schuld für eine bloße Gegebenheit seine Charakteranlage zuzusprechen, an der er unschuldig ist und für die er nichts kann. Θ Es ist damit unerklärbar, warum ein Geisteskranker schuldlos handelt, obwohl auch er nur nach seiner gegebenen Wesensbeschaffenheit tätig wird. 4. Schuld als Zuschreibung nach generalpräventiven Bedürfnissen Jakobs AT 17/18 ff. hat einen funktionalen Schuldbegriff entwickelt, der Schuld als generalpräventive Zuschreibung versteht. Generalprävention meint dabei nicht Abschreckung, sondern Einübung in Rechtstreue. Die begangene Tat enttäuscht die Erwartungen der Rechtsgemeinschaft. Diese Enttäuschung wird kompensiert, indem nicht die Tat, sondern das enttäuschende Verhalten als Fehler gedeutet, d.h. als schuldhaft angesehen und bestraft wird. Erst beim Vorliegen einer anderen Möglichkeit der Verarbeitung des Konflikts kommt eine Exkulpation in Betracht. Θ Danach wird der Einzelne zum Werkzeug gesellschaftlicher Stabilisierungsinteressen, was im Hinblick auf Art. 1 I GG Bedenken erweckt. 17 KK 318

5. Schuld als unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit Schließlich ist Schuld nach Roxin AT I 19 Rn. 36 unrechtes Handeln trotz normativer Ansprechbarkeit. Die Schuld eines Täters ist zu bejahen, wenn er bei der Tat seiner geistigen und seelischen Verfassung nach für den Anruf der Norm disponiert war, wenn ihm Entscheidungsmöglichkeiten zu normorientiertem Verhalten psychisch zugänglich waren, wenn die psychische Steuerungsmöglichkeit im konkreten Fall vorhanden war. 6. Willensfreiheit? Neuere Erkenntnisse der Hirnforschung bestreiten die Möglichkeit des Andershandelnkönnens. Neurobiologische Versuche zeigten, dass dem bewussten Willensentschluss stets eine unbewusste neuronale Aktivität vorausginge (sog. Bereitschaftspotenzial). Demnach sei die Existenz einer Willensfreiheit des Menschen abzulehnen und damit die Grundlage des deutschen Schuldstrafrechts (nulla poena sine culpa) in Frage zu stellen (dazu Merkel Willensfreiheit und rechtliche Schuld [2008]; Hochhuth JZ 2005, 745; Überblick bei NK/Paeffgen Vor 32 ff. Rn. 227 ff.; zur Vertiefung: Duttge [Hrsg.] Das Ich und sein Gehirn [2009] http://webdoc.sub.gwdg.de/univerlag/2009/gsk7_duttge.pdf [05.12.2014]). 17 KK 319

7. Unternehmensstrafbarkeit? Aus dem Vorherigen ergibt sich bereits, dass nur natürliche Personen schuldhaft handeln können. Eine Strafbarkeit von juristischen Personen ist damit ausgeschlossen. Dennoch gibt es, angestoßen von europäischen Einflüssen und Entwicklungen in anderen Ländern, eine Diskussion, auch eine Unternehmensstrafbarkeit einzuführen (vgl. den Vorschlag der Landesregierung von NRW auf der Justizministerkonferenz am 14.11.2013: http://www.justiz.nrw.de/webportal/jm/justizpolitik/jumiko/ beschluesse/2013/herbstkonferenz13/zw3/top_ii_5_gesetzentwurf.pdf [05.12.2014]). Gerade in Unternehmen ist es häufig schwierig, einzelne Individuen für bestimmte Taten verantwortlich zu machen. Θ Die Verhängung einer Geldstrafe gegen das Unternehmen ist bereits nach heutigem Recht möglich ( 130 OWiG). Θ Strafe setzt nach strafrechtlichem Verständnis zwingend Schuld voraus. Schuldhaft können aber begriffslogisch nur natürliche Personen handeln (Schünemann GA 2013, 193, 200). V. Gegner des Schuldprinzips Teilweise (Baurmann Zweckrationalität und Strafrecht [1998] S. 294, 303) wird der Schuldbegriff als unbrauchbar angesehen und gänzlich abgelehnt. Bislang ist es indes aber noch nicht gelungen, eine Alternative zum Schuldprinzip zu finden, mit deren Hilfe die Voraussetzungen staatlicher Eingriffsbefugnisse in rechtsstaatlich besserer Weise festgelegt werden könnten. 17 KK 320

Schlagwörter zur Wiederholung I. Warum ist die Bezeichnung des Doppelirrtums genau genommen nicht korrekt? II. Bedarf es der Sondervoraussetzung der pflichtgemäßen Prüfung? III. Welche Bedeutung hat der Gesichtspunkt der präventiven Bestrafungsnotwendigkeit? IV. Welche Schwächen weist der psychologische Schuldbegriff auf? 17 KK 321